Kitabı oku: «Die Früchte der Tränen»

Yazı tipi:

ILSE TIELSCH

DIE FRÜCHTE
DER TRÄNEN

ROMAN


Für RUDOLF, unsere Kinder STEFAN und CORNELIA und unseren Enkel BERNHARD

Wozu erinnerst du dich? Leb jetzt! Leb jetzt! Aber ich erinnere mich doch nur, um jetzt zu leben.

ELIAS CANETTI

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Nachts, wenn es dunkel ist, klingen die Stimmen fremd, auch jene, die es nicht sein dürften.

Judith ist tot, sagte die Stimme.

Die Hand hielt den Telefonhörer umklammert, die Bakelitmuschel lag kalt am Ohr. Es war kein Licht im Zimmer, nur der schwache Schein der Straßenbeleuchtung hing in den Vorhängen, und vom Herbstwind bewegte Baumzweige warfen zitternde Schatten. Die Stimme sprach in abgerissenen Sätzen, sie berichtete und versuchte zu erklären, was sich nicht erklären ließ, sprach Vermutungen aus, die, später von anderen ergänzt, dennoch Vermutungen bleiben würden. Tote wehren sich nicht, sie stellen nicht richtig, sie beantworten keine Fragen. Tote verteidigen sich nicht, beschuldigen niemanden, und sie weinen nicht mehr. Tote sind IN EINER ANDEREN WELT, aber Judith war plötzlich in meinem Zimmer, sie löste sich aus dem Schatten und nahm Farben an, ihre helle Haut, ihre graublauen Augen, ihr dunkles Haar, lockig abstehend vom Kinderkopf, lang auf Schultern und Rücken fallend, wie sie es als Fünfzehnjährige getragen hat.

Während die fremd gewordene Stimme sprach, erschienen Bilder.

Judith, die geschickteste Ballspielerin auf dem Schulhof, BALL ÜBER DIE SCHNUR, Judith im knappen Badeanzug auf dem Sprungbrett des neuen Schwimmbades in der Stadt, in der wir das Gymnasium besuchten, ein braun gebrannter Mädchenkörper, der viele Blicke auf sich zog, die beste Schwimmerin unseres Alters, Klassenbeste in Mathematik und Latein. Judith, über ihre Geige gebeugt im Schulorchester, schön an ihrem fünfzehnten Geburtstag im neuen, blau-weiß gemusterten Kleid. Judith, die überall Mittelpunkt war, wohin sie kam, auch später in Wien, als sie wieder unter uns lebte und wir ausgingen und uns mit Freunden trafen. Dann kein Bild mehr, nur einmal ein Zeitungsfoto, von dem wir nicht mit Sicherheit sagen können, ob es sie wirklich darstellt. Erst später jene Schwarzweißfotografie, auf der sie als Braut zu sehen ist, schüchtern lächelnd und fremd, an die Schulter eines jungen Mannes gelehnt, dessen Blick entschlossen auf etwas gerichtet ist, das wahrscheinlich ZUKUNFT bedeutet hat.

Das Begräbnis ist Mittwoch, sagte Christians fremd klingende Stimme, hoffentlich wird es dir möglich sein, zu kommen.

Die Bilder verschwammen im Dunkel, ich sah nur noch jenes eine, das ich von der Fotografie her kannte, die ich seither oft betrachtet hatte. In Judiths Gesicht floß mit einemmal vieles von dem zusammen, was wir damals dachten und waren, es stand symbolhaft für unsere jungen Jahre.

Das Wort JUGEND zwang sich mir auf, eigentlich war es mehr ein Gefühl als ein Wort, eine Art sanfter Schmerz.

Natürlich werde ich kommen, sagte ich.

1

Wir nehmen, wenn es uns möglich ist, an der Beerdigung teil, wenn jemand aus unserer Gegend gestorben ist, auch wenn wir nicht mit ihm verwandt oder näher befreundet gewesen sind. Wir drücken den Angehörigen die Hand, sagen ihnen teilnehmende Worte und nennen unsere Namen, die ja auch die Namen der Eltern und der Großeltern gewesen sind, damit sie die Stelle in ihrer Erinnerung finden, in die sie uns einbringen können. Die Geistlichen flechten in ihre Ansprachen Sätze über den Verlust der Heimat und über das schwere Schicksal des Verstorbenen ein, vergessen nicht, darauf hinzuweisen, daß er hier, wo er nun schon seit so vielen Jahren lebte, eine zweite Heimat gefunden hatte, ehe sie auf das verheißene Wiedersehen in der ewigen Heimat hinweisen. Wir gehen dann mit im Zug der Trauernden, werfen Erde ins offene Grab, es kommt vor, daß einer der Alten ein winziges Säckchen aus der Tasche zieht und es über dem Sarg entleert, von einer Reise mitgebrachte Erde aus Böhmen, aus Mähren, aus dem Adler-, dem Riesen-, dem Altvatergebirge, Erde aus dem Schönhengstgau, aus dem Egerland, aus dem südmährischen Hügelland. Muß der Verstorbene schon in fremder Erde ruhen, dann soll doch ein Stäubchen Heimaterde um ihn sein. Es kommt auch vor, daß einer der Alten nicht den ganzen Inhalt eines solchen Säckchens auf den Sarg streut, sondern ihm nur einen Teil der Erde entnimmt, das Säckchen wieder verschließt und in die Tasche zurücksteckt. Den verbliebenen Rest bewahrt er für seine eigene Beerdigung auf. Die Erde der neuen Heimat bleibt fremd für die Toten, die darin begraben werden, fremder als jene, in der schon die Eltern und Großeltern ruhen, vielleicht schon deren Vorfahren, zurück über mehrere hundert Jahre.

Ein Stück Heimat verläßt uns mit jedem, der stirbt, dies ist einer der Gründe dafür, daß wir manchmal viele Kilometer weit fahren, um einen Verwandten auf seinem letzten Weg zu begleiten. Daß wir einander bei solchen Anlässen wiedersehen, ist ein weiterer Grund dafür. Wir sitzen dann beisammen und sprechen von lange vergangenen Zeiten, wir berichten einander von unserem Leben, sprechen auch von Leuten aus unserer Gegend, die nicht gekommen sind oder nicht kommen konnten, von denen wir jedoch wissen, wo sie leben und wie es ihnen ergangen ist. Kommt bei einer solchen Gelegenheit jemand, den wir lange nicht gesehen haben, dahin, wo wir selbst jetzt leben, dann laden wir ihn ein, bei uns zu übernachten, wir nehmen ihn auf, stellen ihm unsere Kinder vor, wir kramen in Schubladen und Schränken nach alten Fotografien, nach Bildern von Schulschlußfeiern, Ausflügen, Sportveranstaltungen oder Sommerfesten, auf denen wir selbst als Kinder oder junge Leute zu sehen sind, meist sind es kleine, oft schon abgegriffene Schwarzweißfotografien, die wir durch Zufall gerettet haben oder die uns von anderen, die sie besaßen, geschenkt worden sind. Manchmal finden sich Gruppenaufnahmen in Fotoalben oder unter den Papieren verstorbener Verwandter, dann nehmen wir sie an uns, notieren nach und nach die Namen der Abgebildeten auf der Rückseite, weil wir die Lücken der Erinnerung erst im Lauf der Jahre und mit Hilfe anderer zu füllen vermögen. Wir hüten diese alten Fotografien, auch jene, auf denen nicht Menschen, sondern Landschaften abgebildet sind, die uns vertraut waren, Häuser, in denen wir gewohnt, Dörfer und Städte, in denen wir als Kinder gelebt haben. Wir lassen Reproduktionen anfertigen und tauschen sie untereinander aus. Der Prozeß der Veränderung ist uns bewußt, der dort, wo wir herkommen, wie überall abgelaufen ist, in solchen Stunden jedoch überspringen wir die Jahrzehnte, als wären sie nicht gewesen. Dies ist unser Dorf, unsere Stadt, unsere Kirche, unsere Schule, auch wenn es das Dorf, die Kirche, die Schule schon längst nicht mehr gibt, dies ist der Spielplatz, dies ist das Haustor, durch das wir täglich eingetreten sind, dies ist unser Weinberg, unsere Scheune, unser Weizenfeld. Wir kramen in Erinnerungen, wir sitzen bis spät nachts beisammen und erzählen einander Geschichten, und weil der Verstorbene ja aus derselben Gegend stammte, wie wir selbst, ist er bei solchen Gesprächen dabei.

Auch bei anderen Anlässen, bei denen wir einander begegnen, zum Beispiel bei Heimattreffen, werden Geschichten erzählt, die wir mitnehmen und die uns im Gedächtnis bleiben, wie zum Beispiel jene des alten Schmieds von Mühlfraun.

2

Als man dem alten Schmied von Mühlfraun bei Znaim mitgeteilt hatte, daß er die Heimat verlassen müsse, sperrte er das Tor seiner Schmiede ab und machte sich auf den Weg nach Westen. Er war zu diesem Zeitpunkt achtundachtzig Jahre alt und noch rüstig, seine Beine waren gesund, und er wußte über die Himmelsrichtungen Bescheid. Den Norden dachte er sich zu kalt, daher kam er nicht in Betracht, der Süden schien ihm in seiner Vorstellung von den Landstrichen jenseits des Äquators zu heiß, im Osten lag Rußland, dorthin wollte er nicht. Es blieb nur die westliche Richtung, und diese schlug er ein.

Er wollte nach Amerika, sagt sein Enkel, er hatte in seiner Jugend mehrere Leute gekannt, die dorthin ausgewandert waren, und man hörte später, es ginge ihnen sehr gut. Vielleicht hatte er selbst zu jenem Zeitpunkt einmal an eine Auswanderung gedacht. Vielleicht hatte er auch die Hoffnung gehabt, jenseits des großen Ozeans seinen ältesten Sohn wiederzufinden, der schon zu Beginn des Jahrhunderts, als blutjunger Mensch, dorthin gezogen war, um sein Glück zu versuchen, daß dieser Sohn schon 1936 verstorben war, hatte er niemals wirklich geglaubt, oder er hatte es vergessen.

Wahrscheinlich hatte der alte Schmied von Mühlfraun keine konkreten Vorstellungen davon, wie weit es von seinem Dorf bis Amerika war, und wahrscheinlich unternahm er auch nicht einmal den Versuch, sich diese Entfernung auch nur annähernd vorzustellen. Man zwang ihn, von allem wegzugehen, was er geliebt und besessen hatte, nun brauchte er einen Ort, an dem es sich anzukommen lohnte, an dem er bleiben würde, bis man ihm erlaubte, in die Heimat zurückzukehren, Amerika schien ihm dieser Ort zu sein.

Er ging also von seinem Anwesen weg, immer der untergehenden Sonne entgegen, er hatte sich diese Tageszeit, der Orientierung wegen, ausgesucht, und ein Blick auf die Landkarten gibt ihm recht. Immerhin kommt man, wenn man geradeaus und querfeldein geht und wenn man sich nur einigermaßen an die Himmelsrichtung hält, von Mühlfraun über Alt Edelspitz, nördlich an Deutsch Konitz und Poppitz vorbei, über Raabs, Straubing, Pforzheim, Paris an die Küste und nach Überquerung des Atlantischen Ozeans nach Neufundland, hält man sich auf dem Großen Wasser südwestlich, gelingt die Ankunft vielleicht sogar direkt in New York. Hindernisse wie hohe Gebirge und Flüsse sowie die Tatsache, daß auch die kleinen Straßen und Wege nicht immer in die gewünschte Richtung laufen, sind in dieser Überlegung allerdings nicht enthalten. Umwege werden notwendig gewesen sein, aber täglich ging ja die Sonne in derselben Richtung unter, man weiß, daß der Frühling des Jahres 1945 ein prächtiger Frühling gewesen ist, in dem sie fast ununterbrochen vom wolkenlosen Himmel schien, und immer wird der alte Mann ja auch nicht gewandert sein.

Der alte Schmied verließ das Dorf Mühlfraun in einem Augenblick, in dem niemand auf ihn achten konnte, man suchte nach ihm, so gut es in jenen schrecklichen Tagen überhaupt möglich war, man gab später Suchanzeigen an die dafür zuständigen Stellen auf, alle Bemühungen blieben erfolglos, schließlich hielt man, so sagt sein Enkel, den Großvater für tot. Es gab sehr viele Tote in jenen Wochen und Monaten, Greise und Kinder, das ist bekannt. Ein Achtundachtzigjähriger, den man aus seiner Heimat vertrieben hatte, ein Mensch also, der aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mehr lange zu leben gehabt hätte, konnte, bei den Zuständen, die damals herrschten, und in der Verwirrung seines Schmerzes, das jedenfalls glaubte man annehmen zu müssen, nicht weit gekommen sein. Man trauerte um den Großvater, den man nicht lebend wiedersehen würde, noch dann, als man selbst aus der Heimat vertrieben und irgendwo in Deutschland angekommen war, man resignierte eines Tages und gab keine Suchanzeigen mehr auf.

Inzwischen wanderte der alte Mann der österreichischen Grenze entgegen, überschritt sie irgendwo zwischen Feldern, durchquerte das nördliche Niederösterreich, passierte wiederum eine Grenze und ging auf den Böhmerwald zu. Da und dort nahm man ihn auf, gab ihm eine Kleinigkeit zu essen, obwohl man selbst nicht viel hatte, erlaubte ihm, in einer Scheune zu schlafen, er bot dafür seine Dienste an, half auf den Feldern mit und reparierte fachkundig defektes Gerät, immerhin kannte er sich dabei aus, und Männer waren selten in jener ersten Zeit nach dem Ende des Krieges, mit Ausnahme der fremden Soldaten, von diesen jedoch konnte man keine Hilfe erwarten. Es ist durchaus möglich, daß man da und dort froh war, wenn er nicht gleich wieder weiter wollte, sondern eine Zeitlang auf einem Bauernhof blieb. Vielleicht hat er den Winter von fünfundvierzig auf sechsundvierzig, den ersten Friedenswinter, der für sehr viele ein furchtbarer Winter gewesen ist, noch auf einem österreichischen Hof verbracht, ist dann im Frühling erst weitergegangen, durch die Täler des Böhmerwaldes und des Bayrischen Waldes, vielleicht hat er im Sommer sechsundvierzig in bayrischen Viehställen ausgeholfen, ist dort wiederum über die kalten Monate untergekrochen, erst im darauffolgenden Frühling wieder aufgebrochen, um weiterzuziehen, immer der untergehenden Sonne nach, immer in Richtung Amerika. Er durchwanderte Deutschland in westlicher Richtung, er muß überall auf Leute gestoßen sein, die aus der Heimat vertrieben waren wie er, das Land war überschwemmt mit Flüchtlingen und Vertriebenen, immer schwieriger wird es für ihn geworden sein, einen Schlafplatz zu finden, ein Stück Brot, einen Teller Suppe zu bekommen, immer häufiger wird man ihn von den Türen gewiesen haben. Trotzdem muß er irgendwo untergekommen sein, noch einen dritten Winter verbracht haben, bis er eines Tages, ohne es zu bemerken, wiederum eine Grenze passierte. Er sei, erzählte er später, nachdem er in einer Scheune geschlafen habe, von Leuten geweckt worden, deren Sprache er nicht verstanden habe. Am Klang ihrer Stimmen habe er gemerkt, daß er in Frankreich sei.

Nein, Amerika hat der alte Schmied von Mühlfraun nicht erreicht, obwohl es ihm zuzutrauen gewesen wäre. Er war jetzt einundneunzig Jahre alt und immer noch rüstig, aber er wird wohl schon etwas müde gewesen sein von dem weiten Weg, denn er ließ sich ohne Widerspruch von den Leuten des Roten Kreuzes, die man verständigt hatte, abholen, er ließ sich in ein Altersheim in Baden-Württemberg bringen.

Als der Enkel des Schmieds diese Geschichte erzählte, war es an unserem Tisch ganz still geworden. Unser Tisch bildete eine kleine, schweigsame Insel inmitten des Lärms. Wir saßen unter einem Baum am Rand der Wiese, doch nahe genug am Zelt, aus dem das Geräusch der Stimmen wie ein dumpfes Brausen zu uns herüberdrang, wenn die Blaskapelle schwieg. Um uns herum, an den anderen Tischen, war Lachen und lautes Gespräch, Leute kamen und gingen, der Geruch von Bratwurst und Grillhuhn mischte sich mit den Gerüchen von Backwerk, in der Hitze dampfender Erde und zertretenem Gras. Die Heimattreffen unserer Gegend finden im Hochsommer statt.

Daß der Großvater bis zu seinem Tod gehofft hatte, die Heimat wiederzusehen, sagte der Enkel des alten Schmieds, sei mit Sicherheit anzunehmen gewesen. Im Nachtkästchen neben seinem Bett im Altersheim habe er zahllose Päckchen mit den verschiedensten Samen gehabt, ständig habe er neue Samen dazugekauft, die Pflegerinnen hätten ihre liebe Not damit gehabt, die alten, schon keimenden Samen zu entfernen, ohne daß er es merkte. Salat, Kraut, Karotten und Sellerie, Gurken, Erbsen und Kürbis, alles, was daheim auf den Feldern und in den Hausgärten gewachsen sei, aber auch Getreide, Weizen, Gerste und Hafer, all dies, sagte er, müsse man ja wieder anbauen können, wenn man in die Heimat zurückkäme, er jedenfalls würde für diesen neuen Anfang gerüstet sein. Hier, habe er zu seinem Enkel gesagt, als ihn dieser besuchte, hier habe ich alles, was wir dann brauchen.

Immer und überall habe der Großvater auch eine alte Weste bei sich gehabt und getragen, er habe sich geweigert, sich davon zu trennen, selbst beim Baden durften sie ihm die Pflegerinnen nicht wegnehmen, er saß dann in der Wanne und hielt sie in der hochgehobenen Hand, um sie vor dem Naßwerden zu schützen. Niemand wußte, was es mit diesem Kleidungsstück für eine Bewandtnis hatte, man ließ ihm seinen Willen, um ihn nicht unnötig aufzuregen oder zu kränken. Als er, erst 1954, starb, einfach an Altersschwäche und ohne krank gewesen zu sein, gab man es ihm mit in den Sarg. Der Enkel wollte den Großvater noch einmal sehen, er nahm die Weste an sich, bemerkte, daß etwas darin eingenäht war, bemerkte auch eine mit unbeholfenen Fingern genähte Stelle, trennte sie auf, hielt ein sorgsam verschnürtes Päckchen in der Hand.

Wissen Sie, was in dem Päckchen gewesen ist?

Der Schlüssel ist in dem Päckchen gewesen, der Schlüssel zur Schmiede in Mühlfraun.

Eine still gewordene Tischrunde, von den übrigen Tischen Lachen und Lärm. Hitze, die uns den Atem nimmt, die Blaskapelle spielt mit Gefühl DA DRUNT IM BÖHMERWALD, WO MEINE WIEGE STAND. Der Enkel des alten Schmieds aus Mühlfraun wendet sein Gesicht zur Seite, er schämt sich der Tränen.

Wir fahren oft viele hundert Kilometer weit, um beisammen zu sitzen und solche oder ähnliche Geschichten zu hören, oder um einander zu berichten, wie es uns seit dem Verlassen der Heimat ergangen ist. Wir überspringen in unseren Gesprächen auch jene Grenze, die unser Leben in zwei ungleiche Teile teilt, wir erinnern uns an unsere Anfänge, damit sie uns nicht verlorengehen. Neben den alten Fotografien, auf denen die Dörfer und Städte zu sehen sind, wie sie waren, als wir dort lebten, zeigen wir einander auch andere, auf denen man sieht, wie sie sich im Lauf der Jahrzehnte verändert haben. In unseren Gesprächen fügen wir die beiden auseinandergerissenen Teile unserer Existenz aneinander, versuchen, ein Ganzes daraus zu machen, die Bilder helfen uns dabei, unsere verlorengegangene Vergangenheit wiederzufinden, sie mit der Gegenwart zu verbinden. DIES IST MEIN DORF bedeutet, daß dieser Ort, der vielleicht nur noch auf einer abgegriffenen Schwarzweißfotografie existiert, zu unserem Bewußtsein gehört, wie wir zu ihm gehören, daß mit unserer Vergangenheit ein Teil von uns selbst dort geblieben ist, den wir nicht löschen können, daß wir nicht wären ohne dieses Dorf, ohne die Sprache, die dort gesprochen wurde, ohne die Landschaft, die es umgibt.

(Seit 1945 sind über tausend Dörfer mit deutschen Namen von den Landkarten verschwunden, es gibt von ihnen keine Spuren mehr. Die von den Besitzern verlassenen Häuser und Bauernhöfe zerfielen, die Reste der Trümmer wurden beseitigt, die Friedhöfe eingeebnet, die verfallenden Kirchen und Ruinen gesprengt.

Die Stadt Brüx gibt es nicht mehr. Wo früher schöne Bürgerhäuser den weiten Stadtplatz umstanden, Kaufleute ihre Waren anboten, Kinder spielten, Spaziergänger unterwegs waren, dehnen sich die Abraumhalden der Kohlengruben. Man hat eine neue Stadt gebaut, sie heißt MOST, ein Wort, das ebenfalls BRÜCKE bedeutet, die alte Stadt mußte dem Kohlenabbau weichen. Nur die Kirche hat man auf Rollen, fünf Kilometer weit, an den Rand der Flöze gebracht. Anderes zerstörte, auf der Suche nach Zielobjekten, das Militär mit Kampfflugzeugen und Artillerie. Manches zerstörten Schnee, Regen und Wind. Ganze Stadtteile zerbröckelten, historische Schlösser verfielen, standen eine Zeitlang noch als Ruinen da, bis man ihren Anblick nicht mehr ertrug und die Reste sprengte, wegbrachte, anderweitig verwendete, was noch verwendbar war. In den Gebirgen mit den berühmten Namen sterben die Wälder. Über Gärten wuchert das Gras. Von manchem, was HEIMAT gewesen ist, sind nur noch Reste geblieben.)

Auf der Fahrt zu einem Heimattreffen bei Stuttgart erzählt ein Mann, der aus Mähren stammt, lange und liebevoll von seinem Heimatdorf. Natürlich fahre ich oft wieder hin, sagt er, erst im vergangenen Sommer bin ich wieder dort gewesen.

Wollen Sie mein Dorf sehen, sagt der Mann, greift in die Innentasche seiner Jacke, holt eine Brieftasche heraus, sucht in der Brieftasche nach einer Fotografie, hält sie mir dann entgegen. Das Bild zeigt eine Straße, die sich durch flaches Land zieht, rechts und links von der Straße wuchert vereinzelt Akaziengebüsch. Zwei Frauen beugen sich zum Boden hinab, als suchten sie dort etwas. Weit und breit ist kein Gebäude zu sehen.

Das ist mein Dorf, sagt der Mann, und dort, wo die beiden stehen, meine Frau und meine Schwägerin, dort ist mein Elternhaus.

Sie sehen nichts? sagt der Mann. Aber ich habe Ihnen doch alles genau beschrieben. Es ist ein Straßendorf, rechts und links an unser Haus schließen die Nachbarhäuser an, dahinter liegen die Höfe. Dort ist das Schulhaus und schräg gegenüber die Kirche. Und der kleine Bub, der die Gänse zum Bach treibt, bin ich. Ihr Fehler ist, sagt der Mann, daß Sie das Bild nur mit den Augen sehen. Ich, sagt er, sehe es anders. Ich sehe es innen.

Kann ein Stück flaches Land, von dem alle Spuren menschlichen Lebens getilgt sind, auf dem nicht ein Stein, nicht ein Baum oder Strauch, kein Fußabdruck, keine Wagenspur mehr an die Menschen erinnert, die dort gelebt haben, noch heimatlich berühren? Schon die Kontur eines Hügels, den wir als Kinder kannten, schon der Geruch des Unkrauts am Straßenrand, selbst der Staub, den der Wind von den Äckern treibt, bewegt unser Herz.

Bei Judiths Begräbnis, oder vielmehr davor oder danach, würde, das wußte ich, vor allem von Judith gesprochen werden. Es würden Vermutungen angestellt werden, die nicht beweisbar sein würden, verschiedene Leute würden verschiedene Geschichten erzählen. Aber auch unsere Herkunftsorte würden wiedererstehen, ihre Häuser und Straßen würden sich mit Leben füllen. Wir würden durch die Jahrzehnte zurückfallen und wieder zu jenen Kindern werden, die wir einmal waren. In unseren Erzählungen würden die Spiele, die wir gespielt hatten, wilder, die Streiche, die wir ausgeheckt hatten, verwegener sein, als sie in Wirklichkeit gewesen sind. Anni würde wieder zum Leben erwachen, das Kind, das auf seinem weinroten Fahrrad über den abschüssigen Stadtplatz von B. gefahren ist, mit wehenden Zöpfen und so wild, daß es stürzte und sich die Knie aufschlug, das auf der Wiese hinter dem Haus über die Springschnur sprang, mit von der Sonne erhitzter Haut auf den hölzernen Liegebrettern des Schwimmbads lag und Helga, der blonden Freundin, Geheimnisse ins Ohr flüsterte, von dieser wiederum Geheimnisse erfuhr. Judith würde im Zusammenhang mit dieser Erinnerung ebenfalls wieder Kind sein, Judith, die niemals vom Rad fiel, weil sie weniger wild als Anni war, die alles besser konnte als andere, die alle Geheimnisse kannte. Nein, darüber würde nicht gesprochen werden, aber ich, Anna, würde mich daran erinnern, auch an die älter gewordene Anni, die Feldpostbriefe von Christian in der Tasche trug, MEINE LIEBE ANNI, die sie beantwortete, MEIN LIEBER CHRISTIAN, die, mit Christian über eine weit im Ungewissen liegende Zukunft sprechend, die Angst zu verdrängen versuchte, WENN DER KRIEG ZU ENDE IST, WENN WIR ES ÜBERLEBEN, die von Christian im April fünfundvierzig Abschied nahm.

Auch daran würde ich mich erinnern, wie Judith auf den silbernen Ring wies, den Anni von einem bestimmten Zeitpunkt an am Ringfinger trug.

Was hast du da für einen Ring, hatte Judith gesagt.

Der ist von Christian, erwiderte Anni, Trotz und Triumph mischten sich in ihrer Stimme.

Judith wurde rot im Gesicht, wußte es, wendete sich ab, weil sie dachte, daß Anni es dann nicht bemerken würde.

Das verzeih ich dir nie, sagte sie, schon im Gehen, nein, sie schrie es, schrie es Anni über die Schulter zurück zu. DAS VERZEIHE ICH DIR NIE!

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