Kitabı oku: «Hemmungslos», sayfa 2
Isbaregg begann sich zu dieser Zeit mit Herrn Geiger näher zu befassen. Nach Tisch ließ er sich mit ihm in politische und finanzielle Auseinandersetzungen ein, und der alte Mann fand an diesen Gesprächen um so mehr Gefallen, als Kolo sich als aufmerksamer Zuhörer erwies, selbst ein sehr scharfes Urteil entwickelte und den zynisch. exzentrischen Lebensanschauungen des Millionärs gerne beipflichtete. Isbaregg wieder profitierte von den gründlichen Kenntnissen des anderen, der in allen finanzpolitischen Fragen zu Hause und in nationalökonomischen Dingen von profunder Bildung war. Über sich selbst schwieg sich Geiger gründlich aus, nur ganz flüchtig erwähnte er einmal, daß er seinen armen Verwandten zum Trotz noch recht lange zu leben beabsichtige. Mit einem hämischen Lachen fügte er hinzu: »Und wenn ich auch das bißchen Geld, das ich habe, nicht in den Sarg mitnehmen kann, so werde ich schon dafür sorgen, keine lachenden Erben zu hinterlassen. Man kann ja auf dem Totenbett Kavaliersanwandlungen haben und eine wohltätige Stiftung gründen, zum Beispiel ein luxuriöses Asyl für alternde Droschkenpferde oder ein Sommerheim für Berufsathleten.«
Eines Nachmittags, als Kolo gerade nach Hause kam, hörte er aus dem Zimmer Geigers heftigen Wortwechsel. Die Türe ging auf und heraus trat ein junges, hübsches Mädchen, das schluchzend ein Tuch vor die Augen drückte und dem Ausgange der Wohnung zueilte. In diesem Augenblick tauchte auch Frau Schlüter aus dem Halbdunkel der Vorhalle auf, und als sie das verwunderte Gesicht lsbarregs sah, winkte sie ihn in den Salon und erklärte die Situation.
»Ich muß gestehen, daß ich unwillkürlich gehorcht habe, und was ich hörte, ist wirklich dazu angetan, meine Antipathie gegen den alten Geizhals noch zu vergrößern. Das Mädchen, das ihn jetzt verließ, ist seine Nichte, die Tochter seiner verwitweten armen Schwester, die von ihrer elenden Lehrerpension lebt. Das Mädchen ist seit Jahren mit einem armen, aber braven und tüchtigen jungen Menschen, der eben Arzt geworden ist, verlobt und bat den Onkel unter Tränen, ihr ein paar tausend Kronen zu borgen, damit sie heiraten und einen Hausstand begründen könne. Wissen Sie, was dieses alte Tier ihr geantwortet hat? Ein so hübsches Mädchen wie du braucht keinen armen Schlucker zu heiraten! Wenn du willst, so schenke ich dir Geld für ein hübsches Kleid, damit du in Gesellschaft gehen und auf vernünftigere Weise Karriere machen kannst.«
Kolo schüttelte sich, begab sich nach seinem Zimmer und ging dort lange auf und ab. Sein Entschluß war gefaßt und etwaige Bedenken zerstreute er im Verlaufe seiner Unterhaltung mit sich selbst, die in folgender Betrachtung gipfelte:
»Dieser Herr Geiger ist vor Gott und den Menschen ein Ehrenmann. Er hat sein ganzes Leben lang geraubt, gewuchert und betrogen, aber immer im Rahmen der Gesetze und sicher niemals einer Dame das Portemonnaie gezogen. Infolgedessen ist er dem Staat heilig und unantastbar, und wenn ich anderer Meinung bin und ihn als schädliches Insekt vertilge, so wird man mich, wenn ich mich dabei erwischen lasse, als Mörder verurteilen. Ich füge mich aber dieser abstrus und toll gewordenen Logik nicht, werde ihn zu meinem Heil und zu dem anderer vernichten und mich eben nicht erwischen lassen.«
Am selben Abend zog sich KoIo Isbaregg mit Herrn Geiger nach Tisch in eine Ecke zurück und sagte ganz leichthin:
»Ich habe heute durch meinen Vetter, den Unterstaatssekretär im Finanzdepartement, etwas erfahren, was auch Sie interessieren dürfte. Natürlich kann ich Ihnen, wenn ich meinem Vetter nicht Ungelegenheiten bereiten will, die Sache nur sehr vertraulich mitteilen. Es steht nämlich die Vermögensabgabe unmittelbar bevor und in den nächsten Tagen schon wird wieder eine allgemeine Bankkonto- und Safe-Sperre verfügt werden.«
Geiger wurde ganz zitterig und nervös, der Speichel trat ihm in den Mund und geifernd fragte er:
»Ist das auch ganz sicher, was Sie da sagen?«
»Herr, ich bin ja kein dummer junge! Wenn ich etwas sage, so weiß ich, was ich rede! Übrigens müssen Sie es ja nicht glauben!«
»Gut, gut,« begütigte der Alte. »Natürlich glaube ich es, ich muß es um so eher glauben, als ja die Finanzen dieses gottverlassenen Staates so sind, daß irgend ein neuer Gewaltstreich wirklich unausbleiblich ist.« Und dann mit trockenem Lachen: »Wieder ein Glück, wenn man nichts hat! Mir wird man nichts mehr wegnehmen können.«
Geiger blieb aber verstimmt und einsilbig und begab sich frühzeitig auf sein Zimmer, während Kolo sich den Damen zuwendete und durch sein bestrickend liebenswürdiges Wesen Gluten um sich her verbreitete. Zu ihrer schmerzlichen Enttäuschung ließ aber Frau Albari ihre Schlafzimmertür diesmals vergebens offen.
Am nächsten Morgen frühstückte Kolo Isbaregg sehr frühzeitig und begab sich dann nervös und erregter, als er sich es hätte eingestehen wollen, in das im selben Haus befindliche Cafe, wo er einen Fensterplatz wählte. Nicht lange blätterte er in den Zeitungen herum, als Herr Geiger, eine umfangreiche Aktentasche in der Hand, das Haustor verließ. Kolo, der schon gezahlt hatte, lächelte selbstsicher vor sich hin und folgte dem gebückt einherschreitenden Mann in angemessener Entfernung. Bei der Oper zögerte Geiger, trat an einen Chauffeur heran, es enspann sich ein Zwiegespräch, das damit endete, daß der Geizhals erbost und ersichtlich zornentbrannt weiter zu Fuß die Kärntnerstraße entlang schritt, Isbaregg immer hinter ihm her. Im Gebäude des Bankvereins verschwand Geiger und Kolo konnte nun eine ganze Stunde lang ungeduldig auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf und ab schreiten, bevor der alte Mann endlich wieder erschien. Jetzt war die Aktentasche zum Bersten voll, der Alte preßte sie förmlich inbrünstig an sich und bestieg diesmal ohne Pourparlers ein Auto.
Kolo wußte genug, es war so gekommen, wie er vorausgesehen: Geiger hatte, von Panik über die kommende neue Vermögensabgabe ergriffen, sein Depot behoben, etwaige Aktien in Bargeld umgetauscht und würde nun den Betrag zu Hause verbergen.
Isbaregg hatte nun allerlei Besorgungen zu machen. Er begab sich nach einer stillen Seitengasse der Kärntnerstraße zu einem Schuster, dessen Spezialität orthopädische Schuhe waren, und bestellte mit schnarrender, norddeutscher Aussprache ein Paar Stiefel für seinen Bruder, Nr. 43 Länge, 5 Breite. Der rechte Schuh müsse einer Verkürzung des Beines halber drei Zentimeter höher sein als normal. »Postarbeit, bitte, spätestens übermorgen brauche ich die Schuhe, weil ich sie dann sofort wegschicken muß.« Er erlegte sofort eine Anzahlung und kaufte in einem Gummigeschäft einen Pfropfen für einen Spazierstock, wie ihn Hinkende zu benützen pflegen. Dann begab er sich nach der Elisabethstraße, wo er den Laden eines Theaterfriseurs betrat. Dort verlangte er für das Kostümfest, das demnächst im Stadtpark stattfinden sollte, einen schwarzen Knebelbart. In einem Farbwarengescbäft erstand er eine Tube schwarzer flüssiger Farbe, bei einem Optiker eine schwarze Brille, bei Gerngroß einen mächtigen schwarzen Schlapphut, wie man ihn kaum noch trug, und einen dünnen Wettermantel mit einer Pelerine.
Mit Paketen beladen, begab sich Kolo nach Hause, ging aber gleich wieder fort und studierte in einem Haustor die Annoncen des »Neuen Wiener Tagblattes«, aus dem er sich mehrere Adressen aufnotierte. Eine halbe Stunde später hatte er in der Apfelgasse, also in nächster Nähe des Schwarzenbergplatzes, ein diskretes Absteigequartier mit separatem Eingang von der Treppe aus auf vierzehn Tage gemietet und vorausbezahlt. Da solche Absteigequartiere nur für galante Stunden vermietet werden, frägt man nicht nach dem Namen, sondern begnügt sich, den Mieter mit Herr Doktor anzureden. Er nahm den Zimmerschlüssel an sich, versicherte, daß er das Zimmer nur selten und immer auf ganz kurze Zeit benützen würde, und hatte die Gewißheit, daß die wackere Zimmervermieterin diskret und froh sei, wenn sie mit ihrem jeweiligen Herrn nichts weiter zu tun habe.
Zwei Tage später erzählte Frau Dr. Schlüter abends ihren Gästen, daß ein neuer und recht interessanter Herr bei ihr eingezogen sei. »Ein Spanier in diplomatischen Diensten. Er spricht kein Wort deutsch, aber natürlich vollkommen französisch. Er heißt Doktor Diego Alvarez und macht einen höchst distinguierten Eindruck. Morgen zieht er schon hier ein, wird aber erst nach einer Woche mit uns speisen, da er vorläufig in der Familie des spanischen Botschafters Tischgast ist.«
Fräulein Holthaus schrie entzückt auf: »Ein Spanier, Gott, wie interessant!« Während Frau Albari unter allgemeiner Spannung fragte, ob dieser Spanier ein so schöner Mann sei, wie man es von Spaniern vorauszusetzen pflege. Wobei sie Kolo einen koketten Blick zuwarf. Lachend erklärte Frau Dr. Schlüter:
»Nun, da müssen Sje Ihre Erwartungen schon herabstimmen! Er hat einen schwarzen, abscheulichen Knebelbart, dunkle Brillen, trägt einen unmöglichen Kalabreser und hinkt außerdem recht heftig.«
»Der Arme!« seufzte die Stillebenmalerin und nahm sich vor, gegen den unglücklichen Krüppel recht sanft und zuvorkommend zu sein, während Herr Holthaus, der erotische Sezessionist, trocken meinte:
»Solche Leute pflegen Glück bei Frauen zu haben. Merkwürdigerweise löst Krüppelhaftigkeit bei hysterischen Weibern starke erotische Reizungen . .
Frau Dr. Schlüter räusperte sich energisch mit einem Blick auf einen Backfisch, der bedenklich zu kichern begann, und lenkte das Gespräch auf die allgemeine Ernährungslage. Von da an sprach man nicht mehr von dem Spanier, der mit einem umfangreichen Handkoffer seinen Einzug hielt und vorläufig nur morgens und abends beim Verlassen und Kommen, aber auch dann nicht regelmäßig, vom Stubenmädchen gesehen wurde.
So waren etwa acht Tage vergangen, die Pfingstwoche war gekommen und der Spanier sagte abends, als er nach Hause kam, der Frau Dr. Schlüter, er werde über die Feiertage nach dem Semmering fahren, und zwar schon morgen mit dem ersten Frühzug, eine Mitteilung, die weiter nicht aufregend war. Kolo Isbaregg blieb wie immer, wenn er keinen Bummel vorhatte, bis gegen Mitternacht im Salon, war scheinbar heiter und aufgeräumt wie gewöhnlich und zog sich dann, als alles schlafen ging, auf sein Zimmer zurück. Hier legte er sich auf den Diwan und dachte, indem er sich zu eiserner Ruhe zwang, logisch, klar und scharf über all das nach, was die nächsten Stunden bringen mußten.
Um zwei Uhr morgens – das ganze Haus lag im tiefsten Schlaf – zog er die Schuhe aus, steckte ein Universalwerkzeug aus Nickel in kleinem Format, das er noch aus Kanada her besaß, zu sich, zog den Krummhaken hervor, mit dem auch gute Schlösser leicht aufzusperren sind, wenn man, wie er, damit umgehen konnte, und öffnete seine schon am Tage vorher eingeölte Tür, die nach dem Korridor führte.
Totenstille, nichts regte sich, er konnte fast das Klopfen des eigenen Herzens hören. Ein paar Schritte nur und er stand vor der Tür des Herrn Geiger. Er preßte das Ohr an das Schlüsselloch und hörte das Schnarchen des alten Mannes. Nun vorsichtig, den Krummhaken angesetzt. Halt! Ein Widerstand! Verflucht! Der Schlüssel steckt ja von innen! Kolo verlor nur einen Augenblick die Fassung, dann zog er aus dem zusammengeklappten Werkzeug eine lange Nadel, wie man sie zum Bohren eines Loches in Lederzeug braucht, führte sie geräuschlos in das Schlüsselloch ein und stieß behutsam den Schlüssel hinaus, daß er drinnen im Zimmer auf die Erde fiel. Wohl war der Boden mit einem Teppich belegt, aber ein gewisses Geräusch, durch das Aufschlagen des Schlüssels bewirkt, hatte sich doch nicht vermeiden lassen. Mit angehaltenem Atem horchte KoIo. Der alte Mann hatte aufgehört zu schnarchen, warf sich unruhig von einer Seite auf die andere, dann trat wieder tiefe Stille ein. Eine volle Minute, die einer Ewigkeit glich, wartete Kolo Isbaregg noch, dann schob er den Krummhaken ein und mit leichter Mühe – er hatte den Versuch oft genug an dem eigenen Türschloß gemacht – drehte er die Zunge des Schlosses um. Fast ganz geräuschlos öffnete sich die Türe und der Eindringling stand nun tief gebückt in dem fremden Raum. Ein Druck auf die kleine elektrische Taschenlampe und er hatte volle Orientierung gewonnen. Im nächsten Augenblick mußte sich alles entscheiden. Würde Geiger erwachen oder auch nur Zeichen von Unruhe von sich geben, so müßte er sich mit einem Ruck über das Bett werfen und mit seinen behandschuhten Händen jeden Laut und jedes Leben ersticken. Auf allen Vieren kriechend, schlich sich Kolo dicht vorwärts, so daß zu seiner rechten Seite das große Doppelfenster, zu seiner linken das Bett lag. Geiger rührte sich nicht und gab nur die sägenden Laute des tief Schlafenden von sich. Also konnte die Arbeit der eigenen Hände wohl vermieden werden!
Beim Fenster richtete sich Kolo halb auf, um mit einem einzigen Schnitt der haarscharfen Messerklinge, die er nun aus dem Werkzeug zog, einen erheblichen Teil der Rouleauxschnur abzuschneiden. Rasch knüpfte er eine Schlinge, wie er es bei den Jagdausflügen in den kanadischen Wäldern gelernt hatte, und kroch wieder tief gebückt, die Schlinge in der linken Hand haltend, an das Bett heran.
Nun mußte es getan werden. Durch den Bruchteil einer Sekunde ließ er das Licht der Taschenlampe aufblinken, Hier saß der Kopf an dem dürren Hals des Greises. Jetzt keine Bedenken! Die Schlinge blitzschnell über den Kopf gezogen. Geiger wacht auf, hebt den Schädel schlaftrunken. Macht nichts – zu spät! Mit beiden Händen zieht Kolo bei voller, brutaler Kraftentwicklung an den Enden der Schnur – ein heiseres Gurgeln und kein Laut mehr! Fester und fester zieht er an, und das Dunkel der Nacht verbirgt ihm den grauenhaften Anblick, den der häßliche tote Greis bietet. Minutenlang verharrt er so, dann läßt er los, tastet nach der Bettdecke und zieht sie der Leiche über den Kopf. Richtet sich hoch auf, horcht wieder aufmerksam nach außen, tappt die Wand entlang, bis er den Anschalter gefunden hat, und nun steht er, von dem vollen Licht des elektrischen Kronleuchters umbrandet, da. Sieht
sich im Spiegel und fühlt ein leichtes Frösteln. Ein bleicher fremder Mann, den er nicht kennt, von dem er nichts weiß, scheint ihm entgegenzustarren. »Bin ich es, bist du es?« Er faßt sich an die feuchte Stirne, krallt die Hand im Handschuh in die Herzgrube und schließt die Augen, bis das Blut wieder ruhiger durch die Adern fließt und sein Verstand Oberhand über das dunkle Gefühl gewinnt, das emportauchen wollte. Kolo hob den Schlüssel auf, versperrte die Türe hinter sich, drehte den Kronleuchter ab und die Lampe auf dem Nachtkästchen an und begann zu suchen. Im Kleiderkasten, im Schreibtisch, der nicht ihm gehörte, dürfte Geiger schwerlich die große Aktentasche verwahrt haben. Wohl aber hier in dem großen, schweren Lederkoffer, der in einer Fensternische stand. Wo waren aber die Schlüssel zu diesem Koffer? Sicher unter dem Kopfpolster Geigers. Kolo zögerte. Sollte er unter dieses Kissen, auf dem der Erwürgte lag, greifen? Er hatte im Felde Schrecklicheres gesehen und getan und doch – nein – es ließ sich ja vermeiden! Wieder zog Kolo Isbaregg das Nickelwerkzeug aus der Hosentasche, fixierte ein kleines Stemmeisen und schraubte, brach und hob die beiden Schlösser heraus. Nun war der Koffer offen – obenauf lag ein Anzug, dann kam der Pelz, den Geiger, um die Aufbewahrungsgebühr zu sparen, den Sommer über im Koffer hielt – und unter ihm – ja, da lag die schwarze Aktentasche. Ein Ruck und auch sie war offen und es quoll förmlich aus ihr hervor. Ein Banknotenpäckchen und noch eines und wieder eins und noch und noch. Zehn Pakete zu je hundert Tausendkronenscheinen, die Kolo in die Taschen und unter seine Weste schob.
Bevor er das Zimmer verließ, sah er sich sorgfältig um. Nein, es blieb keine Spur hinter ihm, er hatte nicht, wie es in den Detektivgeschichten vorkam, sein Werkzeug oder ein Taschentuch oder einen Manschettenknopf zurückgelassen, nichts als eine gewisse Unordnung, den erbrochenen Koffer, die auf den Teppich geworfene Aktenmappe und – die Leiche! Kolo drehte das Licht ab, horchte wieder angespannt nach außen, sperrte auf, verließ das Zimmer und verschwand lautlos hinter der eigenen Türe. Halb drei – genau eine halbe Stunde hatte alles gedauert.
Und nun wieder leise den Weg in das benachbarte Zimmer des Spaniers. Dort konnte er ausruhen, eine Stunde vor sich hinsinnen, dann die Verwandlung vornehmen. Rasch den schwarzen Knebelbart angepickt, der in dem Handkoffer
verwahrt lag, die Brillen vor die Augen, den Kalabreser auf den Kopf, den Radmantel umgeworfen, nachdem er noch die Stiefel, von denen der eine den Klumpfuß markierte, angezogen hatte. Den Stock mit dem Gummipfropfen in der einen Hand, den Handkoffer in der anderen, verließ nun Diego Alvarez, nachdem er unten den Portier geweckt und sich hatte aufsperren lassen, das Haus, und das milde Frühlicht eines jungen Junitages umfing ihn.
Es war halb fünf, als Kolo Isbaregg in der Verkleidung vor dem schäbigen, das billige Laster verratende Haus in der Apfelgasse erschien. Weit und breit keine Menschenseele, ungesehen konnte er das Haustor aufschließen, unbemerkt sein Absteigequartier erreichen und sich dort wieder zum normalen Menschen wandeln. Rasch hatte er sich umgekleidet, aber nun galt es noch Wichtiges zu erledigen. Mantel, Hut, die orthopädischen Schuhe, der Bart, das Werkzeug, die Brillen und der Pfropfen des Stockes – das alles ließ sich leicht in dem Handkoffer unterbringen. Was aber mit ihm tun? Ihn einfach in dem Zimmer stehen lassen, auf die Gefahr hin, daß die Vermieterin ihn nach einigen Wochen öffnen und den verräterischen Inhalt der Polizei bringen würde? Nein, das ging nicht, dazu waren die Einkäufe vor allzu kurzer Zeit gemacht worden! Ein neues Absteigequartier mieten und dort den Koffer einstellen? Nicht übel, aber doch riskant! Vielleicht würden in der nächsten Zeit die Gäste der Pension Metropolis überwacht werden und man ihm nachspüren, wenn er so ein neues Absteigquartier betrat! Noch eine Idee: Den Koffer nach einem Bahnhof bringen und ihn in Aufbewahrung geben, um ihn natürlich niemals abzuholen. Aber auch das hatte seine Bedenken. Wer weiß, nach wie kurzer Zeit man den nicht abgeholten Koffer öffnen würde? Aber ein anderer, absolut sicherer Ausweg ergab sich und zu ihm entschloß er sich.
Langsam schlenderte Isbaregg gegen den Südbahnhof zu, wo sich schon Ausflügler zu Hunderten eingefunden hatten und reges, geschäftiges Treiben herrschte. Er ließ sich im Bahnhofrestaurant nieder, verzehrte ruhig sein Frühstück, las Zeitungen, bis es sieben Uhr geworden war und das Bahnpostamt die Schalter öffnete. Nun ließ er sich einen Frachtbrief geben, füllte ihn aus und gab den Handkoffer als Postkolli nach Graz, bahnpostlagernd, auf, als Absender einen Johann Merker, Wien, I., Annagasse 4, bezeichnend. So, nun würde dieses Kolli monatelang in Graz umherliegen, dann nach Wien zurückgeschickt, werden, wo man den Herrn Merker natürlich nicht fand, es würde also nach dem Hauptpostamt wandern und wieder ungezählte Monate unter anderem Gerümpel verstauben.
Jetzt nur noch eines: die zehn Pakete mit den Tausendkronenscheinen konnte er natürlich nicht länger mit sich herumtragen. Kolo kaufte in einem Laden einen Bogen Packpapier und eine Schnur, zog sich in den Toiletteraum eines Kaffeehauses zurück und packte die Banknoten, von denen er drei Stück in seine Brieftasche steckte, sorgfältig zusammen. Dieses Paket gab er auf einem anderen Postamt als rekommandierte Sendung an sich selbst, hauptpostlagernd, auf. Dazu schrieb er den Vermerk: »Bitte einen Monat lagern zu lassen!« So – und damit war nach den Gesetzen der Logik und Wahrscheinlichkeit alles vermieden, was auch nur den Schein eines Verdachtes auf ihn lenken konnte.
Es war acht Uhr vorüber, als KoIo die Pension Metropolis wieder betrat. Hätte ihn ein Stubenmädchen oder ein Mitbewohner gesehen, so würde er getan haben, als wenn er eben die Pension hätte verlassen wollen und zurückgekehrt sei, um einen vergessenen Gegenstand zu holen. Aber der Zufall war ihm günstig. Die Vorhalle war leer, niemand hatte ihn kommen gesehen und unbemerkt konnte er sein Zimmer betreten, wo er sich zu Bett legte, um endlich zu schlafen und die müden Glieder auszuruhen.
Es war aber kaum elf Uhr vormittags, als er von gehenden Schreien, lautem Rufen, dem Knallen zugeschlagener Türen und aufgeregten Gesprächen geweckt wurde. »Herr Geiger ist ermordet worden!« Mit diesem Ruf empfingen ihn die Dienstboten, die Pensionäre und Frau Schlüter, als er in halber Bekleidung sein Zimmer verließ, und schon raunte, wisperte, flüsterte es von Mund zu Mund: »Der Spanier, wo ist der Spanier...?«
Darüber, daß nur der ominöse Spanier der Täter sein konnte, war von allem Anfang an in ganz Wien kein Zweifel. Polizei, Presse und Publikum waren ausnahmsweise einig: nur der Spanier kam in Betracht, nur er konnte den alten Mann ermordet haben. Und Jeremias Finkelstein, der findige Lokalreporter der »Wiener Morgenpost«, brachte über die Erhebungen der Polizei und seine eigenen Nachforschungen einen fulminanten, reich illustrierten Artikel, der die ganze Sachlage erschöpfend darlegte. Zunächst schilderte Finkelstejn das vornehme Milieu der Pension Metropolis, flocht rühmende Worte über die tüchtige, gebildete Besitzerin Frau Dr. Schlüter ein – vorher hatte er für sich vom nächsten Herbst ab einen außerordentlich billigen Mittagstischpreis ausbedungen – führte sämtliche Pensionäre, unter ihnen natürlich auch Kolo Isbaregg, namentlich an, vergaß die zwei Köchinnen und die Stubenmädchen nicht zu erwähnen, pries in plastischen Worten die Pracht der Zimmereinrichtungen, wobei er Empire mit Barock heftig verwechselte, um dann mit kühnem Schwung und einer saftigen Wetterbetrachtung auf den verhängnisvollen Junitag überzugehen.
»Der angebliche Spanier hatte frühmorgens, vor fünf Uhr noch, mit seinem Handkoffer das Haus verlassen, angeblich, um auf den Semmering zu fahren. Dem Portier, der ihm das Haustor geöffnet hatte, war an ihm durchaus nichts aufgefallen, es sei denn eine gewisse Hast und Nervosität. In der Nacht war der gute Schlaf der Pension Metropolis in keiner Weise gestört. worden. Weder Schreie noch verdächtige Fußtritte wurden gehört, obwohl sich die in den besten Wiener Gesellschaftskreisen wohlbekannte Malerin Cleo Holthaus eines außerordentlich leichten Schlafes rühmen kann.
Unter den Pensionären befand sich, wie schon erwähnt, Herr Leo Geiger, der frühere Chef des Bankhauses Geiger & Co., ein alleinstehender Herr von 68 Jahren, der mehrere Millionen besitzen soll und seines gediegenen, ruhigen Charakters halber sich großer Beliebtheit erfreute. Er bewohnte das Zimmer Nr. 8, mit der Aussicht auf den Schwarzenbergplatz und hatte sich nach angeregter Unterhaltung im Musiksalon gegen Mitternacht zur Ruhe begeben. Er pflegte sonst gegen acht Uhr aufzustehen und dann um die neunte Stunde herum im Frühstückzimmer zu erscheinen. Als es aber an dem verhängnisvollen gestrigen Tag zehn Uhr geworden war, befahl Frau Dr. Schlüter dem aufwartenden Mädchen, leise an die Türe Geigers zu klopfen. Dies geschah, es erfolgte aber keine Antwort, und so nahm man denn an, daß der alte Herr länger schlafe. Um elf Uhr wurde aber Frau Dr. Schlüter ängstlich und sie klopfte jetzt, vom Stubenmädchen begleitet, selbst energisch und mehrmals hintereinander an. Es kam aber wieder keine Antwort und die Dame drückte nun auf die Türklinke, die zu ihrer Verwunderung, da sie wußte, daß Geiger immer hinter sich abzusperren pflegte, nachgab. Frau Dr. Schlüter betrat das Zimmer und drehte das Licht an, da die Jalousien herabgelassen waren.
Sofort fiel ihr der geöffnete Koffer auf, und da das Bett leer zu sein schien, dachte sie, Herr Geiger wäre, ohne jemanden zu verständigen, fortgefahren. Da stieß das Stubenmädchen einen gellenden Schrei aus. Es war an das Bett getreten, hatte die Decke gelüftet und der Anblick, der sich nun den beiden Frauen bot, war so furchtbar, daß sie beide schreiend aus dem Zimmer stürzten und um Hilfe riefen. Unser großer amerikanischer Heldentenor Mister Williams eilte aus seinem Zimmer herbei; Frau Albari, eine bekannte Wiener Schönheit, trat hinzu, auch das übrige Gesinde schloß sich an. Gemeinsam begaben sich diese Personen nach dem Zimmer Geigers, um endgültig festzustellen: Herr Leo Geiger war tot, aber nicht auf natürliche Weise gestorben, sondern das Opfer eines entsetzlichen Verbrechens geworden. Seine Augen waren aus den Höhlen getreten, die Zunge hing aus dem Munde heraus und das Gesicht des Greises war bläulich gefärbt. Um den Hals aber hing eine grüne Schnur.
Nunmehr hatte Frau Dr. Schlüter sich wieder gefaßt und zeigte eine bewunderungswürdige Haltung. Sie veranlaßte alle Anwesenden, das Zimmer zu verlassen, verschloß es und ersuchte Herrn Kolo Isbaregg, der, vom Lärm geweckt, aufgestanden war, sich auf einen Stuhl vor die Türe zu setzen und bis zum Eintreffen der Polizei niemanden das Totenzimmer betreten zu lassen. Hierauf verständigte sie telephonisch das Polizeikommissariat von dem furchtbaren Geschehnis, das sofort drei Polizisten nach der Pension schickte und seinerseits die Verständigung des Polizeipräsidiums unternahm.
Im Verlauf von wenig mehr als einer Viertelstunde hatte sich der Chef der Sicherheitspolizei, Dr. Zwanziger, mit mehreren Beamten, Detektivs, Schutzleuten und dem Polizeiarzt Dr. Kratochwill eingefunden. Der Arzt konstatierte, daß der Tod des Herrn Geiger vor etwa acht bis neun Stunden eingetreten sei, und zwar infolge gewalttätiger Strangulierung mittelst der noch um den Hals gewundenen Schnur. Die Polizeibeamten aber stellten folgendes fest:
Die zum Morde verwendete Schnur war ein Teil der Jalousieschnur, der im Zimmer des Ermordeten, möglicherweise unmittelbar vor der Tat, vielleicht aber auch schon viel früher, mit einem scharfen Messer abgeschnitten worden war. Der große Lederkoffer in einer Fensternische war durch Herausstemmen der beiden soliden Schlösser geöffnet, sein Inhalt durcheinandergeworfen worden. Eine sehr umfangreiche, schwarze Aktentasche lag geöffnet und leer auf dem, Teppich neben dem Koffer. Uhr, zwei Ringe und eine Krawattennadel, alles von ziemlich bedeutendem Wert, lagen unbeachtet auf dem Nachtkästchen neben dem Bett. Der oder die Mörder hatten es also nicht auf diese Schmucksachen, sondern auf einen Teil des lnhaltes des Koffers, vielleicht der Aktentasche, abgesehen gehabt.
Einer der anwesenden Detektivs, dessen Spezialität die Begutachtung von Schlössern und Schlüsseln ist, machte nach sorgfältiger Untersuchung des Türschlosses folgende Feststellungen:
Das Schloß der Zimmertüre war vom Korridor aus mittelst eines sogenannten Dietrichs geöffnet worden, was nicht schwer fallen konnte, weil Schloß und Schlüssel ganz primitiver Natur sind. Der Täter mußte daher nach vollbrachtem Morde den Schlüssel, der wahrscheinlich beim Aufschließen herausgefallen war, aufgehoben und ins Schloß gesteckt haben, was auf Kaltblütigkeit und Ungestörtheit schließen läßt. Weitere positive Beobachtungen waren vorläufig nicht zu machen.
Sämtliche Pensionäre und die Hausgehilfinnen wurden einem Verhöre unterzogen, das ergebnislos blieb. Sie hatten nichts gesehen und nichts gehört, und um ihre Meinung befragt, erwiderten sie alle, die einen zögernd, die anderen dezidiert:
Der Spanier ...
Natürlich hatte auch Polizeirat Dr. Zwanziger sofort seine volle Aufmerksamkeit diesem mysteriösen spanischen Diplomaten Dr. Diego Alvarez zugewendet und die mit allem Eifer angestellten Recherchen ergaben folgendes:
Im Zimmer des Spaniers befand sich buchstäblich nichts, aber auch gar nichts; kein Wäschestück, kein Papierfetzchen. Er hatte also scheinbar alles in seiner Handtasche für die angesagte Fahrt auf den Semmering mitgenommen. Ein Beamter begab sich nun schleunigst in das spanische Botschafterpalais, wo er bei dem Botschafter persönlich Erkundigung einzog. Das Resultat war das erwartete: Es gab dort keinen Diego Alvarez, man kannte auch niemanden dieses Namens und konnte mit Bestimmtheit versichern, daß sich im Dienste des spanischen Auswärtigen Amtes eine solche Person nicht befindet. Daraufhin wurde telephonisch in sämtlichen Hotels und Pensionen des Semmering mit negativem Resultat angefragt und eine ebenfalls telephonisch herbeigeführte Unterredung mit dem Kondukteur des Frühzuges der Südbahn, der inzwischen in Graz seine Reise beendigt hatte, ergab ebenfalls, daß sich im Zuge niemand befunden hatte, auf den die markante Personsbeschreibung des hinkenden, bebrillten, bärtigen Mannes mit Schlapphut und Radmantel gepaßt hätte.
Es konnte sonach nicht der geringste Zweifel bestehen, daß der Mörder in der Person des hinkenden Fremden zu suchen sei.
Immerhin nahm unsere Polizei mit anerkennenswerter Umsicht die Erhebungen nach einer ganz anderen Richtung auf. Herr Koloman lsbaregg, dessen Heldentaten während des Weltkrieges des öfteren in der ‚Morgenpost rühmende Erwähnung gefunden hatten, erzählte dem Chef der Sicherheitspolizei anläßlich seines Verhöres, daß er vor etwa vierzehn Tagen Zeuge gewesen sei, wie ein junges Mädchen nach einem heftigen Wortwechsel das Zimmer des Herrn Geiger weinend verlassen hatte. Frau Dr. Schlüter habe ihm erzählt, daß dies die Nichte des Ermordeten sei, die sich vergeblich an ihren Onkel um materielle Hilfe gewendet habe. Frau Dr. Schlüter bestätigte dies und fügte hinzu, daß das Mädchen um eine kleine Mitgift zur Gründung eines Hausstandes, da sie sich verheiraten wollte, gebeten habe, aber ziemlich schroff abgewiesen worden sei. Dieses junge Mädchen wurde im Laufe des Nachmittages unschwer zur Stelle gebracht. Es ist dies die einundzwanzigjährige Grete Altmann, ein zartes, hübsches Mädchen mit gewinnenden Manieren. Sie lebt mit ihrer Mutter, der verwitweten Beamtensgattin Anna Altmann, in recht bescheidenen Verhältnissen und gibt Klavierunterricht, da die Pension der Mutter zum Leben nicht ausreicht. Fräulein Altmann war über das schreckliche Ende ihres Onkels ersichtlich erschüttert und gab ohneweiters zu, in tiefstem Groll von ihm geschieden zu sein, nicht so sehr, weil er ihr die erbetene Hilfe abgeschlagen hatte, sondern wegen der zynischen Art und Weise, wie er dies getan. Ihr Bräutigam sei der Arzt Dr. Heinrich Thalmann, der seit einem Monat im Sanatorium Tobelbad eine Stellung als Assistenzarzt bekleide. Eine sofortige telephonische Anfrage in diesem bekannten Sanatorium ergab, daß Dr. Thalmann seit Antritt seiner Stellung die Anstalt noch nie verlassen und in der gestrigen Nacht bei einer schwierigen Unterleibsoperation assistiert habe.
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