Kitabı oku: «Der letzte Stein», sayfa 2
Das Mosaik
Dora war sieben,
als sie das Mosaik entdeckte.
Die Stunde der Kostbarkeiten, in denen die Großmutter beim monatlichen Besuch im Nebenzimmer Erfundenes erzählte, war wieder einmal fast zu Ende. Opa unterhielt sich inzwischen gut mit Mama, Papa und Terese.
Dora aber hatte seit kurzem das Gefühl, den glitzernden Geschichten eigentlich entwachsen zu sein, aber sie sagte nichts. Sie war nur nicht ganz bei der Sache.
Da meinte die Großmutter, sie hätte noch etwas für Dora. Auf dem Dachboden hätte sie es gefunden.
„Und was?“
„Ach, es ist nur eine Schachtel“, Oma lächelte verschmitzt.
„Und was ist drinnen in der Schachtel?“
Oma machte es spannend. Sie stieg mit Dora die Stufen zum Dachboden hinauf, wo ihnen stickige Luft aus dunklen Ecken entgegenkam.
„Hier ist es, mein Kind. Wir tragen es hinunter.“
Sie nahm die Schachtel, stützte sich ein wenig auf Doras Schultern und stieg ab Richtung Familie.
Auf dem großen Tisch im Nebenzimmer öffnete Dora die Schachtel. Staub und der Geruch nach vergilbten Büchern und alten Kellern gelangten in ihre Nase. Trotzdem blieb ihr Blick am Inhalt der Schachtel haften.
„Was ist das, Oma?“
„Schau es dir genauer an. Es sind kleine Mosaiksteine aus der Zeit vor dem ersten großen Krieg, von meinen Großeltern.“
„Aber woraus sind diese kleinen Steine gemacht? Sie sind rau und leicht.“
„Aus Sandstein, denke ich.“
Ab diesem Sonntag verzichtete Dora bei jedem Oma-Besuch auf das Geschichtenerzählen. Sie saß über den Steinen und bewunderte deren dumpfe, verblasste Farben und raue Oberflächen. Rostrot, Graugrün, verwaschenes Blau und mattes Beige gab es da. Die Großmutter gab ihr ein altes, kleines Heftchen, dessen einzelne vergilbte Blätter fast zerfielen. In diesem Heft waren Anleitungen zum Setzen der Steine und Beispiele für Bilder, die man mit ihnen legen konnte. Eine Vorlage also. Dora konnte noch nicht sehr gut lesen, aber das machte nichts. Die Bilder in diesem kleinen Heft waren ohnehin das Wichtigste.
Bei den kommenden Besuchen fischte Dora sich jeweils eines der Bilder heraus und legte die mattfarbigen Steine nach dieser Vorlage. Es waren meist symmetrische Figuren, die da entstehen sollten. Sechsecke wie Schneeflocken oder Bienenwaben. Oder auch Achtecke wie im Stammbuch ihrer Freundin. Dora fiel ihr Kaleidoskop daheim ein. Man musste die kleine Röhre vors Auge halten und drehen, dann entstanden ähnliche Bilder, wie die bei ihren Mosaikvorlagen.
Sie perfektionierte dieses Nachbauen aus den alten Heften. Bis sie es sich anders überlegte.
Sie beschloss, neue Steinbilder ohne Vorlagen zu legen. Und so kam es, dass sie die Bilder von jenen Palästen aus ihrem Kopf holte, von denen Oma ihr so oft erzählt hatte. Nach diesen Vorstelllungen formte sie Abbilder aus mindestens dreihundert Einzelsteinen. Das Gold der Paläste und die Haare der Prinzen legte sie aus den fahlbeigen Steinen, für die Kleider der Prinzessinnen die ziegelroten, für die exotischen Blumen und Sträucher die grünen, für den Himmel und die Seen die verwaschenen blauen.
Terese interessierte sich nicht für die Tätigkeit ihrer kleinen Schwester während der Familienbesuche, was Dora gerade recht war.
Es gab nur eine Situation, die sie ärgerte. Wenn fast alle Mosaiksteinchen ausgelegt waren, nur mehr der obere Abschluss des selbst ausgedachten Bildes fehlte, dann kam es vor, dass genau ein Stein fehlte, um das Bild zu vollenden. Dieser letzte Stein machte Dora öfter Kopfzerbrechen, doch mit der Zeit entstand diese Lücke immer seltener. Sie bekam Übung. Trotzdem passierte es manchmal.
Nach einem halben Jahr meinte Oma, Dora solle sich das Spiel mit nach Hause nehmen. Das tat sie.
Etwas Seltsames geschah. Seitdem sie die fahlbunten Mosaiksteine daheim hatte, rührte sie sie nicht mehr an. Entweder war es so, dass Dora langsam erwachsen wurde, oder die Schachtel samt Inhalt gehörte einfach zu Oma und ihrem alten verwunschenen Haus.
Dora verstaute alles im elterlichen Keller und wusste, dass das Spiel noch lange nicht zu Ende war.
Sie musste an den letzten Stein denken, der immer wieder einmal fehlte.
Der Film
Dora war sieben,
als sie zum Film kam.
‚Endlich einmal mit Papa was Besonderes erleben!‘ Dora zertrümmerte vor Freude eine Fensterscheibe. Niemand schimpfte.
Es war ein kühler Samstagnachmittag im September, als ihre Schwester und sie mit hinaus zu den Rosenhügelstudios fahren durften. Papa arbeitete nämlich ‚beim Film‘. Doras Schwester, die älter und gescheiter war, protzte mit dem Wissen, dass Papa Filmtonmeister war. Darunter konnte sich Dora nichts vorstellen. Ton, den kannte sie nur aus der Schule, wenn sie Tierfiguren und kleine Vasen aus Ton zu formen versuchten. Film, da wusste sie Bescheid. Sie hatte vor einiger Zeit eine Kindervorstellung besucht, ‚Bergkristall‘. Stellenweise war die Sache sehr traurig gewesen, und Dora hatte insgeheim gedacht, so ein Film sei nichts für Kinder. Sie war schockiert, zeigte das aber nicht.
Die Zusammensetzung der Worte ‚Film‘ und ‚Ton‘ hatte Dora noch nie gehört. Dass Papa ‚Filmtonmeister‘ war, nahm sie einfach zur Kenntnis, obwohl sie ganz genau wusste, dass ihr Vater doch eigentlich Automechaniker war. Schließlich lag er oft, meist am Wochenende, unter dem Familienauto und reparierte Unsichtbares. Also Automechaniker. Filmtonmeister, das musste sein Hobby sein.
An diesem Nachmittag fuhren sie also zu dritt mit dem Auto zu den Filmstudios. Dora, ihre Schwester Terese und ihr Vater. Was Dora vom familieneigenen Auto hielt, wusste sie selbst nicht so genau. Der umgebaute, ehemalige Wehrmachtswagen erregte oft die Aufmerksamkeit der Leute auf den Straßen. Hellgrünes Wellblech, das Reserverad vorne schräg aufgepackt, hölzerne Türen, ein Cabrio mit grauem Stoffdach. Auf alten Fotos aus dem Krieg hatte sie solche Autos gesehen. Sie wusste nichts anzufangen damit. ‚Aus dem Krieg? Welchem Krieg?‘ Manchmal schämte Dora sich wegen dieses auffallenden Gefährts, aber meist war sie stolz darauf, dass ihr Vater so ein ungewöhnliches Auto aus dem Krieg gerettet hatte – was immer das hieß.
Sie fuhren also zum Rosenhügel.
Drinnen in einer großen Halle waren Leute mit Kabeln, Scheinwerfern und sonstigem Undurchschaubaren beschäftigt. Auf einer Seite der Halle war ein altes Taxi auf einem Podest aufgebaut, mit dem ‚Gesicht‘ zum Publikum. Die Vorderfront des Wagens war abmontiert, wie weggerissen. Dora war erschüttert, dass man ein Auto so entzweigeschnitten hatte. Es war ein unangenehmer Anblick. In der hinteren Front des Wagens war ein Fenster eingelassen. Dora wusste nicht so recht, wozu das alles dienen sollte. Dass hier ein Film in Arbeit war, das hatte ihr Vater schon gesagt, aber mehr nicht.
Dann kamen die Schauspieler. Ein Mann, eine Frau, sonst niemand, und sie waren gekleidet wie in Doras Märchenbuch. Die Dame in einem langen, hellen, glitzernden Kleid, gespickt mit Edelsteinen. Dora war sich sicher, dass dieses Kleid unendlich kostbar war. Ein ausladender, weißer Hut und eine goldene Federboa ergänzten das Bild einer reichen Lady.
Der Herr, der neben der Dame die Szene betrat, trug einen Stresemann und einen Zylinder. Dass es sich um einen Stresemann handelte, wusste Dora. So ein Kleidungsstück hatte ihr die Lehrerin auf einem Bild gezeigt.
Die zwei Schauspieler setzten sich auf die hintere Sitzbank des zerrissenen Taxis, sahen nach vorne zum Kameramann und zu den nicht vorhandenen Zuschauern. Die Lady und der Herr lächelten und begannen zu reden. Das alles auf Befehl eines Mannes, der auf einem Klappstuhl saß, den Schauspielern zusah und in diesem ganzen Geschehen sehr wichtig war, das war Dora klar. Nach den Worten ‚Uuuund bitte‘ unterhielten sich die Lady und der Herr angeregt. Hinter dem Rückfenster waren bewegte Straßenbilder, Bäume, andere Autos zu sehen. Doras Vater erklärte mit einem gewissen Stolz:
„Diese Bilder werden auf die Rückwand hinter dem Taxi projiziert, so dass der Zuschauer glaubt, die beiden fahren durch Straßen und Alleen. Verstehst du, Dora?“
Dora verstand nicht, bejahte aber eilig. Was ‚projiziert‘ bedeutete, wusste sie nicht, aber es musste eine Art Zauber sein. Unglaublicher Zauber. Zu der phantastischen Szene kam zu guter Letzt noch dazu, dass das Taxi, oder was von ihm übrig war, durch eine geheime, unsichtbare Maschinerie bewegt und gerüttelt wurde.
Vater deutete auf den Mann mit einer Art Fotoapparat vor dem Gesicht, der vor der Szene stand.
„Siehst du, der Kameramann fängt die Bilder ein, bannt sie auf Zelluloid, und daraus wird dann ein Film, den alle Leute in den Kinos sehen können.“
Was Dora sich nicht vorstellen konnte, war, wie die Bilder in die Kinos gelangen sollten. ‚Flogen sie durch die Luft? Wurden sie in Koffern hingetragen?‘ Es war ein Rätsel, aber sie getraute sich nicht zu fragen.
Irgendein Zauber musste hinter der ganzen Sache stecken und Dora war begeistert, dass ihr Vater in diese Abläufe eingebunden war. In diesem Moment bewunderte sie ihn.
Dora war nun überzeugt, dass Filme herstellen eine unglaublich wunderbare Sache sei. Sie schwieg, schaute zu, vergaß zu reden. Wollte, dass niemals aufhörte, was sie sah.
Daheim sagte ihr Vater:
„Jetzt habt ihr einmal hinter die Kulissen geschaut. Jetzt wisst ihr, wie viel Arbeit es ist, einen Film zu drehen.“
Dora wusste nicht, wieso es ‚drehen‘ hieß, aber das war ihr egal. Ihre Wangen glühten, ihre Augen funkelten, als sie ihrem Vater verriet:
„Ich will einmal zum Film!“
„Sag das ja nicht deiner Mutter“, war seine warnende Antwort.
Also beschloss Dora, zunächst einmal die Schule zu beenden und dann Filmschauspielerin zu werden. Das sagte sie aber nicht Mutti und auch sonst niemandem. Sie würde eines Tages auch auf diesem Rosenhügel vor der Kamera sitzen, stehen, tanzen, lachen. Ein prächtiges Kleid würde sie tragen, aus Brokat, aus Seide, mit Goldschmuck. Und ein unsichtbarer Geist würde die Bilder hoch über der Stadt in die Kinos wehen.
In der Nacht träumte sie, sie selbst wäre die edelsteinbesetzte Lady, die sie heute gesehen hatte. Ihre Schwester musste als der sie begleitende Gentleman herhalten. Zumindest im Traum.
Die Russen
Dora war acht,
als die Russen abzogen.
Vor ein, zwei Jahren war sie sich noch sicher gewesen. Die Russen, das waren in Salzwasser eingelegte Heringe mit viel Zwiebeln. Bis sie erfahren hatte, dass es Männer aus dem Osten waren, die das Land besetzten. Wenn sie das tun, die Russen, dann darf sich kein anderer dorthin setzen. Also gut, es waren Männer aus dem Osten, meist in grauen Uniformen.
Als fünf- oder sechsjährige hatte sie gedacht, dass ihre um vier Jahre ältere Schwester etwas Besonderes sein musste, denn die russischen Besatzungssoldaten lächelten das blondzopfige Mädel wohlwollend an. Es war besser für Dora, die statt Zöpfen nur braune Borsten hatte, in der Nähe der Schwester zu bleiben. Die Russen mochten Kinder, hieß es, aber sie vergewaltigten auch Frauen. Dora wusste nicht, was das Wort ‚Vergewaltigung‘ bedeutete, und auf ihre Fragen hörte sie nur:
„Das verstehst du nicht.“
Es musste etwas Bedrohliches, Gefährliches sein, das las Dora in den Mienen der Erwachsenen.
Mit ihrer Schwester fühlte sie sich sicher, Dora war ja erst acht.
An einem Sonntag im Mai saß Dora auf Papas Schultern und überragte die dichte brodelnde Menschenmenge auf dem Wiener Rathausplatz. Viele schwenkten kleine Fähnchen in der Hand. Rot – Weiß – Rot. Dora hatte eine recht gute Aussicht da oben auf Papas Schultern, und sie fühlte sich wohl, trotz der Menschenmenge.
„Vorne ist das Rathaus“, erklärte Vati ihr.
Es war Mai 1955, und die Menschen feierten ‚Staatsvertrag‘, was immer das war. Sie verstand es nicht. ‚Wieder so ein Wort …‘, dachte Dora. Dass auch die Russen jetzt abzogen, hatte sie irgendwo aufgeschnappt.
Sie verstand nicht, warum die Russen jetzt Wien verließen, sie waren doch immer nett zu ihr und ihrer Schwester gewesen. ‚Warum also?‘ Aber die Menschen neben und unter ihr schienen den Tag zu genießen. Viele weinten, Dora hätte sie gerne getröstet, bis sie begriff, dass es Freudentränen waren.
Später, vor dem Einschlafen im Bett, musste Dora an Maria denken. Maria war wie sie selbst acht Jahre alt und wohnte in einem der Nachbarhäuser. Ihr Gesicht war fürchterlich entstellt, denn ihre Mutter hatte versucht, den Fötus mit einer Stricknadel abzutreiben. Ein Russenkind, entstanden aus einer Vergewaltigung, lebte jetzt mit entstelltem Gesicht in einem der Nachbarhäuser. ‚Ich verstehe so vieles noch nicht‘, dachte Dora. ‚Vergewaltigung‘, ‚Fötus‘, ‚abtreiben‘ – alles Worte, mit denen sie nichts anzufangen wusste. Also dachte sie lieber an die vielen Glücklichen auf dem Rathausplatz und an die Musiker, die den Donauwalzer spielten. Mit Musik kannte Dora sich schon ein wenig aus, aber mit anderen Dingen …? Sie konnte schon Sonatinen von Haydn spielen, aber ‚abtreiben‘, das konnte sie nicht.
Als sie an diesem Freudentag eingeschlafen war, träumte sie von einem Mann in grauer Uniform, in der einen Hand eine Stricknadel, in der anderen ein Fähnchen mit den rot-weiß-roten Farbstreifen, wie sie sie am Rathausplatz gesehen hatte. Der Uniformmann lächelte Dora in ihrem Traum ruhig zu, aber von seiner Stricknadel tropfte Blut. Und er hatte hinter seinem Lächeln schwarze Zähne.
Dora schrie in dieser Nacht. Mama kam zu ihr, um sie zu beruhigen. „So ein schöner Tag“, sagte sie, „… und du schreist. Lach doch lieber, Kind, lach doch!“
Der 15. Mai 1955 war vorbei. ‚Gut so‘, dachte Dora.
Der verpatzte Bub
Dora war acht,
als sie eigentlich ein Bub war.
Da sie draufgängerisch und wagemutig handelte, erklärte Mama immer wieder jedem, mit dem sie über Dora redete:
„Sie ist ein verpatzter Bub.“
In ihrer Stimme war so etwas wie leiser Stolz zu hören.
Ein Mädchen war also ein verpatzter Bub. Dora dachte nach.
‚Wieso ist nicht ein Bub ein verpatztes Mädchen?‘
Sie wusste es nicht und streunte weiter mit ihren Freundinnen durch den dicht bewaldeten Stadtrand. Natürlich waren ihre Streifzüge örtlich begrenzt, sie waren ja erst acht, aber ein Ausflug zur versteckten Wiese – so nannten sie den großen Grasflecken oberhalb des kleinen Berges in Omas riesigem Garten – kam ihr und ihren Freundinnen vor wie eine weite, gefährliche Reise.
Wenn die Mädchen zu weit hinauf in den Wald gegangen waren und Mutter das erfuhr, sagte sie streng:
„Wenn ihr so weiter macht, wird euch einmal der schwarze Mann holen.“
‚Schwarzer Mann? Rauchfangkehrer? Neger? Dora wusste es nicht und durchstreifte weiter Wiesen und Wälder.
Um ihrem Ruf als Bub, ob verpatzt oder nicht, gerecht zu werden, kletterte sie auf jeden halbwegs mit Ästen bestückten Baum und rannte mit den Buben um die Wette. Dass sie dabei einmal stürzte und sich ihre Knie zerschürfte, störte sie nicht.
Als sie schon in die dritte Klasse, die 3b, ging, rutschte sie im Winter auf ihrer ledernen Schultasche einen steilen, vom Eis glatten Hang hinunter. Auf diese Weise zeigte sie den mitrutschenden Buben etliche Male, dass sie zu ihnen gehörte. Ein wahrer Bub unter verpatzten Mädchen, das war sie.
Peter, ein Bub aus ihrer Klasse, wartete jeden Morgen bei der Kreuzung auf Dora. Sie gingen dann gemeinsam zur Schule. Peter wurde von seinen Schulkollegen gehänselt, weil er mit einem Mädchen ging.
„Du mit einem Mädel! Waschlappen!“, riefen sie.
Dora merkte, dass es besser war, ein Bub zu sein. Und es war wohl auch besser, später ein Mann zu werden statt ein Fräulein.
Auch einen Unfall mit ihrem Rad nahm Dora tapfer in Kauf. Sie wurde anerkannt von den etwas fremden Wesen, die noch Kinder waren, aber einmal Männer werden sollten.
Alles hatte seine Richtigkeit, nur ihre Mutter sah dem Treiben besorgt zu. Ihr wäre lieber gewesen, Dora hätte sich mit einem hübschen Kleidchen ins Kinderzimmer begeben und hätte dort mit Puppen gespielt.
Dass ihre Tochter ‚auf Bub komm raus‘ am liebsten abgewetzte Hosen trug und sich beim Friseur die Haare kurz schneiden ließ, irritierte sie, aber sie ließ sich nichts anmerken.
‚Es wird vorüber gehen‘, tröstete sie sich selbst.
Und irgendwie war da auch Stolz dabei.
Das Blut
Dora war neun,
als das mit Lisa passierte.
Lisa war nicht nur Kusine, auch Freundin. Und sie riss sich beim Hinfallen auf der großen Wiese, auf der sie beide ohne Aufsicht spielten, den Oberschenkel an einem Stacheldraht auf. Sehr tief.‚Warum ist Blut rot und nicht blau oder grün?‘, dachte Dora.
‚Warum ist die Wunde ihrer Kusine so groß und so tief?
Warum sieht man in dieser Wunde weißes Muskelfleisch, das wie Grießpudding aussieht?
Und warum sang die Frau in dem alten Haus neben der Wiese, auf der sie spielten, immer wieder zuerst Opernarien und als Abschluss ‚Deutschland, Deutschland über alles‘? Bei offenem Fenster.
Obwohl doch Deutschland früher sehr böse war. Das sagte Mama.
Und warum waren die Augen von diesem Herrn Hitler, den Oma manchmal zornig erwähnte, braun und nicht rosa?‘
Wo man singt, da lass dich nicht gleich nieder,
auch böse Menschen haben ihre Lieder.
Das hatte Oma sie gelehrt. ‚Vielleicht hatten die bösen Deutschen früher böse Lieder, und die Sängerin in dem alten Haus neben der Wiese konnte das nicht vergessen … Sie sang schön, wie ein Engel.‘
Lisas Blut.
Doras Kusine Lisa saß mit gepunktetem Rock, aber grießpuddingähnlichem blutigem Muskelfleisch auf einem Baumstamm und war bleich im Gesicht. Das rote Blut – nicht blau, nicht grün, nein, rot war es – schoss plötzlich wie aus einem leicht verstopften Springbrunnen aus ihrem Oberschenkel.
Doras Augen starrten auf die Verletzung.
‚Warum sind Augen niemals rosa oder lila?‘
Lisas Blut.
Dora rannte zu dem alten Haus mit der Sängerin, um Hilfe zu holen. Sie rannte nicht nach Hause, nein. Sie hetzte zur Sängerin. Wie ein Blitz die Stufen hinauf, und schon war sie im Sängerinnenzimmer. Die Frau, die oft Opernarien und danach das Deutschlandlied sang, rief die Rettung an. Gott sei Dank hatte sie Telefon, Doras Eltern hatten keines. ‚Warum nicht?‘
Dora dachte an ihren Papa, der selbst keine Opernarien sang, sondern solchen Gesängen nur lauschte. Mit Kopfhörern und geschlossenen Augen. Ansprechbar war er nicht, wenn er dies tat, und Dora hasste diesen Rückzug ihres Vaters in die Arienwelt.
Gut, dass die Kusine jetzt in guten Händen war. Dora schaute zu den Wolken hinauf, die heute weiß waren. ‚Warum sind Wolken weiß oder grau und nicht kariert?‘
Und sie sah, wie aus den Wolken über ihr eine grießbreiähnliche Masse floss und einen blutroten Regen ankündigte.
‚Warum ist Blut rot?‘, fragte sie sich wieder und wieder.
Die Panzer
Dora war neun,
als die Panzer walzten.
Ihre Eltern verfolgten seit kurzem oft die Nachrichten im Radio. Und sie sahen immer besorgter drein. Dora getraute sich nicht zu fragen, was los war. Bis ihr Vater die Mutter entsetzt ansah und sagte:
„Jetzt sind die russischen Panzer in Ungarn. Die walzen alles nieder!“
Dora verstand wenig, nur ‚russisch‘, das kannte sie. Und auch, dass die Russen seit einem Jahr nicht mehr da waren. ‚Wieso jetzt Ungarn? Was sind Panzer?‘ Dora kannte keine russischen Panzer, aber sie erinnerte sich an die freundlichen Soldaten, die Kinder mochten, vor allem blondzopfige.
‚Was war in Ungarn passiert?‘ Es schien sehr ernst zu sein. Vater versuchte zu erklären. Dass die Ungarn einen Volksaufstand gemacht hatten gegen die russische Besatzung, dass die russischen Politiker das nicht duldeten, und dass sie in Ungarn einmarschiert sind und mit Panzern alles niederwalzten.
‚Wie können Panzer walzen?‘ Dora kannte nur Straßenwalzen, die den heißen Asphalt platt machten‚ aber wieso machten in Ungarn Panzer alles platt?
„Viele Flüchtlinge werden kommen, das ist sicher“,
meinte Mutter, und Dora fragte sich, was Flüchtlinge eigentlich waren. Sie hatte erst wenig von Flucht gehört. Der nächste Fasching fiel ihr ein. Sie wollte nicht aussehen wie alle anderen. Sie wollte weder als Cowboy noch als Prinzessin noch als Matrose verkleidet sein.
„Darf ich im nächsten Fasching als Flüchtling gehen, Mama?“
„Auf keinen Fall, Kind. Flüchtlinge, das sind arme Leute, denen man die Heimat genommen hat, die aus ihren Häusern vertrieben worden sind oder die vor Krieg oder sonst was Fürchterlichem fliehen mussten. Damit spaßt man nicht. Und niemand sollte sich im Fasching als Flüchtling verkleiden. Das wäre sehr dumm und geschmacklos.“
Also was Heimat bedeutete, dass hatten sie in der Schule gerade durchgenommen. Damit kannte Dora sich aus, und sie hatte auch schon begriffen, dass es schlimm war, die Heimat zu verlieren. Diese Heimatlosen meinte also ihre Mutter, wenn sie sagte, dass viele Flüchtlinge kommen würden. Und dass sie aus Ungarn kommen würden, war Dora klar.
„Wie viele werden da kommen, Mama?“
„Ich glaube, sehr viele.“
„Wie viele?“
„Vielleicht Hunderte oder Tausende oder zweihunderttausend.“
Dora verstand diese Zahl nicht ganz.
„Was denn nun? Zwei oder hundert oder tausend?“
Mutter erklärte ihr diese große Zahl, und dann fiel Dora ein, dass im Rechenunterricht und auch in Geografie solche Zahlen seit neuestem vorkamen. Unvorstellbare Zahlen.
„Das sind ja so viele wie in einer sehr großen Stadt wohnen!“
„Ja.“
Drei Tage später fuhren ihre Mutter, ihre Schwester und sie mit einem Onkel zur österreichisch-ungarischen Grenze. Österreich-Ungarn, das kannte sie aus dem Geschichtsunterricht. Aber dieses eigenartige Kaiserreich gab es schon lange nicht mehr. Also wieso fuhren sie jetzt zu dieser Grenze? Dora dachte nicht mehr weiter nach. Es würde sich alles zeigen.
An der Grenze schienen ihr alle ziellos durcheinander zu laufen. Mutter meinte, das seien Flüchtlinge, Helfer, Rotkreuzmitarbeiter. Alle rannten geschäftig herum. Dora hatte Angst, verloren zu gehen. Wieso waren sie überhaupt hierhergefahren? Ach ja, Mutter hatte etwas von Decken und Kleidung gesagt. Und die lieferten sie jetzt ab, bei einer Rotkreuzstelle. Acht alte, aber gute Decken, und einen Berg voll warmer Kleider, die daheim niemand mehr trug, weil sie zu klein geworden waren oder nicht mehr gefielen. Auch Dora verschenkte etwas. Ihren alten braunen Teddybären. Damit die ungarischen Kinder damit spielen konnten, wenn sie schon flüchten mussten. Der Rotkreuzmann bedankte sich, und Dora und ihre Familie fuhren wieder zurück nach Hause. Nicht die ganze Familie. Vater fehlte. Er hatte wieder einmal beruflich ins Ausland fahren müssen, wie so oft. Er war ja ‚beim Film‘.
Dora beschloss, aus Ärger über seine Abwesenheit, Papa einfach nichts von ihrer Rettungsaktion zu erzählen. Die Flüchtlinge hatten jetzt acht Decken und eine Menge Kleider von ihnen bekommen, auch ohne Papa.
In der folgenden Woche saß plötzlich ein Flüchtlingskind, ein Mädchen, in ihrer Klasse, der 3b. Auch dieses Mädchen war neun Jahre alt, wie Dora. Die Lehrerin bat alle, sie gut zu behandeln. Sie spreche kein Deutsch, sagte Frau Stober, und das sei für sie nicht einfach.
„Stellt euch vor, ganz allein mit vielen anderen zusammen zu sein und kein Wort zu verstehen, das ist hart. Helft ihr, wo ihr könnt, gut?“
Ilona, so hieß die Neue, saß im Klassenzimmer ganz in Doras Nähe. Das fand Dora aufregend. Das Flüchtlingsmädchen sah zwar aus wie eine von ihnen, aber sie war Ungarin! Ein schweigendes Mädchen, das während des Unterrichts nichts tat als Vögel aus Papier zu falten. Als Ilona Dora einen solchen Papiervogel schenkte, war Dora fast glücklich.
Von diesem Tag an waren sie Freundinnen, Ilona und sie. Sie lernte, Papiervögel zu falten, und sie schwiegen beide, wenn sie zusammen waren, aber das war Dora ganz recht. Es war angenehmer, als ständig zu reden. Sie hatte nun also ein Flüchtlingskind als Freundin. Und sie war stolz darauf.
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