Kitabı oku: «Resilienz», sayfa 2
»Bittet, und es wird euch gegeben;
suchet, und ihr werdet finden;
klopfet an, und es wird euch aufgetan.
Denn jeder, der bittet, empfängt;
und wer sucht, der findet;
und wer anklopft, dem wird aufgetan.«
Matthäus 7,7-8
1. Brief – Gedanken zum neuen Alltag
Von der Bedeutung des Übens
Eigentlich ist es eine Selbstverständlichkeit: Wir wachen jeden Tag in einer neuen Welt auf. Aber derzeit ist das Aufwacherlebnis für viele von uns ein bisschen surreal. Ist das alles nicht nur ein wirrer Traum? So viele Alltäglichkeiten, die ins Wanken geraten, so viel Selbstverständliches, das mir zu entgleiten droht … Was immer ging, geht plötzlich nicht mehr, völlig ungeahnte Handlungen werden selbstverständlich, und vieles, was ich noch nie gedacht habe, dringt in mein Bewusstsein ein. Wie gehe ich damit um?
Plötzliche Veränderungen können sehr verunsichernd sein, wenn ich eigentlich mit der Lebenshaltung unterwegs bin, dass alles im Wesentlichen immer gleich bleiben wird, gleich bleiben soll – es sei denn, dass ich es verändern will. Was ich gelernt habe, die Gemütshaltungen, die ich mir angewöhnt habe, der Alltag, in den ich mich eingelebt habe – sie mögen bitte auch tragen!
Eine von außen herbeigeführte Veränderung kann aber auch fast schon beruhigend sein, wenn ich Sehnsucht danach habe, dass sich in einer allzu festgefahrenen, bequemen und durchaus auch dekadenten Welt endlich Grundlegendes ändern muss. Vielleicht wird das Ungewohnte mir und uns dabei zur Hilfe werden?
Und je nachdem, ob ich mit Mut und Zuversicht, mit Vertrauen und Glauben an das Gute in die Welt schaue oder mit Skepsis, festen Urteilen und Resignation, sehe ich dann auch unterschiedlich auf die Veränderungen des Tages. Das Glas ist längst halb leer – oder schon halb voll?
Rudolf Steiner beschreibt als Voraussetzungen eines geistigen Lebens verschiedene Übungen, die eine zentrale Stellung einnehmen, wenn unser inneres Leben gesund und unsere Wahrnehmung der Welt eine wahrhaftige sein sollen. Vieles von dem da zu Übenden kommt auch im Evangelium vor, namentlich in der Bergpredigt, und will uns auch dort den Weg zum höheren Ich, zu größerer innerer Autonomie weisen, den man auch den Weg zum »Christus in mir« nennen kann. Die Mystiker des Christentums haben in ähnlicher Weise einen inneren Weg beschrieben als die »Nachfolge Christi«. In seinem Schulungsbüchlein gleichen Namens schreibt Thomas a Kempis:
»Je größer und tiefer dein Wissen um die Dinge ist, desto strenger wirst Du gerichtet werden, wenn dein Leben nicht gerade um so viel heiliger gewesen sein wird, als deine Einsicht besser war.«2
Wie kann es uns gelingen, dass wir uns an der Krise nicht nur zu immer stärkeren Meinungen und Überzeugungen, sondern zu einer Einsicht entwickeln, in der das Menschsein im Mittelpunkt steht? Wie kann uns die derzeitige, immer wieder neue Lebenssituation dienen, um auf unserem inneren Weg ganzheitlich weiterzukommen? Dazu möchte ich in diesem Auftakt-Brief und dann in loser Folge in weiteren kleinen Artikeln einige Beobachtungen und Anregungen aufschreiben. Dabei ist mein Ausgangspunkt und die Ordnung meiner Gedanken in erster Linie die Beschreibung der Nebenübungen, aber es werden mit der Zeit auch andere, eher religiöse Aspekte hinzukommen, die ich zum Teil den Anregungen anderer und zum Teil eigenen Erfahrungen verdanke. Hier zunächst eine Art Überblick als erste Bestandsaufnahme:
1.
Gelingt es mir, meine Gedanken zusammenzuhalten, zum Beispiel im Gebet, in der inneren Arbeit, der Meditation, aber auch in der ganz gewöhnlichen Arbeit oder in einem Gespräch? Kann ich ihnen eine Richtung geben, ohne mich ständig ablenken zu lassen? Das ist gar nicht so einfach in diesen besonderen Zeiten, in denen wir so viele »Sorgen« haben! Was ist das: das Wesentliche? Die Sorgen um den sich verändernden Alltag, die dahinschwindenden Sicherheiten auf vielen Gebieten bringen mich einerseits in Gefahr, fahrig und unkonzentriert zu werden, zum Spielball der unablässig auf mich einströmenden äußeren Impulse. Andererseits fällt gerade in dieser Zeit auch einiges an Ablenkungen weg, die wir oft zur Verdrängung unserer eigentlichen Aufgaben nutzen – alltägliche Verrichtungen, Treffen, Termine, Abendveranstaltungen. Aber es entstehen auch neue Versuchungen: Die durchschnittliche Internet-Nutzungszeit steigt dramatisch an in Zeiten, in denen wir Informationen suchen, die uns in der neuen Lebenslage Sicherheit geben sollen. Zu einem selbstbestimmten Leben gehört es, sich selbst Grenzen zu setzen, auch in der Aufnahme von – vor allem digitalen, aber auch angelesenen – Informationen.
Denn: Eine Sensation jagt die andere, und man weiß oft nicht, wem man glauben soll. Und: Sind es überhaupt Glaubensfragen, die hier gestellt sind? Wie die Berliner Patienten-Initiative Gesundheit Aktiv schon ganz am Anfang der Pandemie schreibt: »Leider haben auch Fake News, Panikmache und Verschwörungstheorien Hochkonjunktur und gehen viral. Das raubt Energien, schwächt das Vertrauen und schafft zusätzliche Verunsicherung.«
Es entstehen neue Ängste, die oft bestimmender werden, als die, die das Krankheitsgeschehen selbst auslöst. Man braucht schon eine Portion gesunden Menschenverstand, um nicht an der Fülle des Materials zu verzweifeln – und Mut, um Komplexität und Widersprüchlichkeiten auszuhalten.
Mein Denken muss lernen, immer wieder neu hinzuschauen, ohne schnelles Urteil wahrzunehmen, Zusammenhänge zu erkennen, Lücken aufzuspüren in vermeintlich fertigen Erklärungen. So wie wir es bei wirklichen Wissenschaftlern erleben, die es sich zur Aufgabe machen, Transparenz herzustellen für eine breite Öffentlichkeit, indem sie darauf hinweisen, was man alles noch nicht weiß, und die gern zugeben, dass sie von Tag zu Tag dazulernen und bereit sind, auch Fehler und Fehlwahrnehmungen umgehend in ihre Betrachtung einfließen zu lassen, so müssen auch wir aufpassen, dass sich unsere Urteile nicht zu schnell verfestigen. Gerade die langsame Entwicklung von wachstumsfähigen Anschauungen statt Meinungen schafft Vertrauen und zeigt uns, was klare Gedanken sein können: immer neue Annäherungen an die Wirklichkeit, nie die letzte Wahrheit. Jeder kann sich kritisch fragen: Wie steht es insofern mit meinem Gedankenleben? Und wie kann ich es stärken?
2.
Wie steht es um meinen Willen? Schaffe ich es, zu tun, was ich will? Was will ich überhaupt? Weiß ich das – oder meine ich es nur zu wissen? Beobachte ich, was ich tue, so bemerke ich schnell, dass mein Handeln sich meist an Gewohnheiten und Stimmungen orientiert. Schaffe ich es, mir einen neuen, ganz eigenen Alltag unter neuen Bedingungen zu schaffen, so wie ich es eigentlich will? Kann ich Gewohnheiten noch ändern, bewusst neue aufnehmen, die in dieser Situation gesund sind? Oder kapituliere ich vor dem, was mir von außen entgegenkommt? Aber auch: Kann ich mich bewusst und »frei-willig« einordnen in größere Zusammenhänge – oder empfinde ich meinen Willen als von außen aufgezwungen, wenn nicht alles nach meinem gefühlsmäßigem »Möchten« geht?
Zu bewussten Willensimpulsen gibt es gerade jetzt viele Anregungen: So vieles habe ich mir früher vorgenommen für Zeiten, in denen ich mal einige Freiräume habe – tue ich das jetzt wirklich? Nicht jeder hat durch die Veränderungen wirklich mehr Zeit, aber was tue ich überhaupt in den Zeiten, die ich zur freien Verfügung habe? Es gibt viele Möglichkeiten für kleine Freiheiten drinnen und draußen, das große Aufräumen, mehr frische Luft und gesunde Bewegung sind immerhin auch bei verringertem Bewegungsradius gut möglich! Man kann üben, tief ein- und auszuatmen, den Kreislauf zu trainieren. Aber auch für genügend Schlaf zu sorgen, für gesundes Essen – und für eine innere Harmonie im Leben. Was für ein Luxus, dass wir das alles können! Im Vergleich mit den meisten anderen Menschen auf der Erde ist das wirklich viel!
Aber wie schaffen wir es, von all dem Guten, was man anpacken könnte, immer mehr auch tatsächlich zu tun?
3.
Innere Harmonie, Gefühlsgleichgewicht: Wie lasse ich mich immer weniger von meinen Gefühlen herumtreiben, lerne sie immer besser kennen und erhebe mich ein wenig über sie? Angst, Frustration, Zorn auf andere – das wollen wir alle gern loswerden. Aber auch überschwängliche Freude, Schwelgen in Genüssen, die mich von meinen Aufgaben ablenken, die kleinen Süchte aller Art … auch sie muss ich besser kennenlernen, wenn sie nicht die Herrschaft über meine Seele gewinnen sollen. Was hilft?
Ich denke da als Hilfe zunächst an das, was Frieden schafft in der Seele: die religiösen Grundgesten: Ehrfurcht vor dem Höheren, Dankbarkeit diesem Wesenhaften gegenüber, auch wenn es uns im Mitmenschen gegenübertritt oder in der Schöpfung. Und dann die Hingabe an mein, unser aller Schicksal mit der Frage: Was soll mir das? Was soll uns das alles? Ich muss den Blick nicht darauf richten, wer »schuld« ist, sondern darf mir vor die Seele führen, wozu die veränderte Lebenssituation auch dienen kann. Da höre ich überall auch viel Schönes – von der Zeit für Wesentliches, für Kunst, Lektüre, Partnerschaften, Familie, die nun endlich einmal da ist, bis zu einer Ruhepause für die Natur, die sich vom »Verbrauchtwerden« durch den Menschen hoffentlich ein wenig erholen kann. Solche Gedanken schaffen uns ein ruhiges Herz!
4.
So beginnen wir im Bewusstwerden unserer Gefühlswelt bereits, den neuen und verunsichernden Entwicklungen trotz aller Unbill auch positiv gegenüberzutreten, und das scheint fast am schwierigsten zu sein. Positivität zu üben, heißt ja nicht, sich alles schönzureden und völlig unkritisch zu werden gegenüber den deutlich auftretenden Schattenseiten der Entwicklungen und Krisen, die uns treffen. »Krise« aber heißt auch Entscheidungssituation, Punkt der Zuspitzung, an dem sich vieles offenbart, was vorher im Verborgenen lag. Insofern haben alle Krisen Offenbarungscharakter. Das ist nicht nur ein Phänomen des Untergangs, sondern vor allem die Stunde, in der sich zeigt, was an so manchem Alten schon immer schief war, sodass es nun neue Entscheidungen braucht. Wie lernen wir, mit einem wohlwollenden, nicht verurteilenden »Offenbarungsblick« auf die Phänomene zu schauen und die Chance des Neuen zu würdigen?
5.
Unvoreingenommenheit wird dabei zur Not-Wendigkeit, einer Eigenschaft die Not wenden kann. Wir müssen nicht alles beurteilen, Meinungen haben, Sündenböcke finden. Halten wir das aus – auch mal keine Meinung zu haben? Oder wenigstens anzuerkennen, dass unsere Meinungen nicht endgültige Wahrheiten sind, sondern oft nur Krücken zur Bewältigung unserer eigenen Unsicherheiten?
Wie oft werden wir Pfarrer nicht danach gefragt, was man denn nun von dem einen oder anderen Aspekt der Krise halten soll, wer »schuld ist«, wer »recht hat« … Dabei ist das ja gar nicht so einfach zu beantworten. Die Welt ist ein sehr kompliziertes Geflecht, ein Organismus, an dem wir alle Anteil haben. Menschliche – und gar menschheitliche – Entwicklungen bestehen aus einem größeren Ganzen von Einzelschicksalen und -handlungen. Das Abwägen verschiedener Interessen ist in einer immer bewusster werdenden Welt nie eine Frage von richtig und falsch. Vieles kommt darauf an, wie weisheitsvoll wir soziale Prozesse gestalten. Auch hier ist das Gewachsene sehr komplex, und es ist leichter, erstmal »dagegen« zu sein und zu kritisieren, als Neues zu gestalten.
Es ist eine Aufgabe unserer Zeit, wegzukommen von einfachen Erklärungen, Sündenböcken und Schwarz-Weiß-Denken. Dadurch wird das Leben anstrengender, bescheidener – und wahrhaftiger! Es lohnt sich, jeden Tag neu und unbefangen auf das zu schauen, was wir wirklich selbst wahrnehmen und nicht nur die Meinungen anderer nachzubeten und bei anderen Zustimmung zu suchen.
6.
Und schließlich können wir mit Goethe, Steiner und vielen anderen Weisheitslehrern feststellen, dass wir nur erkennen können, was wir lieben! Das Leben zum Beispiel, unser Schicksal, die Zeit, die uns herausfordert, Liebe und Solidarität mit den Schwächsten zu lernen!
Dabei ist Bauchgefühl noch nicht Herzdenken. Es geht zum Beispiel bei den Abstandsgeboten im Zusammenhang mit Corona nicht unbedingt darum, dass wir uns nicht anstecken wollen, oder dass wir für uns selbst Wege suchen, verschont zu bleiben, ein besseres Schicksal zu haben als andere, weil wir zu den »Guten« gehören! Man könnte aus Eigennutz auf den Händedruck verzichten – aber eben auch aus Rücksicht auf andere. Handle ich so, wie es »mir gefällt« (Bauchgefühl) oder so, wie es für den anderen gefällig ist (Empathie)? Denke ich zunächst an mich selbst, meine Gesundheit, meine Selbstentfaltung, meine wirtschaftliche Existenz? Oder will ich den Mitmenschen respektieren, schützen, anderen nicht zur Last fallen, indem ich leichtfertig mich und meine Nächsten gefährde durch mein meist ganz unbewusstes, aber doch eher selbstzentriertes Verhalten?
7.
Und in der Folge schließlich: Wie wirkt das alles im Sozialen? Kann man auf Abstand lieben? »Social Distancing« ist kein schönes Wort, obwohl es auch etwas von Respekt beinhaltet, Abstand wahren, um den anderen nicht zu vereinnahmen, übergriffig zu werden mit meiner Auffassung von Nähe. Ist es überhaupt eine wirkliche Distanz, die entsteht, wo ich mich physisch zurückhalte? Nur weil ich den Nächsten, das Du, nicht anfasse, umarme, ihm die Hand schüttele? Physischer Abstand kann durchaus einhergehen mit seelischer Nähe! Und das Gespräch wird vielleicht umso intensiver, weil wir es für eine Weile auch mal auf Abstand oder sogar schriftlich führen müssen! Oder nicht jeden Gedanken gleich aussprechen können …
In diesem Sinne wünsche ich uns allen, dass wir gesund werden in jeder Hinsicht, und dabei neugierig, offen und positiv bleiben!
»Gedankenkontrolle. Sie besteht darin, dass man wenigstens für kurze Zeiten des Tages nicht alles Mögliche durch die Seele irrelichtelieren lässt, sondern einmal Ruhe in seinem Gedankenlaufe eintreten lässt. Man denkt an einen bestimmten Begriff, stellt diesen Begriff in den Mittelpunkt des Gedankenlebens und reiht hierauf selbst alle Gedanken logisch aneinander, dass sie sich an diesen Begriff anlehnen. Und wenn das auch nur eine Minute geschieht, so ist es schon von großer Bedeutung für den Rhythmus des physischen und des Ätherleibes.«
Rudolf Steiner, Vor dem Tore der Theosophie.
Vortrag in Stuttgart, 2. September 1906
2. Brief
Erste Übung: Gedankenkontrolle
Liebe Freunde,
letzte Woche habe ich versucht, einen Übungsweg zu skizzieren, der es uns ermöglichen könnte, in seelischem Gleichgewicht durch diese und andere Krisen zu kommen. Mir ist bewusst, dass Rudolf Steiner, der die skizzierten »Nebenübungen« beschrieben hat, sie ursprünglich für Menschen gemeint hat, die einen geistig-seelischen Erkenntnisweg gehen wollen. Sie sollten dazu dienen, auf diesem Weg, der den Menschen leicht mit vieldimensionalen Wahrnehmungen aller Art überfordern kann, seelisch gesund zu bleiben, nicht einseitig oder »verschroben« zu werden durch die zu erwartende Fülle von Eindrücken, die schwer einzuordnen sind. Und es ging ihm darum, diese Wahrnehmungen objektiver zu machen, weil sie nicht gleich in die Vorurteile der Vergangenheit verpackt werden oder sich in Bilder kleiden, die wir schon mitbringen in unserem begrenzten Vorstellungsleben. Zumindest werden wir uns der Grenzen unserer Erkenntnisse durch die Übungen etwas bewusster.
Heute stehen wir nun insofern alle an der Schwelle zur geistigen Welt, als dass wir mit multidimensionalen Krisen konfrontiert sind. Wir sind damit in einer ähnlichen Situation wie vor hundert Jahren nur der »Geistesschüler«. Man kann beobachten, dass viele kleine Wahrnehmungen, die über das Alltägliche hinausgehen, längst so normal geworden sind, dass wir sie gar nicht als besonders spektakulär empfinden – und daher weiter mehr oder weniger geduldig auf Sensationelleres warten!
So ist es heute auch für uns alle notwendig, unsere Seelen zu üben im Sinne der vorbereitenden und begleitenden »Exerzitien«, wenn wir nicht in Einseitigkeiten abgleiten, d.h. »wunderlich« werden wollen. Vielleicht erklären sich manche unserer Verschrobenheiten tatsächlich dadurch, dass wir seelisch nicht in dem Gleichgewichtszustand sind, den diese Übungen anstreben?
So möchte ich heute anfangen mit dem ersten Bereich: der Übung des Gedankenlebens, das wir ja ständig in Gebrauch haben, meist ohne uns dessen bewusst zu sein. Es denkt in uns. Wir wollen dieses Denken aber kennenlernen und zunehmend selbst mitbestimmen, wohin wir denken, wie wir denken, wie wir auch vollständiger zu denken lernen können.
Wahrscheinlich haben viele es schon einmal mehr oder weniger erfolgreich versucht: die Gedanken täglich für fünf Minuten auf einen bestimmten alltäglichen Gegenstand zu lenken und nur Gedanken zu denken, die damit zusammenhängen. Das Streichholz, die Stecknadel, der Bleistift – ein Leben lang dasselbe, oder auch ab und zu etwas Neues … es geht nicht darum, den Gegenstand nur wahrzunehmen und zu beschreiben (obwohl man auch das machen kann und dies ebenfalls eine Gedankenübung ist). Vielmehr sucht man, Gedanken in logischer Folge aneinanderzureihen, die strikt mit dem Gegenstand des Denkens zusammenhängen. Dass man dabei neben dem Inhalt des Denkens auch auf das eigene Denken aufmerksam wird, versteht sich von selbst.
Wählen wir als Beispiel einmal die Gardine, ganz alltäglich, vielfach und vielerorts vorhanden, technisch nicht zu kompliziert. Übrigens gebiert ein menschengemachter »Gegenstand« andere Gedanken als ein Naturphänomen. Auch Naturobjekte und Prozesse sind interessant, vielleicht sogar viel spannender als menschengemachte Alltagsgegenstände. Da wir die primären Prozesse, die hinter solchen Gegenständen stecken, aber etwas besser kennen und sie zunächst oft auch leichter durchschaubar sind, eignen sich Gebrauchsgegenstände zum Anfang besonders gut. Es soll ja ruhig ein bisschen langweilig sein, um unser aktives Interessieren herauszufordern!
Wie kann ich nun vorgehen? Das hängt ganz von mir selbst ab – eben ich-bestimmt!
Eine Grundfrage lautet natürlich: Was ist eine Gardine? Und was ist so etwas ähnliches, aber eben keine Gardine mehr? Eine Jalousie? Ein Vorhang – ist das dasselbe – oder nur teilweise?
Die Begriffsabgrenzung führt schnell zu anderen Fragen: Warum hat man irgendwann angefangen, Gardinen aufzuhängen? Was waren das wohl für Gardinen? Wozu dienen Gardinen überhaupt genau? Wann braucht man sie?
Oder auch mehr auf das Augenblickliche fixiert: Wozu dient diese Gardine? Darin liegt gleich die Frage: Was könnte es noch für Anwendungsgebiete geben? Wie müssen entsprechende Gardinen beschaffen sein, die verschiedenen Zwecken dienen, etwa Lichtabschattung, Einschränkung der (Durch-)Sichtigkeit, Trennung von Räumen, Wärmedämmung, Dekoration / Farbgestaltung? Und die Liste ist noch lange nicht vollständig!
Und wie funktioniert überhaupt eine Gardine? Was muss sie können? Wir merken, dass ein Gedanke andere gebiert, je mehr Verbindungen wir schaffen können, umso mehr … Und nun beginnt das Sortieren: Was kann ich über den Ursprung hinaus für Gedanken denken? Über die Verwendungszwecke, die Materialien, die Technik in allen Variationen? Auch das Wort selbst, was beschreibt es? In verschiedenen Sprachen womöglich? Bezeichnen wir damit womöglich in anderen Sprachen und Kulturen etwas leicht anderes? Was für Variationen gibt es da?
Wie wir sehen, können Gardinen sehr spannend sein – und wenn ich es schaffe, mich zu interessieren, sind die fünf Minuten sehr schnell vorbei. Wenn ich keine Zusammenhänge herstellen kann, mir die Fantasie fehlt, viele Aspekte zu erfassen, mir nichts dazu »einfällt« – dann ist es genau das, was ich üben muss: mich von einem Gedanken zum nächsten vorzuarbeiten. Langsam aber sicher, vielleicht nur drei zusammenhängende Gedanken, dann allmählichimmer mehr. Denken heißt Verbindungen schaffen. Und zu entdecken,was zu einem möglichst vollständigen Bild noch fehlen könnte.
Was macht dieses mehr oder weniger regelmäßig ausgeführte, aber eher unscheinbare Experiment mit meinem Gedankenleben? Ich bemerke zum Beispiel neue Zusammenhänge, die mich gleichzeitig auch auf Allgemeineres aufmerksam machen: Es gibt nicht nur einen Verwendungszweck, auch wenn die von mir konkret angeschaute Gardine es nahelegen würde. Man kann Gardinen je nach Zweck aus verschiedenen Materialien (Immer Textil!? Warum?) herstellen, verschieden bedienbar machen. Ich werde offener für Vielseitigkeit. Gleichzeitig muss ich wohl auch feststellen, was keine Gardine ist – zum Beispiel ein wärmedämmender Teppich, der eine Türöffnung abdeckt. Und warum nicht? Grenzen werden deutlicher. Das lehrt mich denken, zum Beispiel, wo anderswo im Leben vielleicht auch andere Zusammenhänge bestehen, als es zunächst scheint.
Alles in allem geht es tatsächlich um eine Art Logik, die Ausbildung eines folgerichtigen Denkens: Nicht überall, wo irgendetwas mich an etwas anderes erinnert, gibt es unbedingt den Kausalzusammenhang, der sich unmittelbar aufdrängt. Rudolf Steiner spricht einmal von der fruchtbaren Landschaft, in der gesunde Rinder weiden. Machen die Rinder die Landschaft – oder die Landschaft die Rinder? Beides hat etwas für sich. Aber beides hat auch noch gemeinsame andere Ursachen: fleißige Menschen zum Beispiel, ein zuträgliches Klima und vieles mehr.
Man kann sich vorstellen, dass mit dem Üben des folgerichtigen Denkens das Gefühl wächst, dass die Welt verstehbar ist, wenn ich sie auch aufgrund der ihr innewohnenden Komplexität nie ganz verstehen werde, und das ist ein bedeutsames Erlebnis in Bezug auf das Kohärenzgefühl, das mich widerstandsfähig macht und stärkt in allen Herausforderungen des Lebens. Dieses Kohärenzgefühl besteht aus der Verstehbarkeit, der Handhabbarkeit und der Sinnhaftigkeit, die ich erlebe. Man könnte es auch Ich-Gefühl nennen. Ich erlebe mein Denken, also bin ich …
In der aktuellen Situation macht mich das urteilsfähiger, weil mir nach einiger Übung klar wird, dass nichts »monokausal« ist, sondern alles mit allem zusammenhängt. Und damit mich das nicht verwirrt, übe ich, Zusammenhängen gedanklich klar zu folgen.
Sehr oft denken wir ja nur das, was uns gefällt. Eigentlich fallen sogar die meisten Urteile nicht durch klares Denken, sondern mehr als Bestätigung von Gefühlen, die wir ohnehin schon hatten und für die wir eine Bestätigung suchen in den Urteilen, Meinungen, Äußerungen anderer. Dann leuchtet uns etwas ein. Anderes, unseren Gefühlen Widersprechendes, bekommt leider keine Chance …
Unser universitäres Denken, das nicht den Absolutheitsanspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben sollte, fördert leider oft ein solches »Bestätigungsdenken«. Da wird erwartet, dass der junge Forscher Thesen aufstellt und dann untersucht, ob (dass?) sie stimmen. Ergebnisoffenheit ist nicht überall gefragt. Dabei sind gerade unerwartete Ergebnisse oft der beste Beweis für solide Forschung. Sind wir in unserem eigenen Denken offen dafür, dass die Dinge auch ganz anders sein könnten, als wir erwarten?
Wir lernen durch diese Übung auch besser, in den Gedanken anderer das Richtige zu finden – und gleichzeitig gedankliche Begrenzungen und Einseitigkeiten aufzuspüren. Die meisten der Theorien und Forschungsergebnisse, die uns umschwirren, sind ja nicht völlig falsch, nur gedanklich mitunter nicht vollständig, weil sie notwendigerweise einseitig sind. Es fehlen eben überall Faktoren – und oft eine gewisse Offenheit. Man kann natürlich nicht anders, als zunächst aus einer Richtung schauen!
Wir erkennen auch mehr und mehr, auf die Art und Weise zu achten, wie Gedanken vorgetragen werden: Mit einer übergriffigen Überzeugungskraft, als Sensation, als alleinseligmachende Wahrheit – oder mit Vorsicht und Vorbehalt? Wenn mich eines beeindruckt an vielen der sich äußernden Wissenschaftlern in diesen Tagen, so ist es ein immer wieder deutlich ausgesprochenes Bewusstsein von der Begrenztheit der Erkenntnisse und die Fähigkeit, dazuzulernen von Tag zu Tag. Demjenigen, der zugibt, dass wir vieles (noch) nicht wissen, glaube ich mehr als dem, der vorgibt, die einziggültige Erklärung schon zu haben! Obwohl auch der wahrscheinlich zum Teil recht hat …
Was also »sollen« wir denken? Was für eine Frage! Unsere eigenen Gedanken im Verarbeiten der vielen Informationen, aber eben durch Übung des Gedankenlebens immer klarere, vollständigere und eigenständigere Gedanken. Oder, wie es die beiden Leiter der medizinischen Sektion am Goetheanum Georg Soldner und Matthias Girke in einem Brief zur Lage ausdrückten:
»Wenn wir uns der Wahrheit nähern, so erleben wir die Verbindung unseres Wesens mit der geistigen Welt. Das Erkennen der Wahrheit kann Freude, Zuversicht, Vertrauen, Erfüllung wecken. Wir begegnen einer Qualität, die eine notwendige Orientierung gibt, den Menschen aus Anspannung und Unsicherheit befreit und dadurch die leiblichen Gesundungskräfte verstärkt. Demgegenüber kränken die Unwahrheit und die Lüge: Sie trennen den Menschen von der geistigen Wahrheitswelt, isolieren ihn und behindern die heilenden Kräfte, die aus der Wahrheit fließen. Rudolf Steiner gab Hinweise darauf, dass die ›Lügen der Menschheit‹ epidemiologische Bedeutung haben können. Es geht dabei nicht um den einzelnen Patienten, sondern vielmehr um den Umgang mit Wahrheit in der öffentlichen Diskussion. In einer Zeit der fake news und wahrheitswidriger Entstellungen ist auch diese geistige Dimension von Bedeutung.
Vor diesem Hintergrund sind aber auch Verschwörungstheorien über den Ursprung dieser Pandemie problematisch, wie sie nicht selten auch in anthroposophischen Zusammenhängen zirkulieren. Der Wille im Denken, die Wahrheit zu prüfen, die Fülle der Nachrichten selbst zu verdauen und sich nicht einfach anstecken zu lassen von bloßen Behauptungen, bildet einen Teil unserer Immunität, für den wir selbst verantwortlich sind.«3
Die Übung der Gedankenkontrolle täglich durchzuführen, ist gleichzeitig eine erste Übung in der Durchgestaltung meines Tagesablaufes. Für viele Menschen ist das in einem umtriebigen Alltag eine große Herausforderung! Es ist aber ganz uns selbst überlassen, den richtigen Zeitpunkt im Laufe des Tages zu finden, und dabei ist gerade bei Eltern jüngerer Kinder viel Kreativität gefragt! Aber auch wer ganz frei ist in der Gestaltung seines Tages wird bemerken, dass die Anforderung an mich selbst groß ist!
Selbstverständlich gelingt es nur wenigen Menschen auf Anhieb, so etwas konsequent durchzuhalten, und sei es auch zunächst nur für einen Monat, wie Rudolf Steiner empfiehlt. Man darf aber täglich neu anfangen, möge duldsam mit sich selbst sein und vor allem nicht aufgeben. Tröstlich ist, dass es den allermeisten Übenden nicht viel anders geht im Verfehlen der selbstgesteckten Ziele!
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