Kitabı oku: «ad Hans Kelsen. Rechtspositivist und Demokrat», sayfa 2

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2. Die Grundnorm

Kelsens doppelte Frontstellung gegen die Okkupation der Rechtswissenschaft durch die Kausalwissenschaften einerseits, die Subordination unter ein Naturrecht andererseits wirft die schwierige Frage nach dem verbleibenden Geltungsgrund für das Recht auf, wenn dieser weder in der puren Faktizität einer effektiven Zwangsordnung noch in der Legitimation durch überpositive Normen gefunden werden kann. Hier kommt die in mancherlei Bedeutungsvarianten schillernde Figur der Grundnorm38 ins Spiel, die als – von Kelsen teils als hypothetisch, teils als fiktiv gedeutete – Annahme gewissermaßen die Last der Normativitätsstiftung zu tragen hat. Nur durch ihre Zugrundelegung wird es möglich, eine effektive, faktisch wirksame staatliche Zwangsordnung als Rechtsordnung zu betrachten und das Recht als Deutungsschema für reale Vorgänge anzuwenden39. Da aber für den Wertrelativisten Kelsen40 die Verbindlichkeit von Rechtsnormen in einer weltanschaulich pluralen Welt nicht mehr objektiv und allgemeingültig begründet werden kann, bietet die Grundnorm zwar einen letzten, aber keinen festen Halt: denn ihre Annahme beruht auf einer keinesfalls zwingenden Entscheidung des Rechtsbetrachters. Man kann die jeweilige staatliche Rechtsordnung auch schlicht als bloß faktisch überlegenes Macht- und Gewaltaggregat, als große Räuberbande im Sinne des Augustinus ansehen.

3. Die Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung

Neben die normativitätsstiftende Funktion tritt die einheitsstiftende Funktion der Grundnorm, die als gleichsam höchster Abschlußpunkt (apex norm) des Stufenbaus der Rechtsordnung fungiert41. Die wesentlich auf Adolf Merkl zurückgehende Stufenbaulehre rückt das Phänomen der Selbsterzeugung (und Selbstvernichtung) des Rechts in einem interdependenten Normenkosmos als Abfolge stufenweise zunehmender Konkretisierung ins Bewußtsein42. Die Rechtsnormen stehen demgemäß in einem wechselseitigen Delegations- und Ableitungszusammenhang. Die Geltung einer Norm läßt sich nur aus der Geltung einer höheren Norm herleiten. Dabei reduziert die Reine Rechtslehre die Rechtsordnung nicht auf generelle Normen einschließlich des Gewohnheitsrechts, sondern begreift sie als Gesamtheit der auf den verschiedenen Rechtsebenen erzeugten Rechtsakte: von der Verfassung über Gesetze und Verordnungen bis hin zu richterlichen Urteilen, behördlichen Entscheidungen oder den zwischen Privatpersonen geschlossenen Verträgen (lex contractus)43. Ein einheitliches System formen die mannigfachen positivrechtlichen Normen allein dadurch, daß sie auf denselben letzten Geltungsgrund, die gedachte Grundnorm, verweisen.

Dieses theoretische Gesamtarrangement von disziplinärem Selbstand der Rechtswissenschaft, neukantianisch-wertrelativistischer Geltungsbegründung und Stufenbaulehre zeitigt durchaus konkrete Folgen für Kelsens Positionierung in Fragen der Interpretationslehre, der Verfassungsgerichtsbarkeit und des Staatsverständnisses.

III. Interpretationslehre und Verfassungsgerichtsbarkeit

Der Zusammenhang zwischen der Stufenbaulehre und der Interpretationstheorie Kelsens44 liegt auf der Hand. Denn wenn es jeweils höhere und niedrigere Stufen der Normerzeugung mit unterschiedlichem Konkretisierungsgrad gibt, dann ist unmittelbar evident, daß die höherrangigen Normen wie etwa die Bestimmungen der Verfassung über Inhalt, Form und Verfahren der Gesetzgebung die darunter liegende Normerzeugung, also die vom Parlament beschlossenen Gesetze selbst, nicht vollständig determinieren, sondern nur in gewisser formeller und materieller Weise vorstrukturieren, ihnen gleichsam einen Rahmen geben kann. Und was für das Verhältnis von Verfassung und Gesetz gilt, gilt Kelsen zufolge auch für die weiteren Stufen, etwa für die Verordnunggebung, die sich im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben halten muß, oder noch stärker für die Anwendung des Gesetzes auf einen Einzelfall. Abstrakter gesprochen:

„Das Verhältnis zwischen einer höheren und einer niederen Stufe der Rechtsordnung, wie zwischen Verfassung und Gesetz oder Gesetz und richterlichem Urteil, ist eine Relation der Bestimmung oder Bindung; die Norm höherer Stufe regelt […] den Akt, durch den die Norm tieferer Stufe erzeugt wird […] Diese Bestimmung ist aber niemals eine vollständige.

Die Norm höherer Stufe kann den Akt, durch den sie vollzogen wird, nicht nach allen Richtungen hin binden. Stets muß ein bald größerer, bald geringerer Spielraum freien Ermessens bleiben, so daß die Norm höherer Stufe im Verhältnis zu dem sie vollziehenden Akt der Normerzeugung oder Vollstreckung immer nur den Charakter eines durch diesen Akt auszufüllenden Rahmens hat.“45

Daraus ergibt sich zwingend, daß es bei der interpretatorischen Anwendung einer Norm eine einzige richtige Entscheidung nicht geben kann, woraus wiederum folgt, daß die nicht selten anzutreffende Einordnung Kelsens als Vertreter der Begriffsjurisprudenz vollständig in die Irre geht46. Er selbst hat sich aufgrund seiner ausgeprägten Skepsis gegenüber der disziplinierenden Kraft der gängigen Interpretationsmethoden eher der Freirechtsschule zugeordnet47. Jedenfalls ist für ihn klar, daß jeder Rechtsanwendungsvorgang auch und zugleich ein Rechtserzeugungsvorgang ist, in dem – in unterschiedlicher Mischung der Bestandteile – volitive und kognitive Elemente zusammentreffen. Interpretation ist somit teils Erkenntnis, teils Willensakt, Kognition und Dezision zugleich, was Adolf Merkl in das plastische Bild vom „doppelten Rechtsantlitz“ gekleidet hat48. Vorstellungen von Rechtsanwendung als einem mechanischen, sich sozusagen automatenhaft vollziehenden Vorgang sind ihm ebenso fremd wie der Mythos von der einen, einzigen richtigen Entscheidung. Von einem simplen Subsumtionsschluß oder von Interpretation als einem Akt reiner Logik kann bei ihm keine Rede sein. Ganz im Gegenteil öffnet Kelsen das Tor weit für das subjektive, von Werturteilen geprägte Ermessen des jeweiligen Rechtsanwenders, der eben immer zugleich auch Rechtsschöpfer ist49. Mit der Unterscheidung zwischen authentischer und rechtswissenschaftlicher Interpretation wird einerseits die geringe Bedeutung, die Kelsen der Wissenschaft für die konkrete Rechtspraxis beimißt, evident, andererseits der politische Charakter des Handelns der Rechtsanwender, zuvörderst der Richter, offengelegt, die sich nicht länger hinter der Vorstellung wertfreier, unpolitischer Normanwendung verschanzen können50.

Auch zwischen Stufenbaulehre und Kelsens Konzeption einer Verfassungsgerichtsbarkeit als einer Normprüfungsinstanz besteht ein evidenter Zusammenhang, den er bei seinem Wiener Staatsrechtslehrervortrag deutlich expliziert hat51. Wenn die Frage der Konformität eines Rechtsaktes oder einer Norm mit den Vorgaben einer ranghöheren Norm juristischer Überprüfung zugänglich ist und wenn es insbesondere der Idee des Rechtsstaates entspricht, gemäß dem tradierten Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung das Handeln der Verwaltung gerichtlich auf Übereinstimmung mit den förmlichen Gesetzen hin überprüfen zu können – dann gibt es keinen prinzipiellen Grund, die Gesetze ihrerseits als Normen einer höheren, aber wiederum unter der Verfassung stehenden Stufe von einer solchen, strukturell gleichen Prüfung auszunehmen. Die in der politischen Diskussion der Weimarer Zeit außerordentlich umstrittene gerichtliche Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von (Reichs-)Gesetzen52 erscheint auf einsichtige und geradezu elegante Art und Weise funktionell als gedanklich zwingende Komplettierung der (allgemein akzeptierten) Überprüfung von Verwaltungsakten auf ihre Übereinstimmung mit dem Gesetz. Neben die Verwaltungsgerichtsbarkeit tritt eine „Gesetzgebungsgerichtsbarkeit“53. Demgemäß hat Kelsen davon gesprochen, daß die österreichische Verfassung von 1920 von Anbeginn Garantien „nicht nur für die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, sondern auch für die Verfassungsmäßigkeit der Gesetzgebung“ enthalte54. Weil er aber um die Schwierigkeiten effektiver Hegung rechtsinterpretatorischer Gerichtsmacht wußte, drängte er sowohl auf die Konzentration entsprechender Gesetzesüberprüfungskompetenzen bei einem eigens dafür geschaffenen Gerichtshof (einschließlich eines eng umrissenen Kreises von Antragstellern) als auch auf unbedingte Vermeidung von generalklauselartigen Bestimmungen in der Verfassung selbst; präzise Kontrollmaßstäbe sollten eine Machtverschiebung vom demokratisch gewählten Parlament hin zur Judikative vermeiden55. Das in der Weimarer Republik von vielen propagierte (diffuse) allgemeine richterliche Prüfungsrecht56 erachtete er hingegen angesichts der bekannten sozialen Rekrutierung der meisten Richter und ihrer entsprechenden politischen Einstellung als „Selbstmord der Demokratie“57.

IV. Bundesstaat, Staatslehre, Völkerrecht

Die These vom Föderalismus als einer starken Wurzel der Staatsgerichtsbarkeit58 bestätigend, hatten die Beratungen zur österreichischen Bundesverfassung von 1920 ihren Ausgang bei der Frage nach den Kontrollmöglichkeiten für bundesstaatswidrige Landesgesetze genommen, um dann in einem zweiten bedeutsamen Schritt auch die Verfassungsmäßigkeit von Bundesgesetzen einzubeziehen, also die föderale Hierarchie um die Normenhierarchie zu ergänzen59. Kelsen zufolge vollendet sich mit der Verfassungsgerichtsbarkeit erst die politische Idee des Bundesstaates60. Diesen konzipiert er in Aufnahme älterer Traditionen in dreigliedriger Weise61. Neben den Gliedstaaten und dem Zentralstaat kennt er eine dritte Größe, den Gesamtstaat bzw. besser und genauer: die Gesamtverfassung. Sie übergreift Zentralstaat und Gliedstaaten und organisiert die Zuordnung der Kompetenzen auf Zentralstaat und Gliedstaaten sowie deren näheres Verhältnis zueinander. Dieser dritten (verfassungstheoretischen) Größe entspricht keine weitere staatliche Ebene; vielmehr fungiert der Bund das eine Mal als Zentralstaat, das andere Mal als Gesamtstaat bzw. als Gesamtverfassung. Obwohl in Deutschland noch immer die Zweigliedrigkeitslehre vorherrscht62, hat man Kelsens Lehre doch attestiert, die weder auf hierarchische Subordinationsverhältnisse noch auf reine Koordinationsbeziehungen reduzierbaren föderalen Strukturen differenziert(er) zuzuordnen und auch einschlägige positivrechtliche Bestimmungen des Grundgesetzes besser und gewissermaßen „zwanglos“ zu erklären63.

Ganz abgesehen von den Besonderheiten bundesstaatlicher Organisation zeitigen die Prämissen der Reinen Rechtslehre (neutrale Deskription des Gegenstandes, Werturteilsfreiheit, Methodenreinheit) Konsequenzen für den Staatsbegriff64. Jeder Staat hat demnach eine Rechtsordnung, sei diese auch ihrem Inhalt nach noch so verwerflich. Mehr noch: in diesem reduzierten und speziellen, entmaterialisierten Sinn ist jeder Staat ein Rechtsstaat65, sofern es sich nur um eine effektive Zwangsordnung menschlichen Verhaltens handelt. Aus dem Postulat der gegenstandskonstitutiven Kraft der jeweiligen wissenschaftlichen Methode folgt sodann die Ablehnung der Zwei-Seiten-Theorie des Staates, wie sie insbesondere von Georg Jellinek verfochten wurde66. Demgemäß ließ sich der Staat von der einen Seite her als soziales und politisches, von der anderen Seite her als rechtliches und rechtswissenschaftliches Phänomen betrachten. Kelsen leugnet diesen Dualismus schon aus methodologischen Gründen, weil jener eine irgendwie vorgegebene Entität „Staat“ voraussetzt, der dann zum Objekt unterschiedlicher wissenschaftlicher Zugriffe wird. Für Kelsen gibt es aber keinen Staat an sich: weder als factum brutum noch als Realisation einer metaphysischen Idee. Das vor der Konstitution durch die jeweilige Wissenschaftsdisziplin vorhandene Substrat könnte man ja nur als diffuses Norm-Faktum-Konglomerat umschreiben, als disziplinär ungefüges „Staat-Recht-Dinges“67. Für Kelsen steht der Staat weder vor noch hinter und schon gar nicht über der Rechtsordnung, für ihn ist der Staat die Rechtsordnung; Staat und Recht sind identisch. Daher gibt es für den juristischen Zugriff keine legitime staatliche Gewalt über die rechtlich begründete und begründbare hinaus68.

Das Völkerrecht hat seit jeher Kelsens besondere Aufmerksamkeit gefunden. Die Wendung von der ‚reinen Rechtslehre‘ begegnet nicht zufällig im Untertitel seiner Monographie von 1920 über Souveränität und Völkerrecht69. Konstruktiv traktiert Kelsen vor allem das Problem einer Einheit von Völkerrecht und einzelstaatlichem Recht, wobei er gegen einen Dualismus beider Rechtsordnungen vor allem den Gedanken der erkenntnismäßigen Einheit allen Rechts bemüht und so den Monismus für „denklogisch“ zwingend hält70. Konzipierbar sei dieser Monismus entweder als geltungstheoretisches Primat der staatlichen Rechtsordnung (Souveränitätsdogma) oder der Völkerrechtsordnung (Dogma der einheitlichen Gesamtrechtsordnung): sog. monistische „Wahlhypothese“71. Die Wahl selbst erscheint letztlich als Frage der Weltanschauung72. Kelsens Beiträge zum Völkerrecht reichen indes über theoretische Grundkonzeptionen weit hinaus und umfassen auch zahlreiche bzw. zahllose Beiträge zu dogmatischen Fragen des Völkerrechts73 bis hin zur Kommentierung der UN-Charta von 1945, bei der er seinen methodologischen Prämissen zu entsprechen sucht74. Es dürfte gerade die Verbindung eines hohen Abstraktionsniveaus mit der Mannigfaltigkeit der erörterten Themen und Fragestellungen sein, die zur Anschlußfähigkeit und der verstärkten Rezeption des Völkerrechtlers Kelsen in jüngerer Zeit maßgeblich beigetragen haben75. Auch für die schwierig zu deutende Gesamtkonstruktion der Europäischen Union und ihr Verhältnis zu den Mitgliedstaaten hat man die Souveränitätskonzeption Kelsens mit ihrer Offenheit gegenüber fluiden Gestaltungs- und Verteilungsmöglichkeiten hoheitlicher Kompetenzen auf verschiedene Ebenen und Träger in durchaus fruchtbarer Weise herangezogen76, zumal Kelsen selbst die Schaffung einer internationalen Organisation, die ihren Mitgliedern den Staatscharakter entzieht, für durchaus möglich gehalten hat77.

V. Demokratietheorie

Kelsen war nicht allein Rechtstheoretiker und Verfasser ungezählter rechtsdogmatischer Schriften, Kommentare durchaus eingeschlossen, sondern – neben seiner praktischen Tätigkeit in der Volksbildung78 – auch der Autor einer „der großen Demokratiebegründungsschriften überhaupt“79. Seinen zentralen Beitrag über „Wesen und Wert der Demokratie“80 verfaßte er in den unruhigen Jahren der Weimarer Republik, in denen nicht zuletzt auch unter vielen Staatsrechtslehrern Parlamentarismus-, Pluralismus- und Parteienkritik dominierten. Kelsen hingegen spricht ausdrücklich davon, daß der Parlamentarismus die „einzige reale Form“ sei, „in der die Idee der Demokratie innerhalb der sozialen Wirklichkeit von heute erfüllt werden kann“; daß diese Demokratie „notwendig und unvermeidlich ein Parteienstaat“ sein müsse; daß sie in der Moderne auf der Basis eines vielfältigen gesellschaftlichen Pluralismus mit entsprechend divergenten Auffassungen und Interessen denkbar sei, deren Ausgleich im Wege der „Erzielung eines Kompromisses“ im dafür prädestinierten parlamentarischen Verfahren erfolgen müsse81.

Seinen argumentativen Ausgangspunkt nimmt Kelsens Demokratieverständnis nicht beim Kollektivsubjekt Volk, sondern bei der Idee der Freiheit des Einzelnen, bei dessen Autonomie und Selbstgesetzgebung. Sie bildet den entscheidenden Fixpunkt. Freilich unterliegt dieser aufgrund der Komplizierung sozialer Verhältnisse, der Vorteile arbeitsteiliger Organisation und der Notwendigkeit gesamtgesellschaftlicher Einheitsbildung einer ganzen Reihe gravierender Metamorphosen, die das utopische und im Grunde a-staatliche Ideal absoluter individueller Autonomie in die realistische Form der Mehrheitsherrschaft gewählter parlamentarischer Repräsentanten transformiert. Die anarchische Freiheit von jeglicher Ordnung wandelt sich zur stets beschränkten Freiheit im Staat, in dem gewählte Repräsentanten mit Mehrheit die für alle geltenden Gesetze beschließen. Diese können nicht für sich reklamieren, Ausdruck einer höheren Vernunft mit objektivem Geltungsanspruch zu sein, sondern stellen lediglich die temporär gültige, prinzipiell revisible Fixierung einer Position dar, die den Willen der jeweiligen Mehrheit verkörpert. Demokratie wird auf diese Weise verstanden als eine politische Koexistenzordnung auf der Basis eines akzeptierten Pluralismus der Meinungen, Glaubensrichtungen und Interessen, von denen keine für sich reklamieren kann, die objektive Wahrheit zu verkörpern. Insoweit hat Kelsen davon gesprochen, daß der Relativismus diejenige Weltanschauung sei, die die Demokratie voraussetzt82.

VI. Politikwissenschaft, Soziologie, politische Philosophie

Das Gesamtwerk Hans Kelsens umfaßt zahlreiche Schriften, die über den engeren Bereich der Rechtswissenschaft im allgemeinen, des Staatsund Völkerrechts einschließlich der Demokratietheorie im besonderen weit hinausreichen, ohne aber doch jeden Bezug zu ihnen zu verlieren. Genannt seien hier seine politologischen Studien zum Marxismus und zur kommunistischen Rechtstheorie, deren rein ideologische Funktion und gedankliche Unhaltbarkeit er schonungslos offenlegt83. Auch die kürzlich erschienene Monographie über „Secular Religion“ gehört in diesen Zusammenhang84. Denn so wie er an der kommunistischen Rechtstheorie den Verlust der Eigenständigkeit des Normativen kritisiert und bekämpft, so fürchtet er, daß die Konzepte säkularer Religionen die aufklärerischen Errungenschaften der Freiheit der Wissenschaft und der Trennung von Politik und Religion gefährden könnten.

Genannt sei ferner seine große Studie über „Vergeltung und Kausalität“85, in der er im Rückgang auf die Vorstellungswelten archaischer („primitiver“) Gesellschaften und unter Rückgriff auf Erkenntnisse der Ethnologie demonstriert, wie sich die für das moderne Denken selbstverständliche und für unser Verständnis von Recht und Rechtswissenschaft konstitutive Differenz von Natur und Gesellschaft, Sein und Sollen, Kausalgesetzlichkeit und Normgesetzlichkeit erst allmählich herausgebildet hat – und zwar dadurch, daß die ursprünglich soziomorphe Deutung von Natur und Gesellschaft gemäß dem Vergeltungsgedanken im Laufe der Entwicklung gewissermaßen auf die normative Sphäre eingeschränkt und dem Naturgeschehen der Erklärungsmodus der Kausalität zugeordnet wird.

Großen Raum nimmt in seinem Werk seit jeher die durchweg kritische Beschäftigung mit dem Naturrecht ein86. An Ausführlichkeit unübertroffen ist insofern die intensive Beschäftigung mit der griechischen Philosophie, allen voran mit Platon, wie die postume Publikation eines langen Manuskriptes zeigt87.

VII. Rezeption

Was internationale Ausstrahlung und Einfluß auf die Rechtswissenschaft in verschiedenen Ländern anbetrifft, so dürfte kaum ein Jurist des 20. Jahrhunderts Kelsen gleichstehen. In drei Sammelbänden ist dieses vielfältige Wirken dokumentiert88. In Österreich genoß seine neue Lehre zwar keineswegs ungeteilte Zustimmung, wurde jedoch als bedeutsame Leistung gewürdigt und führte dazu, daß sich schon bald eine Gruppe von Schülern und Mitstreitern (unter ihnen Adolf Merkl und Alfred Verdroß) um ihn scharte89 und das „label“ der Wiener Rechtstheoretischen Schule mit Kelsen als unumstrittenem Haupt entstand. Anders sah das in Deutschland aus. Dort stieß er schon in den 1920er Jahren, insbesondere im Kontext des sog. Methodenstreites, nicht nur auf Unverständnis (wie etwa bei staatsrechtlichen Positivisten wie Anschütz und Thoma), sondern auch (so etwa bei Smend, Schmitt und Heller und vor allem den konservativen Vertretern der Zunft) auf vehemente und bei weitem nicht immer nur rein wissenschaftlich motivierte Ablehnung90. Doch immerhin blieb er hier noch ein letztlich geachteter, wenn auch scharf attackierter Gegner mit katalytischer Funktion91. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde daraus der jüdische, zudem der Sozialdemokratie nahestehende Feind, der vertrieben und – nicht zuletzt von Carl Schmitt – nach Kräften geschmäht wurde. Nach 1945 bestand die – wohl auch auf unterschwellige antisemitische Reflexe gegründete – Rezeptionsunwilligkeit gegenüber dem Positivisten, Ideologiekritiker, Demokraten, Pluralisten und Emigranten fort92. Ignoranz und Abschottung bildeten die vorherrschende Form des Umgangs mit Kelsens Lehre. Die Positivismuslegende93, letztlich eine erfolgreiche Desinformationskampagne, machte aus Opfern Täter und hielt dem 1933 vertriebenen Demokraten vor, mit seinem Denken zum Sieg des Nationalsozialismus beigetragen zu haben. Bestenfalls galt die Reine Rechtslehre als skurril oder absurd, als sinnlose Logelei, wenn nicht als irgendwie anarchisch oder – genau umgekehrt – als eine Form der Staatsapotheose94. Sich hierzulande zu Kelsen zu bekennen, „löste noch am Ende der sechziger Jahre deutliches Befremden aus und stellte ein akademisches Risiko dar“95. Ein Umschwung trat in den 1980er und 1990er Jahren ein96. Seitdem läßt sich ein Prozeß zunehmender Versachlichung und Normalisierung im Umgang mit seinem Lebenswerk beobachten97, wovon nicht zuletzt die in den Fußnoten dieses Textes genannten Titel Zeugnis ablegen. Es ist ein Zeichen dieser Normalisierung, daß die Meinungen über die Zukunftsfähigkeit und aktuelle wissenschaftliche Anschlußfähigkeit von Kelsens Werk auseinandergehen98.

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