Kitabı oku: «Der Frauenmörder», sayfa 4
»Überführt!«
Es war elf Uhr vormittags, als sich Krause unweit des Bahnhofes Friedrichstraße in eine Kaffeehausecke setzte, um das Buch »Kämpfende Seelen« zu lesen, und vier Uhr nachmittags, als er es beendet hatte. Dann ging er nach der Novalisstraße, um sein Absteigequartier aufzusuchen.
Niemand hielt sich in der Wohnung der Frau Armbruster auf, die Türe zum Zimmer des Herrn Hartwig war unversperrt.
Das typische Berliner möblierte Zimmer. Das übliche Sofa mit Paneel, ein wackeliger Fauteuil, eine Uhr an der Wand, die nicht ging, ein zerschlissener Teppich, immerhin aber ein großer, ansehnlicher Schreibtisch und an den Wänden durchaus nicht die Familienbilder derer von Armbruster, sondern ein paar gute Radierungen, Originale mit handschriftlichen Widmungen an den »lieben Freund«, »feinsinnigen Beurteiler« und so weiter. Auf dem Schreibtisch ein rechtes Kunterbunt, im Hintergrund in Glas und Rahmen ein schönes Lichtbild des Fräuleins Fröhlich.
Krause zog sein Taschenmesser, entfernte vom Rücken des Rahmens ein paar Nägelchen, so daß er das Bild herausnehmen konnte. In steiler, fester, eigenwilliger Schrift standen da die Worte:
»Dein für immer! Lotte«.
Krause überlegte kurz, ging nach dem Vorraum, sperrte die Wohnungstüre von innen ab und ließ den Schlüssel stecken, so daß Frau Armbruster oder Hartwig bei ihrer etwaigen Heimkehr hätten läuten müssen. Nun war er vor unwillkommener Störung sicher.
Einem kleinen Lederfutteral entnahm er winzige Werkzeuge und schon war ein Schreibtischfach nach dem anderen geöffnet. Manuskripte, Tabakbeutel, halbleere Zigarettenschachteln, Ansichtskarten, Lichtbilder, Dokumente quollen ihm entgegen. Das unterste, geräumigste Fach aber war angefüllt mit Briefen. Bündelweise lagen sie da aufgestapelt, Dutzende, Hunderte, viele noch uneröffnet, alle an »Idylle an der Havel, Annoncenbureau des Generalanzeiger« gerichtet.
Krauses Gesicht verriet keine Überraschung, kaum daß es in seinen grauen Augen aufblitzte. Gelassen nahm er die Briefe heraus, setzte sich an den Schreibtisch, als wäre er im eigenen Zimmer, begann blitzschnell die geöffneten Briefe auf ihren Inhalt zu prüfen, während er die noch nicht eröffneten beiseite legte. Eine halbe Stunde mochte so vergangen sein, Briefbogen auf Briefbogen flogen auf einen Haufen, alle möglichen und unmöglichen Gerüche entstiegen ihnen, es begann im Zimmer nach Altjüngferlichkeit, Armut, Jammer, Veilchen, Lavendel zu riechen. Und wahrend er las, horchte er auf, vernahm durch die offene Tür jedes Geräusch, jeden Schritt auf dem Treppenflur, immer bereit, innerhalb einer Sekunde wieder alles in Ordnung zu bringen und aus der Stube des Herrn Hartwig in sein gemietetes Berliner Zimmer zu schleichen.
Jetzt erweiterten sich seine Pupillen, gespannt, mit zugespitzten Lippen las er einen Brief durch. Es war der Brief der verschwundenen Käte Pfeiffer. Und in rascher Folge fanden sich nun die Briefe der Müller, Möller, Jensen und Cohen vor. Blaue, grüne, rosa und weiße Papiere, solche in guter Leinenqualität, schlechte, fetzige, wie man sie in den Konditoreien bekommt, ernste, nüchterne und kitschige, abscheuliche mit Tauben oder Vergißmeinnicht verziert.
Dies war der Brief der Annemarie Jensen aus Hamburg:
Verehrter Herr!
Mit Gegenwärtigem erlaube ich mir, auf ihre werte Annonce im »Generalanzeiger« Bezug zu nehmen, indem ich glaube, allen Ihren Anforderungen zu entsprechen. Bin 24 Jahre alt, entstamme einer ordentlichen Hamburger Familie, mein Vater war Kapitän bei Woermann, ist aber ebenso wie meine Mutter längst gestorben, wie ich überhaupt niemanden auf der Welt habe und ganz allein stehe. Würde gerne einem guten Mann eine liebevolle Frau werden und kann wohl behaupten, daß Sie es nicht zu bereuen haben würden. Bin brünett, mittelgroß, wie man sagt, hübsch und habe nebst schöner Aussteuer auch Vermögen in der Höhe von 20.000 Mark, über die ich jederzeit verfügen kann. Da ich ohnedies im Begriff bin, nach Berlin zu fahren, so könnten wir uns bald treffen und dann sehen, ob wir zu einander passen. Bitte mir unter »Lebensglück 24«, postlagernd Dorotheerstraße nach Berlin zu schreiben.
Und ähnlich, ganz ähnlich, wenn auch in anderer Schrift und mit anderen Redewendungen schrieb die Möller und die Müller und die Cohen. Sie alle betonten das Alleinstehen, waren überzeugt davon, daß — behaupteten, wie man sagt, hübsch zu sein, sprachen von zehntausend oder zwölftausend oder noch weniger Mark, von Aussteuer und Ersparnissen, von Sehnsucht und Willen zur Treue und zum Glück.
Tiefatmend lehnte sich Krause zurück, bedeckte die Stirne mit der Hand, lächelte sein schiefstes. hämischestes Lächeln, sprang dann auf, steckte die fünf verräterischen Briefe in die Brusttasche, brachte den Schreibtisch in tadellose Ordnung und zog sich leise mit seiner Beute in sein Zimmer zurück, nachdem er die Wohnungstüre wieder aufgesperrt.
Im Zimmer der Frau Armbruster aber ging er mit langen Schritten auf und ab, blieb von Zeit zu Zeit beim Fenster, wenn man die Öffnung in den finsteren Hof Fenster nennen konnte, stehen, betrachtete diesen oder jenen Brief von neuem, schnitt Grimassen, entwickelte unerhörte und überraschende Falten im Gesicht, versank minutenlang in tiefes Brüten, um dann wieder auf und ab zu stelzen.
Bis er hörte, wie draußen die Wohnungstüre mit dem Drücker geöffnet wurde, Männerschritte im Vorraum laut wurden, um im Zimmer des Herrn Hartwig zu verhallen.
Krause wartete eine Minute, nahm dann Hut und Stock, schlich lautlos hinaus, verließ die Wohnung, wartete auf dem Korridor wieder einen Augenblick, zog die Klingel und sagte, bevor noch Herr Hartwig ihm öffnete, in sich hinein:
Das Spiel kann beginnen! — —
Unterhaltung mit einem Mörder
»Ist Herr Thomas Hartwig zu Hause?«
»Bin ich selbst. Mit wem habe ich das Vergnügen?«
»Mein Name ist Recher, verzeihen Sie, wenn ich störe, aber —«
»Oh, Herr Recher! Ich bin ja auf Ihren Besuch vorbereitet, da ich heute mittag zufällig mit Fräulein Fröhlich zusammengetroffen bin. Bitte nur näher zu treten.«
Platzanweisung, Zigarettenangebot, das dankend angenommen wird.
»Fräulein Fröhlich hat mir erzählt, daß Sie sich für meine Arbeiten interessieren. Kommt selten vor und ist daher um so schmeichelhafter! Und meinen Roman hat die Dame Ihnen auch angehängt. Na, lesen müssen Sie ihn ja nicht, beim Antiquar werden Sie aber keine zehn Pfennige für ihn bekommen.«
Herr Hartwig lachte hell und fröhlich und nicht nur sein Mund lachte, sondern auch seine blauen, kindhaft anmutenden Augen hinter dem Kneifer. Herr Krause aber lachte wesentlich weniger frei, sondern etwas gezwungen mit.
»Übrigens, Herr Recher, irgendwo muß ich Sie schon gesehen haben!«
»Jawohl, auch Sie kommen mir bekannt vor. Halt, sind wir nicht gestern, jeder ein schreiendes Kind auf dem Arm, einander in der Elsässerstraße gegenübergestanden?«
»Richtig, das war es!« Und beide Männer lachten wieder und kamen so sehr gut über die erste Verlegenheit hinweg.
»Ihr Buch hat mich so gefesselt, Herr Hartwig, daß ich es in einem Atemzug gelesen und darüber mein Mittagessen vergessen habe. Diese zwingende Logik, mit der Sie das schwierigste aller Probleme, das Eheproblem, entrollen, die Kühnheit, Hand an Wunden zu legen, die jedermann schmerzen und die jedermann verleugnet, die glänzende Milieuschilderung, die reine, schöne Sprache — alle Achtung! Ich muß nur staunen, daß nicht einer der ganz großen deutschen Verleger das Werk an sich gerissen hat.«
Um Hartwigs Lippen zuckte es.
»An sich gerissen, ist gut! Ein Jahr lang ist das Manuskript von einem Verleger zum anderen gewandert, immer bekam ich es mit gleichgültigen Phrasen zurück, glaube nicht, daß einer der vielbeschäftigten Herren Lektoren es auch nur durchgeblättert hat. Schließlich lernte ich durch Zufall die Brüder Merker in Braunschweig kennen, die dort einen kleinen Fachverlag betreiben. Und da beide viel Unglück in ihren Ehen gehabt, so begeisterten sie sich für meinen Roman und nahmen ihn. Aber sie hatten nicht genug Geld, um die enormen Druck- und Papierkosten allein zu tragen, ich mußte den kleinen Rest meines väterlichen Erbteils opfern, damit der Roman in schäbiger Gewandung erscheinen konnte. Und nun liegt er seit einem Jahr unbeweglich beim Kommissionär, kaum daß von den fünftausend gedruckten Exemplaren dreihundert gekauft wurden. Und auch die kann der unglückliche Sortimenter, der sich auf fünfundzwanzig Stück eingelassen hat, wahrscheinlich nicht anbringen. Denn wer soll für ein Buch in solcher Ausstattung, dessen Autor unbekannt ist, einen verhältnismäßig großen Betrag ausgeben?«
Krause nickte. »Pech, entschiedenes Pech! Denn der Roman ist ein Meisterwerk, darüber läßt sich nicht streiten. Spielt Selbsterlebtes dabei mit, wenn die Frage erlaubt ist?«
Hartwigs Gesicht wurde hart und abweisend. »Der Ehekampf im Elternhause, das Unglück meiner einzigen Schwester, die sich das Leben nahm, weil sie die Fessel nicht länger ertragen wollte, schlechte Ehen meiner Freunde — das ist mir genug Erlebnis.«
»Also werden Sie wohl zu den ewigen Junggesellen gehören?«
»Ich? Durchaus nicht! Ich wollte, ich könnte recht bald — aber, wenn Sie mein Buch gut gelesen haben, so müssen Sie doch wissen, daß ich kein Feind der Ehe an sich, sondern nur ein Feind der Ehe, wie sie geworden ist, bin! Ein freies Zusammenleben mit voller Achtung der gegenseitigen Unabhängigkeit, Zusammenleben, aber nicht Aneinanderkleben, nicht, mein Mann‘, sondern ‚mein Gefährte‘, nicht, ‚meine Frau‘, sondern ‚meine Freundin‘ — unter solchen Bedingungen könnte auch eine Ehe zwischen harmonischen, abgeklärten Menschen glücklich sein.«
»Fräulein Fröhlich hat mir von einem Schauspiel erzählt, das Sie geschrieben haben?« Hartwig errötete über und über. »Hat die Gute auch darüber gesprochen? Wenn es Sie interessiert, werde ich Ihnen gelegentlich eine Abschrift geben. Das Original liegt derzeit am Kleist-Theater. Das vierte, dem ich es eingereicht habe. Natürlich wird es auch der Direktor des Kleist-Theaters, Herr Hohlbaum, genau so wenig lesen wie die anderen. Im Volkstheater lag das Stück vier Monate; als ich drängte und persönlich vorsprach, lobte der Direktor das Stück über den grünen Klee und erklärte, es unbedingt in zwei oder drei Jahren aufführen zu wollen. Nur hatte, wie ich sofort erkannte, der Kerl mein Stück noch gar nicht gelesen, sondern meinte ein ganz anderes. Hätte ich genügend Geld, so würde ich das Stück, es heißt ‚Drei Menschen‘, auf meine Kosten irgendwo in einem besseren Provinztheater herausbringen lassen. Na, vielleicht wird sich das machen lassen!«
Krause wurde schwankend, kannte sich nicht aus, Mitleid, Sympathie, Grauen durchströmten ihn. Motiv zur ruchlosen Tat der Auslöschung von fünf Menschenleben? Ehrgeiz, Geltungssucht, Drang zu werden um jeden Preis. Machen es Feldherren anders? Und doch — so geht es nicht! Keine Sentimentalität, sondern Rächer sein, wie es im angenommenen Namen liegt.
Und nun zugreifen!
»Herr Hartwig, in einem Ihrer Feuilletons, noch stärker aber in Ihrem prachtvollen Roman deuten Sie verwegenes Denken an. Das Recht des Wertvollen, über der Menge Stehenden, sich durchzusetzen. Um jeden Preis, auch über Leichen hinweg. Ist das nicht rein persönlich gedacht? Sie sind ein Seltener, Wertvoller. Und in Gefahr, zugrunde zu gehen, weil Ihnen zu viel des Minderwertigen und Widerwärtigen entgegensteht. Sie sind einer, der an Wert sicher Legionen Unzulänglicher, Belangloser aufwiegt. Wären Sie imstande, aus solchem Bewußtsein die Konsequenzen zu ziehen? Sagen wir zum Beispiel, Menschen umzubringen, wertlose, lächerlich überflüssige Menschen, weil deren Tod Ihnen materielle Vorteile brächte?«
Hartwig verfärbte sich. Ein tückischer, hilfloser Zug trat in sein hübsches, offenes Gesicht, er schielte und die Augen flackerten unruhig.
»Ich verstehe nicht recht, was Sie da meinen,« kam es stoßweise, gekeucht heraus.
»Sie verstehen mich nicht, Herr Hartwig? Nun, ich meine, ob Sie sich wirklich das Recht, das höhere, sittliche Recht zusprechen, fünf oder vielleicht mehr arme, dumme Frauen umzubringen, um Ihr Drama in der Provinz aufführen lassen zu können?«
Hartwig sprang auf, umklammerte die Stuhllehne, stierte Krause an, heiser kam es aus seiner Kehle:
»Was soll — wer sind Sie — was bedeutet —«
»Das bedeutet, daß ich Sie verhaften muß Herr Hartwig, obwohl mir Ihr Roman wirklich ganz außerordentlich gefallen hat und ich wirklich nicht genau weiß, ob nicht am Ende Ihr Drama wertvoller ist als die fünf Mädchen, die Sie an sich gelockt, ermordet und beraubt haben!«
Totenstille! Zwei Männer standen einander gegenüber und sahen sich in die Augen. Hartwig richtete die zusammengesunkene Gestalt hoch auf.
»Tun Sie Ihre Pflicht, ich gehe ruhig mit Ihnen, Herr, Herr — —«
»Nein, nicht Recher, sondern Inspektor Krause! Die kleine Komödie war mir selbst widerwärtig, aber durchaus notwendig. Und nun, bitte, nehmen Sie Ihren Hut und gehen Sie mir voran.«
Hartwig zögerte, sah wie geistesabwesend vor sich hin.
»Sagen Sie, ich kann mich doch im Untersuchungsgefängnis selbst beköstigen und meine eigenen Sachen tragen?«
»Jawohl, Herr Hartwig, das können Sie! Bis zu Ihrer Verurteilung sind Sie Gentleman und sozusagen ein ordentlicher Staatsbürger in einer Zelle. Ich würde Ihnen raten, gleich eine Tasche mit den notwendigen Sachen mitzunehmen. Wir benützen natürlich ein Autotaxi.«
Während Hartwig wortlos einen kleinen Handkoffer füllte, glitten die Gedanken Krauses um viele Jahre zurück. Oh, wie er diese Angst verstand, diese Angst vor Sträflingskittel, Zwangsbädern, Erbsbrei und Kartoffelsuppe! Nicht die Haft, das Zuchthaus, die körperliche Arbeit, die Entehrung sind ja das Fürchterlichste, sondern die Filzschuhe an den Füßen, das grobe, fremde Hemd, das »Du« des Wärters, der Blechtopf mit dem zerbeulten Löffel, der Unratkübel. Gesetzgeber, ihr wollt strafen, um zu rächen und zu bessern und macht aus Menschen mit Fehlern verzweifelte Tiere, Bestien in dem Augenblick, da ihr brutal die Nabelschnur zerreißt, die den Gestrauchelten mit seinem früheren Leben verbindet. — —
Auf vorsichtige Fragen, die Krause im Auto stellte, gab Hartwig keine Antwort, kniff die Lippen zusammen, als wollte er sie nie wieder öffnen. Nur im letzten Augenblick, als der Alexanderplatz schon in Sicht war, sagte er heiser:
»Herr Krause, irgendwie strömt Ihre schäbige Detektivseele doch Menschliches aus. Und an dieses Menschliche wende ich mich mit einer Bitte: Zerren Sie das reinste Geschöpf der Welt nicht mit herein, lassen Sie Lotte Fröhlich aus dem Spielt«
Krause nickte, während die Fältchenflut in seinem Gesicht aufstieg.
»Ich verspreche Ihnen das gerne — es sei denn, daß Lotte Fröhlich vom Wirbel der Ereignisse automatisch erfaßt wird.«
Kämpfende Seelen
Dr. Clusius mimte Napoleon nach einer gewonnenen Schlacht, kreuzte die Arme über der Brust, sah Hartwig durchbohrend an, schritt auf und ab, ohne ihn aus den Augen zu lassen, mit denen er ihn erstechen wollte, und wartete auf den köstlichen Moment, da der Gewaltige, der Präsident, kommen würde. Und dieser kam aufgeregt; Serenissimus mit Hakennase und Monokel, zehn bunte Bändchen am Aufschlag des Gehrockes, begrüßte beinahe kameradschaftlich den Chef der Sicherheitspolizei, betrachtete wohlwollend den seltsamen Krause, der ihm eigentlich nach Geburt gleichberechtigt war, finster den Verhafteten, sagte »Tach!« zum Protokollschreiber, und das erste Verhör begann.
Es wurde aber eigentlich gar kein Verhör. Hartwig erklärte kurz und bündig, Thomas Hartwig zu heißen, zweiunddreißig Jahre alt zu sein, in Köln als Sohn des verstorbenen Gymnasialprofessors Wilhelm Hartwig geboren, bisher unbescholten, evangelisch und im großen und ganzen mittellos und ohne feste Stellung zu sein. Dann aber:
»Und nun, meine Herren, bitte ich Sie, sich keine Mühe mehr zu geben, da ich keine weitere Frage beantworten werde. Nicht einmal die, ob ich schuldig oder unschuldig bin. Später, vor meinen wirklichen Richtern, werde ich mich vielleicht — ich weiß es heute noch nicht — äußern, bis dahin müssen Sie aber auf jedwede Unterhaltung mit mir verzichten.«
Der Präsident donnerte, Clusius schwitzte Blut, Krause lehnte gleichgültig, als ginge ihn die ganze Geschichte nichts an, an der Wand — es war alles vergebens. Worte wie »frecher Geselle«, »Flötentöne beibringen«, »Mordbube« fielen, ohne daß Hartwig auch nur mit der Wimper gezuckt hätte. Schließlich verlegte sich Clusius aufs Bitten.
»Hartwig, das Beweismaterial gegen Sie ist erdrückend, also halten Sie uns nicht unnütz auf! Die Briefe der fünf verschwundenen Mädchen wurden bei Ihnen gefunden, damit allein sind Sie schon vollständig überführt. Gestehen Sie ruhig ein, entlasten Sie Ihr Gewissen, das kann Ihnen, wenn es sich einmal um Umwandlung der Todesstrafe handelt, von Nutzen sein.«
»Bedauere,« sagte Hartwig höflich und schwieg.
Das Fräulein aus dem Annoncenbureau des »Generalanzeigers« erschien aufgeregt, erkannte in Hartwig sofort den Herrn, der anfangs Juni Annonce aufgegeben und die Antworten abgeholt hatte. Hartwig blieb stumm. Die Frauen, bei denen die Mädchen gewohnt, der Portier kamen und identifizierten Hartwig. Es blieb schließlich nichts anderes über, als ihn abführen und nach einer Zelle bringen zu lassen. Während aber die beiden hohen Beamten sich noch immer über die bodenlose Frechheit des Häftlings aufregten, schlich Krause den Polizisten nach und gab dem Aufseher des Polizeigefangenhauses Auftrag, Hartwig eine saubere, anständige Zelle zu geben, ihn allein zu lassen und seinen Wünschen, soweit es möglich sei, gerecht zu werden.
Es war inzwischen spät nachts geworden und Dr. Clusius begnügte sich für heute damit, durch einen Laufzettel die Berichterstatter sämtlicher Berliner Zeitungen für den nächsten Morgen zu sich zu bitten.
Die Mitteilungen über die Verhaftung des Schriftstellers Thomas Hartwig als vermutlichen Mörder der fünf Mädchen schlugen wie eine Bombe ein. Clusius gab einen kurzen Überblick über den Gang der Ereignisse, betonte, daß er und sein geschätzter Mitarbeiter Herr Krause noch nie vor einer so schwierigen Aufgabe gestanden wären, sagte bescheiden lächelnd: »Wir beide mußten unsere ganze kriminalistische Erfahrung, alles, was an »Witterung und Instinkt in uns liegt, zu Hilfe nehmen, um die Fährte des Mörders zu entdecken, und ich darf wohl behaupten, daß ich darüber manche schlaflose Nacht zugebracht habe.«
Zum Schluß aber machte er eine weitere sensationelle Mitteilung:
»Herr Krause, der, wie viele von Ihnen wohl wissen dürften, eigentlich Joachim Freiherr von Dengern heißt und Doktor der Rechte ist, wurde von dem Posten eines Vertragsbeamten der Kriminalpolizei enthoben und zum königlich preußischen Kriminalkommissär ernannt.«
Schon die Mittags- und Abendblätter veröffentlichten seitenlange Artikel, die Sensation und Aufregung war ungeheuer, den Zeitungsverkäufern wurden die Blätter aus den Händen gerissen, auf den Straßen bildeten sich Gruppen, die den einzig dastehenden Fall besprachen, und abends trug im Metropole-Theater der beliebte Berliner Stegreifhumorist Adolfo Butterblum die Geschichte des Blaubartes von Berlin in Balladenform halb schaurig, halb pikant, mit einigen politischen Andeutungen gewürzt und erotisch durchdacht, vor.
Aber die eigentliche Sensation begann erst. Die wahre Sensation war ja der Roman »Kämpfende Seelen«. Hatte man denn je erlebt, daß ein man denn je erlebt, daß ein waschechter fünffacher Raubmörder einen Roman geschrieben und dieser Roman sogar als Buch erschienen war? Nein, das war noch nie dagewesen und wieder einmal konnte man sehen, wie dieses Berlin allen anderen Großstädten an Möglichkeiten überlegen ist. Natürlich mußte man im Morgenblatt unbedingt Stichproben aus dem Roman haben und die wenigen Exemplare, die man in Berlin vorfand, wurden von den Berichterstattern sofort angekauft. Aber die Hauptredakteure entwanden den Berichterstattern die Bücher, lasen den Roman wirklich und am nächsten Morgen veröffentlichten kluge, feine Männer Feuilletons über die »Kämpfenden Seelen«, zeigten sich erschüttert, bezwungen, erklärten, vor einem psychologischen Rätsel zu stehen. Und der maßgebendste Literaturkritiker von Berlin schrieb:
»Ein Buch, das in gewaltigen Tiefen schürft, ein Buch voll menschlicher Güte und letzter Erkenntnis, ein Roman, von dem man fast sagen möchte, daß seit einem Jahrzehnt kein besserer geschrieben worden ist. Und der Verfasser dieses Romanes soll ein Unhold, ein grauenhafter Verbrecher, ein Räuber und Mörder sein? Welch düsteres Rätsel steckt hinter all dem, welche entsetzlichen Vorgänge müssen sich in dem Herzen und Gehirn dieses Thomas Hartwig abgespielt haben, bevor er aus seiner kühnen, hohen Geisteswelt in die Untiefen des Verbrechens gestiegen ist!«
Für den deutschen Buchhandel begannen welthistorische Tage. Ganz Deutschland, Österreich, die skandinavischen Länder schrien nach dem Roman »Kämpfende Seelen« und als sich die biederen Brüder Merker, die schon längst übereingekommen waren, die ganze Auflage als Makulatur zu verkaufen, von ihrem ersten Schrecken erholt hatten, rafften sie ihren nicht unerheblichen Geschäftssinn zusammen, erhöhten den Buchpreis auf das Dreifache, gaben Druckaufträge an die ersten Leipziger Druckereien, schlossen Verträge mit Expreßübersetzern ab und verkündeten nach einer Woche im Börsenblatt der Buchhändler, daß die ersten hunderttausend Exemplare ausverkauft seien und die geehrten Herren Sortimenter sich gedulden mögen, bis die nächsten hunderttausend fertiggestellt wären. Es wurde im Laufe der nächsten Wochen der größte Erfolg aller Zeiten, selbst »Biene Maja« mußte sich verkriechen, und als die französische, englische, russische, italienische, türkische, holländische, spanische und japanische Ausgabe erscheinen konnte, figurierte die deutsche Ausgabe mit einer Auflage von einer Million an der Spitze der Literaturgeschichte. Vom Leipziger Standpunkt betrachtet.
Hartwig hatte seinerzeit fünfzehn Prozent vom Ladenpreis vereinbart und die Hälfte von den Ubersetzungshonoraren. Während er im Polizeigefängnis und dann bald im Untersuchungsgefängnis in Moabit seine Taktik des Schweigens fortsetzte, schwoll ein für ihn von den Brüdern Merker angelegtes Bankkonto von Tag zu Tag an. Hartwig hätte sich jetzt von Borchart verpflegen lassen, in Sekt baden, sich die teuersten Verteidiger nehmen können und wäre trotzdem ein schwerreicher Mann geblieben. Aber er tat nichts von alldem, aß einfach und bescheiden, las alte Bücher und weigerte sich nicht nur, vor dem Untersuchungsrichter Aussagen zu machen, sondern auch sich einem Rechtsfreund anzuvertrauen. Es mußte ihm schließlich von Gerichts wegen ein Verteidiger in der Person des Rechtsanwaltes Nagelstock gegeben werden. Aber auch ihm gegenüber blieb Hartwig auf dem Standpunkt:
»Ich habe nichts zu sagen! Ich muß meine Unschuld nicht beweisen, sondern die Anklagebehörde soll den Beweis für meine Schuld erbringen. Ich habe abgeschlossen und stehe dem Verlauf der Dinge gleichgültig gegenüber.«