Kitabı oku: «Die Stadt ohne Juden», sayfa 2

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2. Kapitel.
Herr Schneuzel und sein Schwiegersohn.

Als der Nationalrat, Gemeinderat, Armenrat und Gewerberat Antonius Schneuzel am nächsten Vormittag – es war ein Sonntag – infolge der endlosen. Siegesfeier arg verkatert am häuslichen Früstückstisch erschien, fand er eine recht unbehagliche Stimmung vor. Seine Gattin hatte eine nadelspitze Nase, was auf Sturm deutete, seine Tochter, Frau Corroni, saß mit verquollenen Augen da, ihr Gatte, der Prokurist Alois Corroni, lächelte den Schwiegervater impertinent und verächtlich an, und die beiden Enkelkinder Lintschi und Hansl stießen ein furchtbares Geheul aus, als Herr Schneuzel seine kleinen Äuglein verwirrt und ängstlich um den Tisch kreisen ließ.

„Ja, was is denn da los?“

Frau Schneuzel stemmte die Arme in die Seite.

„Was los is, du Fallot, du? Gar nichts is los, als daß du, alter Tepp, geholfen hast, deine Tochter und die Enkelkinder aus dem Land zu treiben!“

„Ja wieso denn?“ stammelte Herr Schneuzel. Aber schon dämmerte ihm grauenhafte Wahrheit. Richtig, er hatte im Laufe der Jahrzehnte total vergessen, daß sein Schwiegersohn, Herr Alois Corroni, in frühester Jugend Sami Cohn geheißen und erst stehend und aufrecht die Taufe empfangen. Also mußte er ja hinaus und mit ihm die beiden Kinder, die Judenstämmlinge waren!

„So eine Gemeinheit,“ schluchzte Frau Corroni in ihr Taschentuch hinein, „was soll, ich jetzt mit den Kindern anfangen? Nach Zion auswandern vielleicht, du Rabenvater, du?“

„Jawohl, es ist ein starkes Stückchen,“ erklärte nun Herr Corroni mit scharfer Betonung jedes Wortes, „einen Mann wie ich, der behaupten darf, mindestens ein ebenso guter Christ zu sein als tausend andere, die den ganzen Tag im Wirtshaus herumsitzen, einen Mann wie ich, dessen Kinder im christlichen Glauben groß geworden sind, aus dem Lande zu jagen wie einen tollen Hund!“

Herr Schneuzel wollte eine Erwiderung machen und murmelte etwas von großer, heiliger Sache, Prinzipien, die auf Einzelfälle keine Rücksicht nehmen können. Aber schon saß die Hand der Gattin in seinen spärlichen Haaren und ließ nicht locker, bevor sie sich mit einem ganzen Büschel des immer rarer werdenden Gewächses zurückziehen konnte.

„Viecher seid’s Ihr alle zusammen! Gestohlen könnte Ihr mir werden mit eurem Christentum! Hat der Loisl unser Annerl nicht immer gut behandelt? Hat sie nicht einen Bisampelz von ihm bekommen, läßt er die Kinder nicht aufwachsen wie die Prinzen! Dem lieben Gott sollst du danken, daß sie einen Juden bekommen hat und nicht einen Kerl, wie dich, einen Saufbruder und Skandalmacher!“

„I geh’ net nach Zion,“ heulte Lintscherl, während Hans die Gelegenheit benützte, von Großvaters Teller weg den Sonntagsgugelhupf zu grapsen.

Im Moment höchster Aufregung kam die Köchin Pepi herein, räumte resolut den Tisch ab und erklärte seelenruhig:

„I geh’! I heirat’ mein Isidor, der was Kommis im Konsumverein is, und wann er auswandern muß, wander’ i mit ihm aus! Von mir aus können sich die Herrn Nationenräte mitsamt dem Kränzler alle zusammen aufhängen.“

Nachdem sich die Aufregung gelegt, erörterte Herr Corroni sachlich die Situation.

„Ich denke natürlich gar nicht daran, nach Palästina auszuwandern, schon deshalb nicht, weil man mich als getauften Juden gar nicht hineinließe. Nein, ich habe einen Bruder in Hamburg, den Onkel Eduard, wie Ihr wißt, und wenn er auch eben meiner Taufe halber bös mit mir ist, so wird er mich jetzt nicht im Stich lassen – Juden haben ja, gottlob, Familiensinn“ – diese Worte begleitete ein stechender Blick gegen Schneuzel – „und ich werde eben dort für mich und meine Familie eine neue Zukunft aufbauen. Es sei denn, daß Annerl lieber bei euch bleiben will.“

Worauf Frau Anna, müde und verblüht, wie man es nach fünfzehnjähriger Ehe zu sein pflegt, rosige Wangen bekam, ihre Arme zärtlich um den Hals des Alois Corroni, recte Sami Cohn, schlang, ihn küßte wie eine Brautihren Bräutigam und wirklich wie ein junges Mädchen aussah. Und schließlich mußte sich Herr Schneuzel völlig verstört und verzweifelt verpflichten, dem Schwiegersohn so gewissermaßen als Fundament für die neue Zukunft eine Million mit nach Hamburg zu geben.

Nachmittags ging der National-, Gemeinde- und Armenrat Schneuzel allein zum Heurigen nach Sievering, fing dort mit einer Gesellschaft, die noch immer „Hinaus mit den Juden!“ schrie, Streit an, zerbrach seine Flasche an dem Schädel des einen Schreiers und wurde furchtbar verprügelt.

3. Kapitel.
Vor Torschluß.

Gespräch in einer Fensternische des Café Wögerer, gegenüber der Börse, zwischen Herrn Strauß, Inhaber eines Bankhauses, und seinem Neffen, dem Mediziner Siegfried Steiner. Solche und ähnliche Gespräche fanden aber an allen Tischen statt, es wurde an diesem Tage nicht lärmend, sondern fast lautlos mit Zuhilfenahme der Hände geredet.

Der Neffe schüttelte dem Onkel die Hand.

„Lieber Onkel, ich danke dir dafür, daß du mich mit nach London nehmen wirst. Das ist ein großer Trost für mich, denn unter uns gesagt – Zion – ne, ist nichts für mich! Nur Juden, nicht auszudenken!“

Der Onkel lächelte behaglich. „Zion kann mir gestohlen werden. In London werde ich mich mit meinem alten Freunde Moe Seegward, der dort eine Wechselstube in bester Lage hat, assoziieren.“

Siegfried Steiner beugte sich vor und flüsterte:

„Aber sag’ mir eines, Onkel, du hast doch sicher nicht der Steuerbehörde dein wirkliches Vermögen und Einkommen angegeben. Wie wirst du nun dein Geld herüberkriegen, da doch seit gestern Briefzensur eingeführt ist?“ Der Onkel ließ die Zigarrenasche auf seine. Weste fallen.

„Chammer! Wozu hat man christliche Freunde? Ich war heute schon bei dem Fabrikanten Schuster, habe ihm unter uns gesagt, eine Milliarde in Effekten und Bargeld gebracht und dafür von ihm eine Anweisung auf eine Londoner Bank bekommen. Natürlich tut es der Ganef nicht umsonst, sondern er verdient ordentlich dabei.“

Der Neffe nickt befriedigt und an dreißig anderen Tischen endigten verschiedene Gespräche ebenfalls mit einem zufriedenen Nicken.

Ein alter Hebräer mit Kaftan und Lockerln kam herein und sagte von Tisch zu Tisch sein Sprüchlein auf: „Ein Almosen für einen alten Juden, der beim Pogrom in Lemberg um Hab und Gut gekommen ist.“

Von einem Tisch wurde er angerufen: „Na, Alter, wohin werden Sie auswandern?“

Der Jude wackelte mit dem Kopf. „Herrleben, wenn ich aus dem brennenden Ghetto von Lemberg nach Wien gekommen bin, wer’ ich auch aus Wien wieder irgendwohin kommen. Ob ich schnorr’ in Wien oder in Berlin oder Paris, ist gleichgültig. Nur wer’ ich dann nichts erzählen mehr vom Pogrom, sondern davon, daß man hat mich alten Juden ausgewiesen. Aber sagen Sie, Herrleben, glauben Sie, man soll noch kaufen vor Torschluß Julisüd oder is besser Siemens?“

4. Kapitel.
Ein Schuss.

In der Villa des Schriftstellers Herbert Villoner in Alt-Aussee war der Freundeskreis versammelt. Literaten von bekanntem Namen, Maler, Bildhauer, Musiker, Verleger. Sonst pflegten sie erst im Hochsommer die Sommerfrische aufzusuchen, diesmal hatten sie schon im Juni die Stadtflucht ergriffen, um von den politischen Schmutzwellen wenigstens nicht unmittelbar bespritzt zu werden.

Es war nach dem Abendessen, man saß in Korbstühlen auf der Terrasse, blickte auf den lieblichen See, in dem sich der Mond spiegelte, der Rauch der Zigaretten kräuselte in der unbeweglichen Luft empor, jeder war in seine Gedanken versunken. Villoner unterbrach das tiefe Schweigen.

„So ist denn kein Zweifel mehr, daß die meisten von uns zum letztenmal den Sommer in Aussee verbringen werden und daß wir wie vagabundierende Strolche den Staub von unseren Stiefeln werden schütteln und in die Fremde gehen müssen. Wie seltsam! Mein Vater, ein berühmter Kliniker, der nicht wenig zum Ruhm der Wiener medizinischen Schule beitrug, mein Großvater, schon ein erbangesessener Kaufmann vom Mariahilfer Grund und ich selbst. – — Nun, man behauptet, daß ich in meinen Dramen und Romanen das Wiener. Wesen tief erfaßt und wie kein anderer die Wiener Jugend, das süße Mädel erkannt und geschildert habe. Und nun ist das alles nichts gewesen, ich bin einfach ein fremder Jude, der hinaus muß, wie irgendein galizischer Flüchtling, den eine Spekulationswelle nach Wien verschlagen!“

„Immerhin,“ sagte der junge Lyriker Max Seider leise mit zitternder Stimme, „immerhin, Sie werden auch fern von der undankbaren Heimat sich wohl fühlen können. Berlin wird Sie mit offenen Armen aufnehmen, schon sind dort unter den Intellektuellen besondere Ehrungen für Sie geplant, und Sie sind so reif und stark, daß Sie mächtige Zweige werden treiben können, wo immer Sie sind. Aber was soll ich tun? Ich bin erst am Anfang, und ich kann nur leben und arbeiten, wenn ich durch das grüne Gelände des Wienerwaldes schlendere, wenn ich als Wegweiser die zierliche Silhouette des Kahlenberges vor mir sehe. Aus Ihnen strömt des Lebens Quelle in unerschöpflichem Maß, ich muß um jede Zeile, um jeden Vers mit mir ringen und kämpfen und das kann ich nur in Wien.“

„Ach was,“ schrie der Komponist Wallner ergrimmt, „der Teufel soll dieses Wien mit seiner vertrottelten Bevölkerung holen! Ich geh’ nach Süddeutschland, miete mir ein Häuschen im Schwarzwald und werde dort mit meiner Lene herrlich leben. Was, Schatz?“

Seine blonde junge Frau ließ es ruhig geschehen, daß der Gatte ihr Madonnenköpfchen an seine Schulter zog, aber ein boshaftes Lächeln huschte über den üppigen Mund und ihre Blicke kreuzten sich verständnisvoll mit denen des Schriftstellers Walter Haberer. Diesem schwellte Triumph die Brust. Er wußte, die Frau des Komponisten blieb hier, niemand konnte sie zwingen, mit ihrem Gatten ins Exil zu gehen, und verabredetermaßen würde sie endlich, wenn der Mann erst fort, sein werden. Sein würde aber nicht nur sie werden, sondern ganz Wien, ganz Österreich! Denn sie alle, hinter denen er zurückstehen mußte, sie alle, deren Theaterstücke aufgeführt wurden, während die seinen jahrelang in den Schubladen der Dramaturgen schliefen, sie alle, die gestern noch die großen Modeschriftsteller gewesen waren, sie alle, der Villoner und der Seider, der Hoff und der Thal, der Meier und der Marich, sie alle mußten fort und er blieb allein als Herrscher im Reiche der Musen!

Frau Lene nickte ihm lächelnd zu, während der Gatte ihr liebkosend die Wangen streichelte.

Donnernd und polternd lachte der große Schauspieler Armin Horch auf.

„Meine Herrschaften, nun muß es heraus! Auch ich werde Österreich verlassen müssen! Denn ich, den die ‚Wehr‘ und andere Zeitungen immer als den Verkörperer des christlichen Schönheitsideales gepriesen haben, ich bin ein ganz gewöhnlicher Judenstämmling! Mein Vater stammte aus Brody und hieß nicht Horch, sondern Storch!“

Schallendes Gelächter ringsumher, Galgenhumor quoll auf, Scherze, die zur Situation paßten, wurden erzählt.

„Na und Sie, Herr Pinkus, wohin werden Sie Ihren Buchverlag transferieren?“ fragte einer den dicken, kleinen Verleger mit den krummen Beinen und dem prononziert jüdischen Gesicht.

„Ich? Ich bleibe! Ich bin doch Urchrist!“

Und als alles lachte, sagte er behaglich schmunzelnd:

„Spaß beiseite, ich bin ein waschechter Goi! Mein Großvater Amsel Pinkus war ein Tuchhändler in Frankfurt am Main und ein braver, frommer Jude. Als er sich aber in meine Großmutter, Christine Haberle, eine kleine Sängerin aus Stuttgart, verliebte, ließ er sich, da sie anders nicht die Seine werden wollte, taufen. Nun, mein Vater heiratete wieder eine Christin und so bin ich Christ in dritter Generation, also werde ich nicht ausgewiesen, obwohl ich in Art und Äußerem ganz entschieden ein Duplikat meines Großvaters bin.“

„Es lebe der Urchrist Pinkus,“ rief der Hausherr belustigt und alle hoben lachend die Gläser. Da klang vom See her ein Knall wie ein Peitschenhieb. Und von seltsamer Ahnung ergriffen, rief Villoner: „Wo ist Seider?“

Aber schon brachten Leute die Leiche des jungen Lyrikers. Er hatte sich unten am See erschossen, um seine müde, empfindsame Seele nicht in der Fremde frieren lassen zu müssen.

5. Kapitel.
Mädchen unter sich.

Bei der Lona in der Gumpendorferstraße herrschte geradezu Panikstimmung. Acht junge Damen, eine schöner als die andere, waren schon versammelt und immer wieder mußte die dicke Wirtschafterin, Frau Kathi Schoberlechner, die Wohnungstür öffnen und ein Fräulein hereinlassen.

Im Salon roch es außerordentlich kräftig nach Houbigant, Ambre, Coty Rouge und Zigaretten, und es leuchtete und funkelte von hellblonden, rotblonden, schwefelgelben und schwarzen Haaren, Diamanten und Perlen. Alle waren in Spitzen und Seide gekleidet, nur die Lona trug einen duftigen Schlafrock, der vorn offen war, so daß ihr der schneeweiße Busen fast entquoll, und ihre nackten Füße steckten in roten Pantöffelchen.

Die schwarze Yvonne weinte zum Herzzerbrechen, die rote Margit aber schlug auf den Tisch und schrie erbost:

„Mir müssen demonschtrieren! Wann i so an Nationalpülcher derwisch, kratz’ i eahm die scheangleten Augen aus!“

„A so a Gemeinheit! Was soll’n mir denn machen, wann s’ die Juden hinausschmeißen?“

Yvonne weint noch heftiger. „Und grad jetzt, wo mir der Fredi Pollak a neuches Automobil bestellt hat.“

„Mir gibt der Reizes, mit dem was ich seit zwei Wochen geh’, zehn Millionerln im Monat! Möcht’ wissen, ob die Herren Christen auch so splendid sein werd’n?“

„Ihr wißt ja eh, ich hab’ den Zwitterbauch aus Mährisch-Ostrau, der mich ganz aushält und nur amal im Monat auf a Wochen nach Wien kummt!“

Eine üppige Juno mit gelben Haaren schlug die starken, aber schönen Beine übereinander, daß man die blauseidenen Strumpfhalter sah, leerte ein Gläschen Cointreau und sagte mit klingender Altstimme:

„Kinder, am meisten Erfahrung habe wohl ich im Leben! Und ich kann nur sagen, wenn die Juden verschwunden sind, müssen wir alle verhungern oder uns um Stellen als Klosettfrauen in Kaffeehäusern umsehen. Geldlassen tun nur die Juden, die anderen wollen alle viel Liebe und wenig Spesen! Zehn Jahre bin ich mit dem Baron Stummerl vom Auswärtigen Amt gegangen, und in diesen zehn Jahren hat er mir ein goldenes Armband, einen Pelzkragen und tausend Gulden geschenkt. Ein Glück, daß ich dabei noch den Herschmann von der Anglobank gehabt habe, sonst hätte ich am Ende noch arbeiten müssen. Seither flieg’ ich nur auf die Israeliten!“

Claire spielte nervös mit dem goldenen, diamantbesetzten Kreuz, das sie an einer Platinkette trug. „Was wohl der Karl sagen wird, wenn ich vom Doktor ßaruch nichts mehr bekomm’!“

Neue Klagen erhoben sich, Wehrufe wurden laut. Daran hatte man im Drange der Geschehnisse noch gar nicht gedacht! Was sollte mit den Freunden werden, die man liebte und aushielt, wenn die Freunde, die zahlten, nicht mehr waren?

Da führte die Frau Kathi einen dieser Freunde herein. Pepi war das Ideal eines feschen Kerls. Tiptop vom staubgrauen Samthut über die gestrickte Krawatte hinweg bis zu den gelben Halbschuhen, über denen man sanft getönte, blaue Seidenstrümpfe sah.

Schluchzend warf sich die reizende schwarze Yvonne in die Arme ihres Herzensfreundes. Alle begrüßten ihn stürmisch, ein Hagel von Rufen und Fragen ergoß sich über ihn. Pepi ließ sich ruhig in einen Fauteuil fallen, zog Yvonne auf seine Knie, zwickte die neben ihm sitzende Lona in die nackten Waden und sagte, nachdem er sich eine Zigarette hatte in den Mund stecken lassen:

„Kinder, da kann man halt nichts machen, als auch auswandern!“

„Ja, woher wirst an’ Auslandspaß kriegen und wer laßt dich denn hinein?“ entgegnete die kluge goldblonde Carola.

„Sehr einfach,“ lachte Pepi. „Morgen geh’ ich aufs Rathaus, werde konfessionslos, übermorgen geh’ ich zur israelitischen Kultusgemeinde, erkläre mich solidarisch mit dem mißhandelten Judentum und werde Israelit. Hoffentlich ohne Operation. Dann heiraten wir, bekommen unser Ablösegeld vom Staat und können nach den Bestimmungen des Völkerbundes uns anderswo ansiedeln. Wir gehen nach Paris oder nach Brüssel oder sonst wohin, wo was los ist.“

Yvonne lachte unter Tränen. „Geh’, was soll ich denn in Paris als verheiratete Frau machen?“

„Tschapperl! Braucht ja niemand zu erfahren, daß wir verheiratet sind! Nimmst dir eine Wohnung, suchst einen Freund, der dich ordentich aushält und ich bin so wie jetzt fürs Herz da!“

In den nächsten Tagen wußten die liberalen Blätter zu berichten, daß Hunderte von wackeren christlichen Jünglingen, empört über das den Juden angetane Unrecht, demonstrativ ihren Übertritt zum Judentum beschlossen hätten, um das Schicksal dieses schwer geprüften Volkes zu teilen.

6. Kapitel.
Doktor Schwertfeger.

Der Bundeskanzler, der auch Minister für auswärtige Angelegenheiten war und seine Wohnung im Auswärtigen Amte hatte, stand an einem milden Septembertag an der offenen Balkontüre und sah über die Straße hinweg auf das Getriebe des Volksgartens. Aber dieses Treiben schien ihm weniger lebhaft zu sein als in den vergegangenen Jahren, die weißlackierten Kinderwägelchen rollten nur vereinzelt durch die Alleen, die Sesselreihen und Bänke waren trotz des warmen Wetters nur spärlich besetzt.

Es klopfte, der Kanzler rief scharf: „Herein!“ und stand nun seinem Präsidialchef, dem Doktor Fronz, gegenüber.

Schwertfeger war Ende Juni, kurz nach der Annahme des Ausweisungsgesetzes, nach Tirol gefahren, um seine unter der Last der Verantwortung und Arbeit fast zusammengebrochenen Nerven zu erholen. In einem Dorf am Arlberg blieb er mehr als zwei Monate inkognito, niemand außer seinem Präsidialchef kannte seinen Aufenthalt, er ließ sich weder Briefe noch Akten nachschicken, kümmerte sich nicht um die Zeitereignisse, und nur von ganz eminent wichtigen Vorfällen durfte ihm Fronz schriftlich Mitteilung machen. Tatsächlich war ja für alles vorgesorgt, der Wiener Polizeipräsident wie die Bezirkshauptleute hatten ihre genauen Instruktionen, das Parlament war bis zum Herbst vertagt, also fühlte sich Dr. Schwertfeger entbehrlich, ja er hielt es für seine Pflicht, neue Kräfte zu sammeln, um der kommenden Arbeit frisch und stark gegenübertreten zu können. Heute vormittag war er nach Wien zurückgekehrt und nun mußte ihm Fronz gründlich referieren. Nachdem verschiedene Personalangelegenheiten erledigt waren, ließ sich Schwertfeger schwer und wuchtig vor seinem Schreibtisch nieder, nahm Papier und Feder, um sich stenographische Notizen zu machen und sagte äußerlich ruhig und kalt, während vor Spannung jeder Nerv in ihm vibrierte:

„Nun, lieber Freund, berichten Sie mir über den bisherigen Vollzug des neuen Gesetzes und seine sichtbaren Folgen. Wie ist unsere Finanzlage? Sie wissen, ich bin völlig unorientiert.“

Dr. Fronz räusperte sich und begann:

„Finanztechnisch verläuft nicht alles so glatt, wie wir hofften. Zuerst stieg unsere Krone in Zürich sprunghaft bis auf ein Hundertstel Centime, dann traten leise, wenn auch unbedeutende Schwankungen ein, seit Ende Juli rührt sich trotz des starken Goldzustromes aus den Tresors der großen christlichen Vereine und des Bankiers Huxtable unsere Krone nicht, sie beharrt auf ihrem Julikurs. Merkwürdigerweise erfüllen sich vorläufig unsere Hoffnungen auf enorme Geldabgaben seitens der Ausgewiesenen nicht. Es fließen den Steuerämtern weder große Beträge in Kronen noch in fremden Währungen zu. Es scheint, daß sich unter unseren christlichen Mitbürgern Tausende von Parasiten befinden, die in gewissenloser Weise die überschüssigen, der Besteuerung hinterzogenen Vermögen der Juden an sich nehmen und den Juden dafür Abstandsummen in Gestalt von Anweisungen an ausländische Banken geben.“

„Das war nicht anders zu erwarten,“ sagte der Kanzler, während ein verächtliches Lächeln um seine zusammengekniffenen Lippen spielte. „Ob Jud’ oder Christ – habgierig und selbstsüchtig sind sie alle!“

Das dürften die Judenblätter nicht erfahren, dachte Fronz und fuhr fort:

„Wie ich aus dem sehr pessimistischen Referat des Finanzministers Professor Trumm folgern darf, wird uns die Ausweisung der Juden mit ungeheuren Schulden, in Gold rückzahlbar, belasten, unseren Banknotenumlauf aber in keiner nennenswerten Weise vermindern.“

„Geht die Liquidierung und Übergabe der Finanzinstitute, Banken und Aktiengesellschaften glatt vor sich?“

„In dieser Beziehung ist alles in vollem Gange, aber leider zeigt es sich, daß unsere einheimischen Kapitalisten entweder nicht willens oder nicht in der Lage sind, die großen Unternehmungen an sich zu reißen, so daß überwiegend Ausländer als Übernehmer in Betracht kommen. Die Länderbank, die Kreditanstalt, die Anglobank, die Escompte-Gesellschaft und andere Großbanken gehören bereits Italienern, Engländern, Franzosen, Tschechoslovaken und so weiter, desgleichen unsere großen Industrieunternehmungen. Eben hat ein holländisches Konsortium die Simmeringer Lokomotivfabrik übernommen. Wir passen natürlich höllisch auf, daß sich auf solchem Umweg nicht ausländische Juden hier einnisten, und jeder Kaufvertrag weist nachdrücklich auf die Klausel hin, wonach auch ausländische Juden keinerlei Aufenthaltsrecht in Österreich genießen, weder dauerndes noch vorübergehendes. Daß die Aktionäre und Direktoren der fremden Gesellschaften, die hier aufkaufen, zum Teile Juden sind, läßt sich aber nicht vermeiden.“

Der Kanzler stützte die mächtige, gewölbte Stirne in die knochige Hand, wischte dann peinliche Gedanken mit einer Handbewegung fort und sagte gleichmütig:

„Übergangserscheinungen, denen späterhin abzuhelfen sein wird! Wie vollzieht sich die Ausweisung?“

„Genau nach den Durchführungsbestimmungen des Gesetzes! Sowohl die Polizei als auch das Verkehrsamt arbeiten vortrefflich, täglich verlassen ungefähr zehn Züge mit Ausgewiesenen Österreich nach allen Richtungen und bis heute haben etwa vierhunderttausend Juden das Land verlassen.“

Schwertfeger blickte überrascht auf. „Wie ist das möglich? Wir haben an ungefähr eine halbe Million Auszuweisender gedacht! Also wären jetzt, nach einem Drittel der präliminierten Zeit, vier Fünftel erledigt?“

Dr. Fronz lächelte dünn. „Wir haben eben die große Zahl der Konvertiten und Judenstämmlinge unterschätzt! Heute hat die Staatspolizei mehr Überblick und sie rechnet nun nicht mehr mit einer halben Million, sondern mit achthunderttausend, vielleicht sogar mit einer Million Menschen, die unter das Gesetz fallen! Bei dieser Gelegenheit möchte ich bemerken, daß sich gewisse devastierende, oft sehr peinlich oder auch nur groteske Folgen der Ausweisung zeigen. Zehn christlichsoziale Nationalräte müssen als Judenstämmlinge landesverwiesen werden, beinahe ein Drittel der christlichen Journalisten wird entweder direkt oder in seinen Familienmitgliedern betroffen, es stellt sich heraus, daß unsere besten christlichen Bürger vom Judentum durchtränkt sind, uralte Familien werden auseinandergerissen, ja es hat sich etwas ereignet, was schallendes Gelächter nicht nur in den Judenblättern, die ja noch bis zum letzten Augenblick hetzen werden, erregt, sondern auch in der Presse des Auslandes. Eine Schwester des Fürsterzbischofs von Österreich, Kardinal Rößl, ist mit einem Juden verheiratet, sein Bruder aber mit einer Jüdin, so daß seine Eminenz durch das Gesetz sämtlicher Neffen, Nichten und Geschwister beraubt wird. Vielleicht wird es sich doch empfehlen, unter solchen Umständen der Nationalversammlung ein Amendement zu dem Gesetz zu unterbreiten, durch das die Ausweisung von Judenstämmlingen unter gewissen Umständen unterbleiben darf – —.“

Der Bundeskanzler sprang in die Höhe und schlug mit der geballten Faust auf den Schreibtisch, daß die Tinte hochspritzte.

„Nie und nimmer, wenigstens nicht, solang ich im Amte bin! Eine solche Ausnahmsbestimmung würde das ganze Gesetz zum Weltwitz machen, wir wären bis auf die Knochen blamiert, das internationale Judentum würde triumphieren wie noch nie in seiner Geschichte, der Korruption, der Bestechlichkeit wäre Tür und Tor geöffnet! Sie kennen ja die gewissen Herren Hof- und Sektions- und Regierungsräte mit den offenen Händen und leeren Taschen! Nein, es darf keine Ausnahmen geben, das Leid und der Kummer einzelner Familien darf an den Grundmauern des Gesetzes nicht rütteln! Im Namen der Habsburger wurde ein Krieg geführt, der einer Million Männer das Leben gekostet hat und man hat nicht zu mucksen gewagt! Was ist im Vergleich dazu die Tatsache, daß ein paar tausend oder vielleicht hunderttausend Menschen Unbequemlichkeit und Ärger verursacht wird? Ich bitte Sie, in diesem Sinne die christlichen Blätter zu instruieren. Besser noch, wenn die politische Korrespondenz sofort eine diesbezügliche Enunziation der Regierung den Blättern zugehen läßt. Und Sie bitte ich dringend, sich nicht mehr zum Sprachrohr solcher Einflüsterungen machen zu lassen!“

Dr. Fronz verbeugte sich erblassend.

„Dann ist es ja auch überflüssig, wenn ich Euer Exzellenz von furchtbaren Jammerszenen berichte, die sich täglich bei der Abfahrt der Evakuierungszüge beobachten lassen und die oft solche Dimensionen annehmen, daß selbst der Straßenpöbel, der sich zur Abfahrt der Züge mit der Absicht einzufinden pflegt, die Ausgewiesenen zu beschimpfen, ergriffen schweigt und Tränen vergießt – —.“

„Solche Szenen waren vorhergesehen und sind unvermeidlich! Instruieren Sie sofort die Polizei dahin, daß die Bahnhöfe abgesperrt werden, die Abfahrt der Züge tunlichst nur zur Nachtzeit erfolgt und nicht von den Hauptbahnhöfen, sondern von den außerhalb der Stadt gelegenen Rangierbahnhöfen. Und nun nur noch eine Frage: Wie nimmt die Bevölkerung im allgemeinen die Durchführung des Gesetzes auf?“

„Mit größter Begeisterung natürlich! Die Polizei läßt hundert geschickte Agenten sich anonym in die Volksmengen mischen und Beobachtungen sammeln. Nun, die Berichte gehen übereinstimmend dahin, daß die christliche Bevölkerung sich geradezu in einem Freudentaumel befindet, eine baldige Sanierung der Verhältnisse, Verbilligung der Lebensmittel und gleichmäßigere Verbreitung des Wohlstandes erwartet. Auch innerhalb der noch sozialdemokratisch organisierten Arbeiterschaft ist die Befriedigung über den Fortzug der Juden groß. Aber andererseits läßt sich nicht verhehlen, daß die Bevölkerung erregt und unsicher ist. Niemand weiß, was die Zukunft bringen wird, die Massen leben in den Tag hinein, eine ganz staunenswerte Verschwendungssucht in den unteren Klassen macht sich bemerkbar und die Zahl der Trunkenheitsexzesse mehrt sich von Tag zu Tag.

Zur Gehobenheit der Stimmung trägt aber sehr wesentlich der Umstand bei, daß die Wohnungsnot mit einem Schlage aufgehört hat. Allein in Wien sind seit Beginn des Monates Juli vierzigtausend Wohnungen, die bisher Juden inne hatten, frei geworden. Eine direkte Folge davon ist, daß eine wahre Hochflut von Trauungen eingesetzt hat und die Priester zehn und zwanzig Paare gleichzeitig einsegnen müssen.“

Schwertfeger, der Junggeselle geblieben war, nickte befriedigt lächelnd. „Damit wären wir also für heute fertig. Ich bin nun halbwegs im Bilde und werde jetzt die Referate der einzelnen Bundesministerien durchstudieren.“

Ein Kopfnicken und der Präsidialchef war entlassen. Fronz blieb aber noch stehen und lenkte die Aufmerksamkeit des Kanzlers, der schon ein Aktenfaszikel aufgeschlagen hatte, durch diskretes Räuspern auf sich.

„Ich möchte Exzellenz noch darauf aufmerksam machen, daß der Wiener Gemeinderat mit großer Stimmenmehrheit beschlossen hat, den Schottenring in Doktor Karl-Schwertfeger-Ring umzutaufen und daß seitens dreihundert österreichischer Gemeinden ähnliche Umtaufungen von Plätzen und Straßen beschlossen wurden. In Innsbruck hat sich sogar ein Denkmalkomitee gebildet, das Eurer Exzellenz im nächsten Jahr schon ein Denkmal aus Laaser Marmor errichten will.“

Der Kanzler stand auf, ging zum Balkon, sah wieder auf den Volksgarten hinab, schritt mit wuchtigen Tritten schwer und plump zweimal durch den großen Raum und sagte dann:

„Inhibieren Sie alle solche Ehrungen! Sie sollen verschoben werden bis zum zehnjährigen Jubiläum der Befreiung Wiens von den Juden!“

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