Kitabı oku: «Die heimliche Geliebte», sayfa 6
|82|Wiedensahl, den 12 ten December 1854
Um ein Haar wäre ich überführt worden. Ich wollte mir Einlaß verschaffen. Ich mußte es versuchen! Es war schwierig genug, nach Lüthorst zu gelangen, wo dieser Pastor Kleine jetzt lebt, ohne allzu viel Aufsehen zu erregen. Und theuer war es auch, kostete meine letzten ersparten Thaler. Aber ich mußte doch wissen, was Wilhelm dort treibt! Sobald er sich wieder erholt hatte, ist er eilig abgereist. Nichts hält ihn in Wiedensahl; nicht einmal ich. Was macht er, wenn er bei seinem Onkel wohnt? Welcher Umgang ist dieser Pastor Kleine für ihn? Verseucht er ihn mit klerikalen Ideen?
Vor dem Hause verließ mich der Muth. Ich wußte nicht, wie ich es anstellen sollte, hineinzukommen. Heimlich? Unter einem Vorwand? Während ich im Dunkeln noch von einem Fuß auf den anderen trat, kam das Küchenmädchen heraus, um einen Kübel Abfälle auf den Mist zu bringen. Für den letzten meiner Thaler verrieth sie mir, daß Wilhelm schon wieder weiter geflogen ist, wie ein Zugvogel gen Süden. Nach München. In düsterer Stimmung kehrte ich zurück.
Vor wenigen Tagen kam ein Brief von ihm. Er will sich an der Königlichen Akademie der Künste versuchen. Aber seine niederländische Art ist dort nicht sehr gefragt. Sein Talenth zur Karikatur hingegen findet einigen Beifall. Die neuen Freunde, die er im Künstlerverein Jung-München gewonnen hat, bestärken ihn darin. Karikaturen! Das ist nicht das, was ich erhofft habe. Auch sorge ich mich wegen der Frauen. Angeblich nehmen sie nur Mannsbilder auf in ihren Verein, aber was heißt das schon, München ist eine große Stadt, sie werden wissen, wo sie ihre Vergnügungen finden. Ich bin mißtrauisch und eifersüchtig, es ist ein häßliches Gefühl, und ich darf meine Kräfte nicht an derlei Niedrigkeiten verschwenden.
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»Verraten Sie mir, wo Sie waren?« Sandved heftete seinen forschenden Blick auf Leo. »Schlammcatchen?«
Leo stellte fest, was für eine großartige Erfindung Türrahmen waren. Dankbar lehnte sie sich dagegen, bevor sie zusammenklappen konnte.
»Ich verstehe das nicht«, sagte sie. »Es muss ein Irrtum sein. Ein |83|schreckliches Missverständnis. Wer sollte bei mir … Was meinen Sie eigentlich damit? Von wegen, dass Ihnen jemand zuvorgekommen ist?«
Sandved schüttelte den Kopf. »Ich hab zuerst gefragt. Bitte antworten Sie mir.«
»Ich warne Sie«, sagte Leo. »Ich werde auf der Stelle hysterisch, wenn Sie mich nicht aufklären.«
Wang Li lächelte. Die Frau neben ihm schien ebenfalls amüsiert. Sie ließ Leo keinen Moment aus den Augen. Wer war sie überhaupt?
Unwichtig, dachte Leo. Das konnte warten. Sie bemerkte, dass sie ein Stückchen am Türrahmen hinuntergerutscht war und wollte sich wieder aufrichten, aber es ging nicht. Ihr schoss die bizarre Vorstellung durch den Kopf, dass sie von nun wie ein mit zwei gezielten Handkantenschlägen in Form gebrachtes Winkeleisen durch die Gegend schlurfen musste. Es war alles andere als einfach, in zusammengekrümmter Haltung autoritär zu wirken. Man brauchte sich ja bloß diesen Kommissar anschauen: Er nahm sie überhaupt nicht ernst.
Aber Leo blieb starrsinnig. »Also?«
Er seufzte. »Ich meine genau das, was ich gesagt habe: Ihre Wohnung ist durchsucht worden. An der Eingangstür befinden sich keinerlei Spuren von Gewalt. Jemand hat einfach aufgeschlossen, mit einem Originalschlüssel oder einem Dietrich, und sich in aller Ruhe an die Arbeit gemacht. Können Sie feststellen, ob etwas fehlt?«
Leo hob hilflos die Schultern. »So auf den ersten Blick? Keine Ahnung.«
»Okay, dann prüfen Sie das später in Ruhe. Damit wären wir schon bei den großen W-Fragen.«
Sandved zählte an den Fingern ab: »Wer war es? Wer außer Ihnen hat einen Schlüssel? Was hat er gesucht? Wo waren Sie in der Zeit? Etwas in dieser Wohnung hat unseren Unbekannten brennend interessiert. Und wissen Sie was? Mir geht es genauso. Deshalb |84|bedauere ich es sehr, dass er mir zuvorgekommen ist. Noch einen Tag, und ich hätte den Staatsanwalt so weit gehabt, mir einen richterlichen Durchsuchungsbeschluss zu beschaffen.«
Durchsuchungsbeschluss? Leo verstand überhaupt nichts mehr.
»Ist Ihnen nicht gut?«, fragte Paul besorgt. »Sie sind ganz blass.«
Sandved musterte sie. Kühl erwiderte sie seinen Blick. Diesmal wirkte er nicht so, als ob er in seinen Kleidern geschlafen hätte. Er trug einen hellen Zopfpullover zu schwarzen Jeans und eine braune Barbourjacke. Er war sogar rasiert. Aber auch in ausgeruhtem Zustand machte er keinen besonders ausgeglichenen Eindruck. Sie spürte, dass er ihr misstraute.
»Nur damit ich Sie richtig verstehe: Sie wollten wirklich meine Wohnung durchsuchen? Und Sie glauben wahrscheinlich, das hier könnte mit diesem Jablonsky zu tun haben?«
Sandved zuckte die Schultern. »Mit Anton Jablonsky. Mit Ludwig Heller. Oder mit Ihnen.«
Er stand jetzt dicht vor ihr. Leo hätte ihm am liebsten gegen das Schienbein getreten.
»Es ist vielleicht besser, wenn Sie sich setzen«, meldete sich mit ruhiger Stimme die zierliche, weißhaarige Frau neben Wang Li zu Wort, die als Einzige das Zittern in Leos Beinen zu bemerken schien.
»Wir kennen uns noch nicht. Ich bin Ruth Herwig, Ihre Nachbarin von unten. – Kommen Sie, Sie sehen wirklich nicht gut aus.« Sie zog einen Stuhl heran.
Leo machte einen Schritt darauf zu und zuckte vor Schmerz zusammen. Verfluchter Rücken. Sandved griff ungebeten nach ihrem Arm.
»Langsam. – So.« Er musterte sie. »Was ist eigentlich passiert?«
»Bin vom Rad gestürzt«, stieß Leo zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Sie waren mit dem Rad unterwegs?«
»Ich habe einen Ausflug gemacht.«
»So, so. Einen Ausflug. Mit dem Rad. Bei dem Wetter.« |85|Seine Stimme hatte unvermittelt einen warnenden Unterton angenommen: Versuchen Sie nicht, mich für dumm zu verkaufen!
Oh oh oh. Leo, halt die Klappe.
»Ich habe mir die Umgebung angesehen«, sagte sie lahm. »Die, äh, landespflegerischen Maßnahmen. Die Gartenbaubetriebe in der Nähe. Das gehört zu meinem Beruf.«
»Richtig, ich erinnere mich. Sie sind Gärtnerin, nicht wahr?«
»Gartenarchitektin.«
»Interessant. Wo arbeiten Sie?«
»Nirgends. Ich habe zur Zeit keinen Job.«
»Verstehe. Sie haben sich also nach einem neuen Betätigungsfeld umgesehen. Und Sie könnten mir auch ein paar Gartenbaubetriebe nennen, die Sie aufgesucht haben, wenn ich Sie danach fragen würde?«
Aber sicher. Wenn er sie kurz mit dem Branchenbuch allein ließ.
Leo sah zu Boden. Überall auf dem Fußboden lagen Bücher und Papiere verstreut. Nur der Tisch mit Ostermanns Blumenstrauß bildete eine kleine Enklave der Unversehrtheit. Auf einmal war ihr zum Heulen zumute.
Sandved tat, als habe er nicht bemerkt, dass sie ihm die Antwort schuldig geblieben war.
»Waren Sie den ganzen Tag unterwegs?«
Sie nickte.
»Wusste jemand davon?«
»Ich«, meldete sich Paul Ostermann. »Sie haben es mir gestern Abend gesagt, erinnern Sie sich?«, wandte er sich an Leo. Sandveds Augen gingen zwischen ihnen beiden hin und her. Das Misstrauen stand ihm ins Gesicht geschrieben.
»Bin ich jetzt verdächtig?«, fragte Paul mit einem kleinen Lächeln. »Nur mein Hund könnte bezeugen, dass ich den ganzen Tag im Bett gelegen habe. Ich habe die meiste Zeit geschlafen. Mit Ohrstöpseln. Deshalb habe ich wahrscheinlich auch nichts gehört. – Mein Gott, Leo, wenn ich mir vorstelle, Sie wären nach Hause gekommen und hätten den Einbrecher überrascht …«
|86|»War niemand mehr da«, sagte Wang Li ruhig. Leo hatte ganz vergessen, dass er hinter ihr stand. Er trat vor.
»Wollte Sie zum Essen einladen. So dummer Ärger mit Neffe und Auto!« Er verbeugte sich leicht. »Ich sehe Tür offen – und dann ich rufe ›Hilfe, Polizei!‹, und dann kommen Frau Herwig.« Er breitete die Hände aus. »Wir sehen das hier. Aber keine Seele von Mensch.«
»Herr Wang Li hat den Einbruch entdeckt und uns informiert«, erläuterte Sandved.
»Und Sie befassen sich neuerdings mit ordinären Einbrüchen? Stehen Sie dazu nicht ein paar Stufen zu hoch auf der Leiter?«, fragte Leo bissig.
Sandved hielt es nicht für nötig, ihr darauf eine Antwort zu geben. Leo wandte ihre Aufmerksamkeit der älteren Frau zu, die mit ihren akkurat geschnittenen weißen Haaren und der tiefroten Kaschmirstrickjacke sehr gepflegt wirkte.
»Ich kam gerade nach Hause, als Wang Li die Treppe hinunterstürmte und habe hier gewartet, bis die Polizei – bis Herr Sandved kam«, sagte Ruth Herwig und hob ein paar Bücher auf, die vor ihren Füßen lagen. »Ich helfe Ihnen gern beim Aufräumen.«
»Das hat Zeit bis morgen«, wehrte Leo ab.
Ruth Herwig legte die Bücher auf den Tisch. »Wenn Sie möchten, können Sie in meinem Gästezimmer schlafen.«
»Was spricht gegen mein Schlafzimmer?« Leo sah Sandved fragend an.
»Nichts. Ist nur ein bisschen auf den Kopf gestellt. Und Ihr Türschloss ist nicht sicher.«
»Sie meinen, der Täter könnte wiederkommen?«
Er zuckte mit den Schultern. »Möglich.«
Na gut. Sollte er. Wenn es sein musste, würde sie die ganze Nacht mit einer zerschlagenen Flasche oder einem Arsenal von Küchenmessern auf der Lauer liegen.
»Sie scheinen keine Angst zu haben«, stellte Sandved fest. »Kennen Sie den Täter?«
|87|Leo schloss die Augen und atmete tief durch. Nein, sie würde ihn jetzt nicht anschreien.
»Ich habe keine Ahnung, wer hier was gesucht hat, warum glauben Sie mir das nicht?«
»Kommen Sie, Herr Ostermann«, schaltete sich Ruth Herwig ein, »ich glaube, wir sind hier jetzt überflüssig.« Und zu Leo gewandt: »Sagen Sie mir einfach Bescheid, wenn ich etwas für Sie tun kann.«
»Das Gleiche gilt für mich«, verabschiedete sich Paul Ostermann, nachdem er seine Telefonnummer auf ein altes Bonbonpapier gekritzelt hatte.
Danke, danke, vielen Dank. Und jetzt raus. – ALLE.
Leo schloss erschöpft die Augen. Als sie sie wieder aufschlug, war Sandved immer noch da. Auch Wang Li wollte offenbar nicht gehen. Ihr Rücken schmerzte höllisch. Sie wünschte sich inständig, die beiden würden verschwinden. Von unten hörte man Rufus bellen.
»Haben Sie noch Fragen?« Herausfordernd sah sie Sandved an.
»Jede Menge.«
Er war hartnäckig wie eine Zecke. Wang Li räusperte sich.
»Darf ich Vorschlag machen? Junge Dame hier braucht erst etwas zu essen –«
Leo winkte ab. Junge Damen brauchten vor allem Schlaf. Und vorher eine heiße Dusche.
»Doch, doch!«, beharrte Wang Li. »Gute heiße Suppe macht Seele warm. Professor hat das auch gewusst. Hat oft bei mir gegessen, wann nach Hause gekommen von Arbeit mit komische Mann.«
»Mit wem?« Leo und Sandved fragten fast gleichzeitig.
Wang Li verbeugte sich. »Falsch gesagt, bitte um Verzeihung. Wie heißt er? Mann mit komische kleine Bilder?«
»Wilhelm Busch«, sagte Leo. Wang Li nickte.
»Kommen mit? Oder ich lasse Essen bringen.«
Leo wandte sich an Sandved. »Meine Küche ist in Ordnung, sagten Sie vorhin?«
|88|Er nickte. »Ich nehme an, der Täter hat sie sich für zuletzt aufgespart. Er ist über den Balkon geflüchtet. Wahrscheinlich hat Herr Wang Li ihn vertrieben, bevor er Ihre Vorratsschränke durchwühlen konnte.«
»Dann möchte ich gern hier bleiben.« Sie lächelte Wang Li dankbar zu, und der kleine Chinese verschwand.
Sandved war inzwischen zur Balkontür geschlendert und untersuchte das Schloss. Leo ließ ihn stehen und ging ins Badezimmer, um sich etwas Wasser ins Gesicht zu klatschen und ihr Kinn zu verarzten.
Er folgte ihr. »Diese Tür da zum Dachbalkon gefällt mir nicht.«
Sie drehte prustend den Kaltwasserhahn zu und rieb sich vorsichtig das Gesicht trocken. »Was ist daran auszusetzen?«
»Die Feuertreppe, die zu ihr führt. Jeder könnte unbemerkt raufschleichen und im Handumdrehen in Ihrer Wohnung sein. Die Tür lässt sich leicht von außen aufdrücken. Ich hab es gerade probiert. Der Einbrecher hätte es gar nicht nötig gehabt, von vorn zu kommen. Vielleicht hat er das bei seiner Flucht bemerkt. Er könnte einen zweiten Versuch starten.«
Leo wühlte im Arzneischrank nach Jod und Pflaster.
»Es gibt eine Eisenjalousie.«
Er schnaubte. »Wer Türschlösser knackt, schafft auch das Ding. Es dürfte Ihnen kaum etwas nützen.«
»Sie beruhigt mich.«
»Das sehe ich.« Er warf einen vielsagenden Blick auf ihre zitternden Finger und griff nach dem Wattebausch, den sie gerade mit Jod beträufelt hatte.
»Das kann ich selbst!«, fauchte sie ihn an.
»Davon bin ich überzeugt. Aber meine Hände sind im Moment ruhiger. Setzen Sie sich auf die Badewanne.«
Konzentriert tupfte er an ihrem Kinn herum. Leo verschränkte ihre zitternden Hände im Schoß. Herrgott, war sie müde. Und der Rücken schmerzte mörderisch. Sie wollte nicht mehr nachdenken. Sie wollte auch nichts essen. Es gefiel ihr ganz gut, einfach so dazusitzen, |89|Sandveds Rasierwasser zu riechen und die Wärme zu spüren, die von seinem Pullover aufstieg. Von ihr aus konnte er nicht nur ihr Kinn, sondern gleich das ganze Gesicht mit hübschen kleinen Pflasterstreifen bekleben.
Noch dringender regte sich allerdings der Wunsch, ihre Blase zu entleeren.
»Fertig.« Sandved trat einen Schritt zurück. Leo öffnete die Augen.
»Danke.«
Er legte das Verbandszeug weg und sah sie prüfend an. »Wegen Ihres Rückens sollten Sie vielleicht zum Arzt.«
Sie nickte müde und blieb sitzen. Worauf wartete er noch? Dass sie hier eine kleine Party feierten?
»Würden Sie bitte …?«
Er verstand nicht.
»Ich muss mal«, erklärte sie würdevoll.
Sandved zuckte zusammen und entfernte sich eilig. Leo schloss die Tür hinter ihm und sah auf ihre Hände. Sie zitterten immer noch.
Jemand klingelte.
Als sie aus dem Bad kam, war Sandved gerade dabei, zusammen mit einer jungen Chinesin zahllose Schüsseln und Schälchen von einem Tablett auf den Küchentisch zu verteilen. Das musste Wang Lis Schwiegertochter sein. Oder nannte man das Schwiegernichte? Sie war eine stämmige kleine Frau mit einem runden Gesicht. Kinnlange schwarze Haare umrahmten rosige Wangen; Ponyfransen verdeckten die Stirn. Sie schenkte Leo ein freundliches Lächeln.
»Was für ein Chaos! Was für ein Schreck!«, sagte sie mitfühlend und gab Leo die Hand. »Ich bin Su Jing. – Ich habe übrigens Ihr Gepäck mit hochgebracht.«
Sandved ging wortlos vor die Wohnungstür und stellte die Gepäcktaschen bei der Garderobe ab.
Su Jing deutete auf den Tisch. »Ich hoffe, es wird Ihnen schmecken. |90|Es ist ganz heiß. Essen muss heiß sein, um die Seele zu wärmen.«
Die Ernsthaftigkeit, mit der sie das sagte, entlockte Leo ein Lächeln. »Das meinte Ihr Onkel vorhin auch. Wirklich nett von ihm, uns zum Essen einzuladen.«
Su Jing nickte mit Nachdruck. »Er ist ein freundlicher Mensch.«
»Sie sprechen gut Deutsch«, mischte sich Sandved ein.
»Ich studiere hier.« Su Jing rückte die Schüsseln zurecht. »Elektrotechnik. Das heißt, im Augenblick nicht, wegen des Babys. Ich komme nicht zum Lernen, weil der Kleine dauernd schreit. Immer wird er wach von diesem schrecklichen Hund.«
Leo fiel das weinende Baby ein, das sie am Morgen gehört hatte. Rufus hatte gebellt, obwohl sie auf Zehenspitzen an der Tür vorbeigeschlichen war. Dämlicher Köter.
Su Jing schüttelte den Kopf. »Keine ruhige Minute heute. Er bellt frühmorgens, er bellt mittags, er bellt abends. Herr Ostermann hat ihn aus dem Tierheim geholt. Man kann ihn wohl nicht mehr erziehen. Was soll man da machen! Aber genug geredet. Essen Sie, bevor es kalt wird. Und sagen Sie bitte Bescheid, wenn Sie noch etwas möchten.« Sie nahm das Tablett und ging.
Sandved zog sich einen Hocker an den Tisch und schnupperte genießerisch. Leo ließ sich vorsichtig auf einem Stuhl nieder. Erst jetzt bemerkte sie, wie hungrig sie war. Sandved schob ihr den Reis zu und untersuchte den Inhalt der anderen Schüsseln. Es war ein wenig seltsam, mit ihm hier am Tisch zu sitzen, als wären sie alte Freunde.
Aber statt nett über das Wetter zu plaudern oder irgendetwas Erfreuliches zu sagen, fing er wieder von vorne an.
»Sie haben also wirklich keine Ahnung, wer in Ihre Wohnung eingedrungen ist? Und was er gesucht hat?«
Vielleicht sollte sie ihm etwas Sojasauce in die Ohren spritzen, zur Reinigung der Gehörgänge.
»Wie oft denn noch? NEIN!«
»Sie finden es nicht merkwürdig, dass Wang Li dieses opulente |91|Essen hier spendiert? Für mich sieht das sehr nach schlechtem Gewissen aus.«
»Das hat er ja auch. Wegen seines Neffen, hat er selbst gesagt, Sie haben es gehört.«
»Was ist das für eine Geschichte mit dem Neffen und dem Auto?«
Leo berichtete ihm die Episode mit der Linde. Sandved lachte schallend.
»Im Ernst? Sie haben einen Kleinkrieg wegen eines Baumes angezettelt?«
»Nicht wegen irgendeines Baumes«, sagte sie mühsam beherrscht. »Wegen einer Linde. Wissen Sie überhaupt, wie selten die heute sind? Sie steht vor diesem Haus und ich fühle mich für sie verantwortlich.«
Sandved lächelte nachsichtig und griff nach den Holzstäbchen, die Su Jing mitgebracht hatte. Leo verfolgte jede seiner Bewegungen. Wenn dieser arrogante Kerl auch noch in der Lage war, mit Stäbchen zu essen, würde sie schreien. Sie wusste genau, was er jetzt dachte. Sie ist eine Frau, sie ist emotional, sie kriegt einen verklärten Blick, wenn sie Natur! Blumen! Schmetterlinge! ruft. In gewisser Weise nicht zurechnungsfähig.
»Sind Sie deshalb Gartenarchitektin geworden? Um gegen Straßenbaumquäler zu Felde zu ziehen?«
Er versuchte mit seinen Stäbchen eine kleine Garnele zu fassen. Leo beobachtete mit Genugtuung, dass sie sich heimtückisch widersetzte.
»Nein. Ich liebe es, Landschaften zu gestalten. Knochenarbeit macht mir Spaß. Und ich wühle für mein Leben gern im Dreck.«
Jetzt hatte er es fast geschafft, öffnete den Mund und – die Garnele glitschte weg. Sandved sah verdrossen auf seine Stäbchen.
»Und warum sind Sie Polizist geworden?« Leo schob ihm einen Löffel hin.
»Für Tiermedizin reichte mein Notendurchschnitt nicht, in der Paläontologie sind alle wichtigen Entdeckungen schon gemacht, |92|für einen Profi-Basketballer bin ich zwar groß genug, aber nicht ausreichend talentiert, und als Deutschlehrer hätte ich mich ständig mit aufsässigen Schülern herumärgern müssen.«
»Das schränkt die Möglichkeiten natürlich mächtig ein.«
Wang Li hatte sogar an heißen Sake gedacht. Leo trank einen Schluck von dem Reisschnaps und fühlte, wie er ihr Inneres wärmte.
»Sie suchen also einen Job«, fing Sandved wieder an.
»Dringend. – Geben Sie mir bitte mal die Erdnusssauce?– Danke.«
»Ihr Onkel hat Ihnen aber doch sicher ein finanzielles Polster hinterlassen.«
»Nur die Wohnung.« Die Dreitausendachthundert gingen ihn nichts an. Sie selbst behandelte das Geld, als wäre es nicht vorhanden. Es war ihre eiserne Reserve. Irgendwann, das hatte sie fest beschlossen, würde sie sich ein Flugticket nach New York kaufen und das Geld bis zum letzten Cent ausgeben.
Er runzelte verwundert die Stirn und häufte sich frittierten Blumenkohl auf den Teller. »Gibt es denn noch andere Erben?«
Leo schüttelte den Kopf.
»Aber, entschuldigen Sie …«
Oh, was für ein Feingefühl. Ich entschuldige gar nichts, dachte Leo. Iss auf und geh.
»Wo ist dann das ganze Geld geblieben? Ludwig Heller war schließlich Professor und sicherlich nicht gerade mittellos.«
»Er hat das Pflegeheim bezahlt, in dem meine Mutter lebte. Seine Schwester. Und zwar jahrelang. Ich hätte das allein nicht geschafft.«
Sandved kaute nachdenklich. »Vielleicht hat Ihr Onkel deshalb Geschäfte mit Jablonsky gemacht. Um die Kasse wieder aufzufüllen.«
Leo knallte das leere Sakeschälchen auf den Tisch, dass die Schüsseln hochsprangen. Sandved warf ihr einen überraschten Blick zu.
|93|»Sie sind wirklich das Allerletzte!«, stieß sie hervor.
Er legte den Löffel ab und hob die Hände.
»Okay. Okay! – Beruhigen Sie sich. Das ist nur eine Vermutung. Es gehört zu meinem Job, Mutmaßungen anzustellen und sie zu überprüfen.«
Leo atmete tief durch. Das wirklich Gemeine war, dass sich ihr dieser Gedanke auch schon aufgedrängt hatte. Aber sie wollte es nicht glauben.
»Weshalb waren Sie überhaupt hinter Jablonsky her?«, fragte sie ihn. »Eigentlich geht es doch gar nicht um meinen Onkel.«
»Das kann ich Ihnen zum gegenwärtigen Zeitpunkt leider nicht sagen.«
»Sie bluffen. Sie haben gar nichts in der Hand.«
»Liebe Frau Heller, es gibt in Deutschland nur eine Handvoll Fachkommissariate, die sich mit Kunst und Antiquitäten befassen. Zu einem davon gehöre ich. Der Markt boomt. Wir sind unterbesetzt. Wir haben alle Hände voll zu tun. Ihre Gesellschaft und dies köstliche Essen in allen Ehren, aber glauben Sie wirklich, ich schlage mir aus lauter Langeweile den Abend hier um die Ohren?«
Nein, dachte Leo unbehaglich. Sicher nicht. Trotzdem war sie nicht bereit, klein beizugeben.
»Wenn Jablonsky wirklich so ein übler Geselle war, warum haben Sie ihn nicht längst aus dem Verkehr gezogen? Ich werde Ihnen sagen, warum. Weil Sie nichts als einen vagen Verdacht haben. Keine Beweise. Dieser Typ hat bestimmt einen Haufen Geschäfte gemacht, die können doch nicht alle illegal gewesen sein!«
»Abgesehen von seiner mangelnden Scheu im Umgang mit Fälschungen war Jablonsky in der Tat ein kompetenter Fachmann und anerkannter Händler.«
»Na sehen Sie. Und für den hat mein Onkel vielleicht gelegentlich mal gearbeitet.«
Sandved wischte sich mit einer Papierserviette den Mund ab und schenkte sich Sake ein.
|94|»Gehen wir doch einfach mal der Reihe nach durch, was wir wissen, angefangen beim gestrigen Tag. Nein, besser beim Tag davor. Da haben Sie den zwielichtigen Kunsthändler Anton Jablonsky tot auf Ihrer Türschwelle gefunden. Leider drängeln sich die Leichen im Moment nur so in der Gerichtsmedizin, es wird ein wenig länger dauern, bis wir wissen, ob wir es mit einem natürlichen Tod zu tun haben. Aber das können wir vorerst beiseite lassen. Wichtiger ist: Wenn Sie, wie Sie sagen, den Toten nicht kannten, dann wollte er wohl zu Ihrem Onkel. Aber warum?«
Leo kämpfte einen Moment lang mit sich. Sollte sie ihm von der Nachricht erzählen? Nein. Die Sache war sowieso schon gelaufen. Sie hörte schweigend weiter zu.
»Zwei Tage später bricht jemand in Ihre Wohnung ein. Angenommen, Ihr Onkel besaß etwas, das Jablonsky gehörte oder ihn so brennend interessierte, dass er es unbedingt haben wollte. Doch Jablonsky ist tot. Vielleicht hat nun jemand anderes die Geschäfte übernommen. Jemand, mit dem Jablonsky zusammenarbeitete. Das überprüfen wir gerade. Aber die Branche ist schweigsam, das braucht seine Zeit.«
Sandved kratzte den letzten Reis von seinem Teller und beförderte ihn mit einer großzügigen Haube aus Erdnusssauce in den Mund.
»Und wenn dieser Jemand nur glaubt, dass hier etwas ist?«, wandte Leo ein.
Sandved drehte nachdenklich das Sakeschälchen zwischen seinen Fingern. »Dann muss er zumindest einen Grund zu dieser Annahme haben.«
Er goss sich nach. »Sie auch?«
Leo schüttelte den Kopf. Wie aus dem Nichts war plötzlich ein Gedanke aufgetaucht, der ihr die Kehle abschnürte. Ein Gedanke, den sie in aller Stille und für sich allein drehen und wenden wollte, bevor sie ihn aussprach. Vielleicht, dachte sie, vielleicht sollten wir unsere Rückschau nicht mit Jablonsky beginnen, sondern mit Onkel Ludwigs Tod.
|95|Der Rabe auf dem Badezimmersims. Ludwigs Versuch, Hans wieder einzufangen. Auf der Terrassenbrüstung ausgerutscht, hieß es. Aber selbst Leo konnte mühelos den Sims erreichen, ohne auf die Brüstung zu steigen. Und ihr Nachbar war der Letzte, der an jenem Abend bei Ludwig Heller gewesen war. Ihr war klar, was es bedeuten würde, Sandved davon zu erzählen. Es hieß, den freundlichen Paul Ostermann mit einem furchtbaren Verdacht zu belasten.
Sie schwieg.
Sandved schob seinen Teller beiseite und stützte sich auf den Tisch. »Lassen wir nun die Außenwelt beiseite und konzentrieren wir uns auf das Haus.«
»Haufenweise Verdächtige«, sagte Leo. »Und mittendrin ich, die abgefeimte Drahtzieherin eines Kunstbetrugs, vielleicht sogar eines Mordes.«
»Übersteigt es eigentlich Ihre Vorstellungskraft, dass ich versuchen könnte, Ihnen zu helfen?«
»Ja.«
Sandveds Augenbrauen zuckten. »Wenn hier wirklich jemand hinter einem Kunstwerk her ist, schweben Sie womöglich in Gefahr. Kunstfälscher und ihre Händler sind keine Schöngeister, sondern äußerst skrupellos. Wir können uns das Leben etwas leichter machen, indem wir die nicht infrage kommenden Personen aussortieren. Erdgeschoss und erster Stock: Da haben wir Wang Li und seine umfangreiche Familie, insbesondere einen Neffen, den Sie bereits in Ihr Herz geschlossen haben. – Einverstanden, war nicht komisch«, sagte er, als er ihre Miene sah.
»Aber wenn es nach Ihnen geht, ist er zumindest ein Verdächtiger«, fuhr Sandved fort. »Er fühlt sich von Ihnen wegen Ihrer Vorhaltungen wegen der Linde beleidigt und beschließt, Ihnen einen Denkzettel zu erteilen. Er wartet ab, bis Sie einmal fort sind, ergreift die günstige Gelegenheit und verwüstet Ihre Wohnung, allerdings ohne ernsthaft etwas zu zerstören. Er will Ihnen bloß Angst einjagen. Wang Li entdeckt die Tat und bietet durch die Blume diese |96|Entschuldigung an.« Sandved deutete auf die ausgekratzten Schüsseln.
»Klingt doch plausibel«, sagte Leo.
»Hat nur einen Haken. Würde der Täter nicht wollen, dass Sie eindeutig wissen, mit wem Sie es zu tun haben? Damit Sie die Botschaft auch richtig verstehen, müsste er ein Zeichen zurücklassen. Hat er aber nicht. Oder haben Sie etwas entdeckt? Eine geheime Warnung, die mir entgangen ist?«
Leo schüttelte den Kopf.
»Su Jings Ehemann lassen wir also vorerst außer Acht, ebenso Wang Li, auch wenn er nach eigener Aussage als Erster am Tatort war«, sagte Sandved.
»Vielleicht jemand anderes aus der Familie?«, schlug Leo halbherzig vor.
Er schüttelte den Kopf. »Da unten wohnen zwar eine ganze Menge Personen, und ich bin sicher, dass die nicht alle hier gemeldet sind. Das will ich im Moment auch gar nicht so genau wissen. Aber trotzdem: Ich glaube nicht, dass Wang Li oder seine Familie etwas damit zu tun haben. Hundertprozentig ausschließen können wir natürlich gar nichts. Aber ich halte es einfach für unwahrscheinlich. Nennen Sie es Instinkt.«
Leo wusste nicht, ob sie sich lieber mit seinem Instinkt oder seinen Vorurteilen herumschlagen wollte, also schwieg sie.
»Zweiter Stock«, machte Sandved weiter. »Links Herr Ostermann und rechts die ältere Dame.« Er zog ein kleines Notizbuch aus der Hosentasche und warf einen Blick darauf.
»Ruth Herwig. Sie war mit Ihrem Onkel gut bekannt, wie sie mir erzählt hat. Hätte sie ein Motiv, hier einzubrechen? – Das wissen wir nicht«, beantwortete er seine Frage selbst. »Aber Wang Li und Su Jing bestätigen ihre Aussage, dass sie gerade erst nach Haus kam, als die Tat entdeckt wurde. – Dann Paul Ostermann. Er stieß zu uns, als wir den Schaden begutachteten. Offenkundig ist er schwer erkältet. Es ist durchaus glaubhaft, dass er den Tag im Bett verbracht und nichts Verdächtiges bemerkt hat.«
|97|Es klang alles so furchtbar einleuchtend, was Sandved sagte. Aber es stimmte nicht. An irgendeinem Punkt passte etwas nicht zusammen; Leo konnte bloß nicht herausfinden, wo. – Su Jing. Etwas, das Su Jing gesagt hatte. Oder Wang Li? – Himmel und Hölle, wenn sie nur nicht so müde gewesen wäre! Ihr Kopf fühlte sich an wie mit pappigem Laub gefüllt, ungefähr wie das Zeug in dem Graben, in den sie gestürzt war. Sie musste nachdenken, sie musste sich bloß konzentrieren, dann würde sie den Fehler finden.
»Sie sehen aus, als würden Sie gleich vom Stuhl fallen. Vielleicht sollten wir für heute Schluss machen.« Sandved musterte sie kritisch. »Sie gehören ins Bett.«
Oh ja. Schlafen. Alles vergessen. Wunderbare Vorstellung.
»Hallo! – Hören Sie mir überhaupt noch zu?« Er kniff die Augen zusammen. »Wo sind Sie gerade?«
»In der Horizontalen.« Nie lügen, wenn es nicht unbedingt sein muss, dachte sie.
Sandved schüttelte den Kopf, ohne sie aus den Augen zu lassen.
»Warum habe ich das Gefühl, dass Sie mir ständig etwas verheimlichen?«
»Weiß ich auch nicht. Vielleicht eine leichte Form von Paranoia. – Wie wär’s mit einem Glückskeks zum Abschied?«, sagte sie hastig.
Sie pulten ihre Kekse auf und zogen die Zettel heraus.
»Es ist unklug, die Schlange gering zu achten, nur weil sie keine Hörner hat«, las sie laut. »Tsss. – Und was steht bei Ihnen?«
»Unnötige Risiken verkürzen das Leben. Handle klug!«
Sandved stand auf und ging zum Fenster. Der Schneeregen hatte noch nicht nachgelassen. Matschige Flocken fielen auf Hausdächer, Autos, Fußweg und Straße und lösten sich sofort in glänzende Nässe auf.
»Na dann. Vielleicht sollte ich auf meinen Glückskeks hören und lieber zu Fuß gehen.« Er warf einen Blick auf die leeren Sakekrüge.
Leo erhob sich geschmeidig wie eine arthritische Neunzigjährige und schlurfte zu ihm.
|98|»Ist das Ihr Wagen da unten?«
»Der akkurat zwei Millimeter von der Linde entfernt steht«, betonte er. »Ja, das ist meiner.«
»Ist es Ihnen nicht peinlich, mit so was herumzufahren?«
»In dem Milieu, in dem ich mich zurzeit bewege, gehört das zum guten Ton. Die Farbe ist vielleicht ein bisschen ungewöhnlich.«
»Hmm. Sieht aus wie ein Cremetörtchen.«
»Ich habe schon einen Neuen beantragt. Vielleicht klappt das sogar noch in diesem Jahr. Dieser Schlitten hier hat allerdings den Vorteil, dass niemand einen Kommissar darin vermutet.«
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