Kitabı oku: «Dann mal ab nach Paris»
Meiner geduldigen Frau Hannelore,
die mich kritisch bei diesem Projekt begleitete.
Hubert Becker, 1949 in Mannheim geboren, vier Jahre Volksschule in Mannheim-Sandhofen, vier Jahre Gymnasium in Mannheim, Ausbildung zum Industriekaufmann. 37 Jahre bei der Stadt Mannheim tätig. Seit 33 Jahren Vorsitzender des Gesangvereins Sängerbund-Sängerlust in Sandhofen, seit 30 Jahren Bezirksbeirat für die SPD in Sandhofen. Verheiratet, drei Kinder, fünf Enkelkinder. Fünf Romane: „Jahre wie Sand“ (1990), „Damals war erst gestern“ (1994), „Nur eine kurze Zeit“ (1996), „Die Wunden heilt die Zeit“ (1999), „Alles Paletti im Dorf“ (2009).
Hubert Becker
Dann mal
ab nach Paris
Roman
Lindemanns
Zuschauen macht Freude
Ich liebe diese Idylle in Sandhofen. Ich schaue auf die Gartenwunderwelt vor dem Fenster. Alles grünt und blüht vor meinen Augen. Frühlingslieder fallen mir dabei ein, anständige und unanständige (Sex im Grünen mit Brennnesseln oder so, Text habe ich gerade nicht präsent). Obergeil dieser Ausblick, würde unser Sohn jetzt sagen.
Ich hab gerade einen Gips, aus eigener Blödheit. Eine Schmeißmücke an der Decke wollte ich erschlagen und hab dabei die Leiter umgestoßen. Ich hör noch heute dieses Mistvieh lachen. Oder war’s meine Frau, die das alles vorausgesehen hatte?
Jedenfalls ist das hier ein Logenplatz und ein Mord ist wohl auch nicht zu erwarten. Klar, dass es Menschen in meiner Umgebung gibt, die ich liebend gerne umgebracht hätte: Da ist dieser schmierige Endfünfziger, der meiner Hildegard immer lüsterne Blicke zuwirft und sich dabei mit der Zunge über die Lippen fährt.Der kämmt seine gegelten letzten Haare von einem Ohr zum anderen und hat dabei einen grandiosen Mundgeruch – das hat mir jedenfalls meine Frau erzählt. Halt! Woher weiß sie das eigentlich? Egal, meine Hildegard ist treu, das weiß ich. Aber warum muss sie eigentlich immer ihre allerkürzesten Röcke anziehen, wenn sie in unseren Garten geht, wo dieser geifernde Lüstling sie beobachten kann? Dass ich der knackigen Dunkelhaarigen (muss nicht immer eine Blonde sein) interessiert zusehe, wie sie am Fenster ihre Frühgymnastik macht, im Bikini, das wird doch als Mann wohl noch erlaubt sein, oder?
„Aber du geierst, Mannilein!“, zischt mir meine Liebste zu und verdreht die Augen dabei. „Ich hab übrigens einen viel knapperen Bikini als die, falls du das noch nicht bemerkt hast!“
Stimmt schon, den Bikini kann sie sich immer noch leisten. Dabei lächelt sie kokett und fährt sich dabei mit der Zunge über die Lippen. Verdammt, genau wie dieser Schmierlappen! Hat sie sich das bei dem abgeguckt?
Wenn jetzt nicht dieser verdammte Gips wäre, hätte ich mich wie ein hungriger Wolf auf sie gestürzt. Sie muss mir das angesehen haben und grinst ihr teuflichstes Grinsen! Dann zieht sie sich mit aufreizendem Hinterngewackel ins Wohnzimmer zurück.
„Ja, geh doch zu deiner Tina, Bild der Frau oder was du sonst noch liest!“, ruf ich ihr hinterher, jedenfalls in Gedanken. Wer bin ich denn, dass ich mich über sowas aufrege?
Hier läuft der Film in den Gärten gegenüber!
Da versucht gerade dieser verrückte Schwabe im rechten Hinterhaus seine Regenrinne zu säubern. Zu diesem Zweck hat er sich ein Gerüst aus Europaletten und mehreren übereinander gestapelten Bierkisten gebaut. Ist wohl zu geizig, sich eine Leiter zu kaufen! Der redet übrigens nicht mehr mit mir, seitdem ich ihm die Geschichte des Schwaben, der wegen Geizes aus Schottland ausgewiesen wurde, erzählt habe. Jetzt macht er sich an der Regenrinne zu schaffen ... Oh, der Bierkistenstapel beginnt zu wackeln, sieht nicht gut aus. Ein gedämpfter Schwabenschrei und der Stapel kippt um. Er hält sich mit einer Hand an der Regenrinne fest, die andere schüttelt er hektisch und hysterisch fluchend durch die Luft; mit der hat er in einen Haufen Taubenkacke gegriffen. Aber das ist wohl sein geringstes Problem, etwa acht Meter in der Luft hängend, sieht nach größeren Problemen aus. Jetzt gibt die Regenrinne ächzend nach und reißt auf einer Seite aus der Verbindung. Sie senkt sich langsam ab. Der Schwabe umkrallt sie mit beiden Händen, sechs Meter, fünf Meter, vier; bei drei Metern kann er sich nicht mehr halten und fällt in seine Rosenhecke. Gut abgefedert, aber schmerzhaft mit Dornen im Arsch! Reife Leistung, ich klatsche begeistert Beifall und ernte böse Blicke mit drohend erhobener Faust.
Mir fällt dabei der Witz von dem Dachdecker ein, der vom Dach fiel und dabei großes Glück hatte. Warum? Weil er mit dem rechten Auge an einem Nagel hängen blieb! Ein Witz, der immer nur Augenverdrehen und genervte Kommentare erntet.
Ringsum stehen fünf Häuser mit jeweils großem Garten davor. Die links von mir, ein älteres Ehepaar, versuchen seit Jahren Himbeeren anzupflanzen, herausgekommen ist nur eine üppig wuchernde Brombeerhecke. Die Enkelkinder stehen davor und weinen jedes Mal wie die Schlosshunde; sie wollen doch Himbeeren. Naja, wenn sich diese Blagen was in den Kopf gesetzt haben!
Alles sehr amüsant, wenn nicht diese verfluchten Stechmücken um mich herumschwirren würden. Ich greife nach der Fliegenklatsche, die immer zu meinen Füßen liegt, und hole zum entscheidenden Schlag gegen die Plagegeister aus.
„Halt!“, schreit es von der Terrasse der kackbraun geklinkerten Hütte rechts neben uns, „auch Schnaken sind Lebewesen und die tötet man nicht!“
Aha, der Buddhist, Brama ... dingsbums nennt er sich, heißt aber Jürgen Rammelmeier, ein Name, der zu ihm passt. Versammelt er doch stets eine Reihe ständig verzückt „om!“-murmelnder Damen jeglichen Alters um sich. Ein Klischee, ich weiß, aber es ist nun mal so, die treiben es sogar manchmal auf der Wiese des Gurus. Ich kann dann gar nicht schnell genug weggucken.
Meine Hildegard bemerkt das alles nicht (sagt sie), aber jedes Mal wenn dieser Film dort läuft, geht sie mir an die Wäsche und immer, wenn ich meine blauen Pillen gerade nicht griffbereit habe.Gut, meine Frau sieht trotz ihrer neunundfünfzig Jahre immer noch knackig aus und ihr Hintern verleitet mich zum Träumen.Tja, der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach! Kluger Kopf, der diesen Spruch geprägt hat, der muss mich gekannt haben. Und der Eiffelturm steht auch immer noch! Blödsinn, wie komm ich da drauf?
Das ältere Ehepaar hat schon längere Zeit einen Kleinkrieg laufen mit dem Guru. „Sodom und Gomorra“ spiele sich da drüben ab. Die Polizei müsse einschreiten, „Erregung öffentlichen Ärgernisses“ sei das.
„Da können wir nichts machen, das ist nur Yoga“, hatte ihnen ein junger Polizist erklärt, der dem Treiben einige Zeit, zusammen mit seinem Kollegen, interessiert zugesehen hatte.
„Das spielt sich auf deren eigenem Grundstück ab, ist also nicht öffentlich.“
Zugegeben, eine etwas merkwürdige Rechtsauffassung, aber müssen die alten Knacker einem auch den Spaß verderben wollen. Die wählen bestimmt AfD oder was in dieser Richtung. Ich hab das wohl etwas laut geäußert, denn sofort steht meine Hildegard auf der Matte: „Alte Knacker? Sprichst du von dir selber?“
Sofort regt sich mein Misstrauen wieder. Der Lüstling da drüben ist wohl kein alter Knacker? Dabei ist er doch nur ein gegelter, eingebildeter, notgeiler, mit Spatzenhirn versehener Angeber.
Rechts hinten versucht gerade ein Mitglied der „Familie Flodder“, wie wir sie insgeheim nennen, eine Bierflasche mit einem Zug zu leeren, was dem nie die geringsten Schwierigkeit bereitet, Übung macht schließlich den Meister. Danach wirft er die Flasche mit Schwung in die Restmülltonne.
Jetzt aber. Erst ruf ich begeistert: „Bravo, getroffen!“
Und abermals ertönt ein schrilles „Halt!“, diesmal vom Balkon der alten Knacker. „Noch nie was von Mülltrennung gehört, hä?“
„Leck mich am Arsch!“, tönt es zurück und es folgt ein gestreckter Mittelfinger.
Die schöne Nachbarin
Frühgymnastik ist wieder angesagt bei der Dunkelhaarigen, Frühgymnastik, jetzt um halb eins? Sie nestelt an ihrem Bikinioberteil herum. Die wird doch nicht? Mein Puls erhöht sich und meine Augen werden größer.
Naja, denk ich mir zumindest, ich kann mir ja nicht selbst in die Augen sehn. Aber irgendwo in meinem Hinterkopf leuchtet ein Lichtlein auf: Ich kenn die doch irgendwo her! Klar, jetzt fällt mir’s wie Schuppen aus den Haaren. Oder heißt’s von den Augen? Was weiß ich! Das ist doch die von der Kasse beim REWE! Ich erinnere mich.
„Haben Sie eine Payback-Karte?“
„Nö, hab ich nicht, die wollen mich doch bloß ausspionieren, da krieg ich dann Werbung für jeden Scheiß. Wenn ich Kondome gekauft habe, wirbt eine Apotheke für Viagra, Beate Uhse meldet sich mit Sexspielzeug oder was weiß ich!“
Aber was ich noch weiß, ist, dass ich mich tierisch aufgeregt hatte wegen dieser Frage nach der Payback-Karte. Ich weiß auch noch, wie konsterniert die mich angeguckt hatte. Mensch, die kann doch gar nichts dafür, die arme Sau!
Dann die beleidigte Frage: „Treuepunkte?“
„Nein, ich bin nur meiner Frau treu!“, gab ich dann etwas klein-laut zurück. Was ich auch noch weiß, ist, dass ich’s bei der jetzt bestimmt verschissen hatte.
So, und jetzt ist die meine Nachbarin und turnt halbnackt vor mir herum. Blumen, zur Wiedergutmachung? Denk ich insgeheim, als ich abgelenkt werde durch den Schwaben, der erneut einen Versuch startet, an die Regenrinne zu kommen. Aber die muss er ja zuerst reparieren. Dieses Mal nimmt er eine alte Holzleiter, die mir ziemlich bekannt vorkommt ... Klar, das ist ja meine, die ich seit Wochen vermisse. Die lehnte an meinem Zaun, der bis heute unzählige Löcher aufweist. Einfach geklaut, dieser Sauschwab! Da ich meine alte Leiter kenne, kann es vermutlich nicht lange dauern, bis ... na bitte: oberste Sprosse gebrochen und wieder landet der diebische Geizkragen in seiner Rosenhecke.
„Geschieht dir recht, du Kleptomane!“, ruf ich ihm aufgekratzt zu.
Meine Hildegard steht wieder mal auf der Matte, hinter mir. Mein Nacken ist steif und ich hab Angst, mich umzudrehen: „Was hast du denn mit dem, Mannilein?“
Mannilein, Mannilein! Ich heiße Manfred und kann diese Ver-niedlichung meines Namens nicht leiden. Ich bin sechzig und ein gestandener Mann im Vollbesitz seiner Hormone, also meistens, und wenn sie „Mannilein“ ruft, ist was im Busch.
Sei’s drum. Gut, dass ich nach ihrem Hinterngewackel von vorhin in weiser Voraussicht mal eine blaue Pille eingeworfen habe.
„Auf in den Kampf, Torero!“, sag ich halblaut. Ich bin zwar nicht Georges Bizet und sie ist nicht Carmen, aber ich halte das eben jetzt für angebracht.
„Das hab ich gehört!“, ruft sie aufgekratzt und wackelt wieder vor mir her. Sie hat den Bikini an, der tatsächlich kleiner ist als der der nachbarlichen REWE-Kassiererin.
Jetzt ist nicht nur mein Nacken steif. Ich danke Pharma-Pfizer innerlich auf Knien, in freudiger Erwartung dessen, was jetzt zwangsläufig kommen muss. Halleluja, aber bitte nicht das Licht ausmachen!
Aber, wie heißt es mit Wilhelm Busch: „Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt!“; denn jetzt fängt mein Fuß unter dem Scheißgips an zu jucken, als hätte irgendein bösartiger Zwerg mir eine Tüte Juckpulver reingeschüttet. Eine Stricknadel, ein Königreich für eine Stricknadel!
„Hildegard!“, ruf ich in meiner Verzweiflung. Aber die ist schon längst im Schlafzimmer verschwunden und harrt wohl der Dinge, die da kommen sollen. Aber zuerst kommt mein Verlangen, diese elende Juckerei zu unterbinden. Ich hinke ins Wohnzimmer und da liegt sie schon, das Ziel meiner Wünsche, die Stricknadel! Pech nur, dass diese eingebunden ist in einen angefangenen Topflappen. Topflappen, Topflappen!
Diese Frau hat einen Topflappenspleen, was anderes zu stricken überfordert sie wohl. In jeder Schublade schlummern gefühlt zehntausende dieser gestrickten Fetische. Jetzt ist ein neuer in Arbeit, aber darauf kann ich jetzt keine Rücksicht nehmen. Das ist ein Notfall, was denn sonst?
Ich zieh das Ding raus und der angefangene Lappen fällt in sich zusammen. Steinigen wird sie mich wegen dieser Lappalie.
Lappalie, wie treffend! Dieses abwertende Wort leitet sich ganz sicher von Lappen ab. Topflappen. Gott schütze sie, diese Brand-wundenverhinderer, die auch schon mal in Flammen aufgehen, wenn man zum Beispiel dem Grillgut zu nahe kommt, wenn man zu blöd ist, Arbeitshandschuhe zu tragen. Selbst erlebt und dabei dem spöttischen Grinsen meiner Grillpartyfreunde ausgesetzt ge-wesen.
Alles vergessen und die Stricknadel in den Gips geschoben, dorthin, wo’s juckt. Ah, welch eine Wohltat!
Ein Schnarchen aus dem Schlafzimmer verkündet, dass die Liebste, ganz sicher hochgradig frustiert, eingeschlafen ist. Ich bin zutiefst beschämt, hinke zu ihr ans Bett und lege mich neben sie.
Ich bin fast eingeschlummert, als sie plötzlich hochfährt: „Pass doch auf, du Depp, mit deinem Scheiß-Gips!“
Ich Depp! Von Zweifeln zerfressen, denke ich über mein Seelenleben nach, über das, was sich in meinen Gehirnwindungen abspielt und darüber, was das Leben aus mir gemacht hat.
Alte Zeiten – Streiche und Gerd
Ich bin 14 und hänge in diesem zarten Alter mit meinen Kumpels im Karl-Schweitzer-Park rum, dummes Zeug im Kopf, aus Langeweile. Es ist bereits zweiundzwanzig Uhr, es ist dunkel und ich sollte zuhause sein. Aber ich habe Eltern, die mir fast alles durchgehen lassen. Ich bin verwöhnt und Grenzen sind für mich da, sie zu ignorieren.
„Was ist Leute?“, rufe ich meinen Freunden Erwin, Ernst und Gerd zu. „In der Broadway-Bar ist wieder großer Amitreff und ’ne Masse dieser Straßenkreuzer parkt die Hanfstraße zu.“
Die Jungs wissen, was ich will. Die Wände in meinem Zimmer schmücken Plaketten, die ich von Autos abgebrochen habe. Benzsterne, Embleme von Alfa Romeo und Opel, die Weltkugel eines Taunus 12 M und die Radkappe eines NSU. Meine Eltern schließen Augen und Ohren und ignorieren einfach, was ich treibe. Klar, ich bin ja der Einzige und ein Junge in diesen Zeiten ist das einzig Senkrechte, Mädchen sind immer zweite Wahl.
Es sind die sechziger Jahre, die prüden Fünfziger grade rum und ich weiß – Triumph! – ich bleibe der Einzige, meine Mutter kann nämlich keine Kinder mehr bekommen. Was will ich mehr, ich bin der King im Hause und habe als Einziger unter meinen Kumpels ein eigenes Zimmer.
Gerd, den wir immer nur den Lulatsch nannten, war trotz seines Spitznamens klein und schmächtig und dabei fürchterlich dünn. Und wir wussten auch warum. Er hatte Leukämie und durfte sich eigentlich nicht anstrengen. Es gab in dieser Zeit nicht allzu viel, was man dagegen tun konnte. Er war unser allerbester Kumpel und wenn wir uns trafen, wurden nicht nur die Hände geschüttelt, wir umarmten und drückten ihn, was er nicht immer so dulden wollte. Er wusste sehr wohl, was ihm bevorstand und worauf seine Krankheit hinauslief, nämlich, dass er sterben würde. Aber Gerd hatte einen unbändigen Lebenswillen und er wollte bei allem dabei sein, was wir taten. Er war beleidigt, wenn er merkte, dass wir ihn schonen wollten.
Nächtliche Mutproben, die uns quer durch ein Straßenquadrat über Mauern, Gärten und Garagendächer führten, waren unsere Spezialität. Es musste geklettert werden, durch Beete gekrochen und mit eingezogenem Kopf durch Hinterhöfe geschlichen werden; immer schwebte die Angst entdeckt zu werden wie ein Damoklesschwert über uns. Und Gerd war immer mittendrin und danach stets völlig außer Atem. Mehr als einmal waren wir ver-zweifelt, dass er jetzt und gerade sterben würde.
Mehr als einmal mussten wir uns Strafpredigten seiner Eltern anhören, wenn wir ihn wieder mal leichenblass und nach Luft röchelnd nach Hause brachten. Sie kannten zwar ihren Sohn und dass er einfach immer und überall dabei sein wollte. Sie wollten uns deshalb keine Vorwürfe machen, machten es dann aber doch. Wir waren eine verschworene Gemeinschaft, gesucht und gefunden, weil wir unsere Freiheit auskosten durften und der Einbruch der Nacht kein Hindernis war. Gerd war dabei und wer bemerkte schon die vom Weinen rot umrandeten Augen, wer hörte zuhause das nächtliche Schluchzen und spürte die Angst, die ihn innerlich zerfraß?
Ein Erlebnis mit ihm hatte mich zutiefst erschüttert: Ein Gartenbesitzer, durch dessen Beete wir mehr als einmal nachts getrampelt waren, hatte Schilder aufgestellt: Achtung, Fußangeln und Selbstschüsse!
Wir vermuteten, dass dies lediglich zur Abschreckung dienen sollte. Aber für Gerd war das eine Tatsache. Er wollte über den Zaun steigen und wir konnten ihn nur mit Mühe davon abhalten. Sein Kommentar war nur: „Was solls? Wenn’s mich trifft, ist es endlich vorbei!“
Da war sie nun, die bisher mühsam verborgene Verzweiflung und Angst vor einem qualvollen Tod.
Gerd war gerade fünfzehn geworden, als wir im Krankenhaus an seinem Bett standen, zusammen mit seinen Eltern. Seine Mutter hielt seine Hand und der Vater strich ihm immer wieder zitternd über die schweißverklebten Haare. Wir drei harten Jungs konnten unsere Tränen nicht mehr zurückhalten, als Gerd ganz leise mit brüchiger Stimme flüsterte: „Lasst nur Jungs, ich bin froh!“
Dann war es vorbei und ich öffnete das Fenster, weil ich damals noch fest daran glaubte, dass die Seele nach dem Tod zum Himmel flöge.
Hildegard und die Nachbarn
Mein Scheiß-Gips, Hildegard hat ja recht. Ein blaues Auge habe ich ihr mit diesem harten Trumm schon im Schlaf verpasst und Sex wird damit zur Lachnummer, weil das Teil immer irgendwie im Weg ist, egal in welcher Stellung. Das Kamasutra sieht hierfür auch nichts vor. Ich bin frustriert und leide am Entzug.
Sündige Gedanken, die um die dunkelhaarige Gymnastikerin am gegenüberliegenden Fenster kreisen, verbieten sich aus den vorgenannten Gründen von selbst, ich will mich ja nicht blamieren! Herrgottnochmal, wann werde ich diesen Spielverderber endlich wieder los?
Es ist soweit: Sechs Wochen sind um und der Spielverderber-Gips ist ab. Damit rückt die Nachbarin wieder in den Fokus. Die hat einen Hund, mit dem sie jeden Morgen um sieben Gassi geht. Dass ich mir extra deswegen auch einen Hund zulege, wäre zwar überlegenswert, aber das scheitert wohl an Hildegard, die eine panische Angst vor Hunden hat.
Es war zwar nur ein Rehpinscher, der ihr vor Jahren einmal in den linken großen Zeh gebissen hatte; sie war im Sommer meistens barfuß unterwegs, was somit nicht nur schmerzhaft war. Hinzu kam, dass sie dann mit dem rechten Fuß vor Schreck in die Kacke trat, die dieser Hundezwerg gerade abgelassen hatte. Barfuß laufen war seither passé und Hunde hatten es dann sowieso bei ihr buchstäblich verschissen! Ist also nix mit Hund besorgen!
Wie soll ich dann sonst mit der in Kontakt treten?
Nordic-Walking – das isses. Die Stöcke stehen noch im Keller seit Hildegards sportlicher Phase. Ich find’s zwar peinlich, weil mir dazu stets ein alter Spruch eines Kabarettisten einfällt: Eine viertel Stunde Lachen ist gesünder als eine Stunde Nordic-Walking und sieht nur halb so Scheiße aus.
Die Türklingel ertönt mit ihrem blödsinnigen Gezwitscher, das vermutlich einem Kanarienvogel nachempfunden sein soll, ge- hört endlich mal abgeschafft, dieses Mistding. Mir schwebt eine Mischung aus Elefantentrompete und schwanzgetretener Katze vor. Soll man angeblich alles im Internet bestellen können.
„Ich geh!“, ruf ich laut. Warum eigentlich? Hildegard ist doch gar nicht da, beim NKD gibt’s wieder billige BHs für 3,99!
Stets vorzuhalten, unter welchen Umständen die Dinger in Bangladesch oder sonstwo hergestellt werden, wird immer mit spöttischem Lächeln quittiert: „Deine halbe Garderobe ist doch von denen, beste Qualität, hast du immer gesagt, weil ich dir weisgemacht habe, das alles stamme vom Engelhorn!“
Engelhorn! Das Hochpreis-Kleidungshaus in der Mannheimer City! Ich hab’s immer geglaubt, ich Depp! Seit wann gibt es Engelhorn-Unterhosen, bei denen einem nach einmal Tragen das Gemächte zur Seite rausbaumelt, weil ausgeleiert? (Der Slip!)
Ich hätte es wissen müssen, nachdem sie sich vehement gewehrt hatte, die Dinger umzutauschen. „Unterwäsche wird nicht umgetauscht!“ Da hatte sie auch wieder recht.