Kitabı oku: «Rayan - Im Auge des Sturms», sayfa 6

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November 2005 - Alessia - Sackgasse

Ohne die Reaktion des Anwalts abzuwarten oder weitere Erklärungen abzugeben, rannte Taib aus dem Büro.

Mit dem Bus benötigte er mehr als eine halbe Stunde, bis er bei Leilas Haus angelangt war. Auf sein Klingeln hin wurde ihm rasch die Türe geöffnet, doch leider war seine kleine Reise umsonst gewesen: Bedauernd teilte ihm der Diener mit, dass sich seine Herrin außer Landes befinde. Die Studienzeit sei wieder angebrochen und Leila Abdullah befinde sich in London. Eine Telefonnummer könne man ihm nicht mitteilen.

Dass es sich eher um ein „Nichtwollen“, als ein „Nichtkönnen“ handelte, war Taib klar, doch konnte er verstehen, dass man die Telefonnummer seiner Herrin nicht einfach so an der Haustüre einem unangemeldeten Gast herausgeben wollte. Er fluchte. Was sollte er jetzt tun?

Nach einer Weile des Überlegens beschloss Taib, erst einmal zu Raschids Kanzlei zurückfahren.

Als er dort ankam, saß der Anwalt mit finsterer Miene beleidigt an seinem Schreibtisch, weil er derart stehen gelassen worden war.

Taib entschuldigte sich bei ihm und nach einigen Minuten kehrte das Lächeln in das Gesicht des alten Anwalts zurück. Schließlich beschlossen sie, für heute zur Feier des Tages die Arbeit zu beenden und stattdessen auszugehen. Selina, die Sekretärin schickten sie nach Hause.

Es wurde ein angenehmer Nachmittag und ein langer Abend, bis beide entschieden, dass es an der Zeit war, ins Bett zu gehen.

So sehr der alte Anwalt sich freute, seinen Schützling entgegen aller Erwartungen zurückbekommen zu haben, genauso machte es ihn im Laufe der Zeit auch ein wenig traurig. Denn die Veränderungen in Taib waren unverkennbar. Obwohl er sich körperlich wieder voll erholt zu haben schien, waren die seelischen Schäden, die er davongetragen hatte, unumkehrbar. Der Verlust von Frau und Kind und die erlittenen Qualen der Folter, die er über sich hatte ergehen lassen müssen, hatten einen Teil seines Innersten zerstört. Der Mann, der früher durchaus einen Sinn für Spaß gehabt und gerne gelacht hatte, war nun verbittert und hart geworden. Humor schien ihm fortan ein Fremdwort zu sein.

02.02.2015 - München: Flughafenhotel - Der Abschied

Leise, um Miriam nicht zu wecken, erhob sich Rayan und ging ins Badezimmer. Er duschte und kleidete sich dort an. Es war 21 Uhr und in einer Stunde ging sein Flug nach Dubai, von wo aus er dann einen weiteren Flieger nach Alessia nehmen würde. Er musste also los. Nachdem er außer Hanifs Gewehrkoffer, den er mit in die Kabine nehmen würde, keinerlei Gepäck hatte und es nur wenige Minuten Fußweg bis zum Gate waren, war er zeitlich genau richtig, ohne zu sehr hasten zu müssen.

Zurück im Schlafraum zog er sein Sakko über, steckte Geldbeutel und Ausweise ein und legte seine Armbanduhr an. Dann beugte er sich zur im Bett liegenden Frau hinunter, küsste sie sanft auf ihre Wange.

„Schlaf noch so lange, wie du möchtest, das Zimmer ist ohnehin bis morgen früh bezahlt. Danke für die wunderbare Zeit! Ich habe meine Handynummer in dein Mobiltelefon eingespeichert. Ruf mich an, wenn du einmal etwas brauchst oder in Schwierigkeiten bist. Du bist eine wirklich außergewöhnliche Frau!“

Miriam murmelte etwas, das er nicht verstand, dann war sie bereits wieder erschöpft eingeschlafen.

Nach dem Essen hatten sie sich mehrmals leidenschaftlich geliebt, dann war Miriam in seinem Arm ins Land der Träume abgedriftet. Neidisch hatte er sie eine Zeitlang beobachtet, bis es Zeit war, aufzubrechen.

Er meinte, was er zu ihr gesagt hatte und ihm ging es dabei nicht um den Sex, den sie gehabt hatten. Auch dieser war durchaus ein Erlebnis gewesen. Aber was Miriam ihm von ihrem Leben erzählt hatte, hatte ihm verraten, dass sie es nicht leicht gehabt hatte und es nur aufgrund Ausdauer und Durchhaltevermögen bis hierher geschafft hatte.

Nachdem er selbst nach seiner Flucht aus Zarifa im Alter von 16 Jahren ohne jegliche finanziellen Mittel auf sich allein gestellt gewesen war, wusste er Miriams Lebensweg zu schätzen.

Rayan gab normalerweise keiner der Frauen, mit denen er Sex gehabt hatte, danach seine Telefonnummer. Aber Miriam hatte ihn beeindruckt. Sollte sie jemals Probleme haben, würde er zu seinem Wort stehen und ihr nach Möglichkeit helfen.

Lächelnd schloss er leise die Zimmertür hinter sich und machte sich auf dem Weg zum Flugsteig. In knapp acht Stunden würde er morgen früh in Dubai landen. Aufgrund der Zeitverschiebung war der Touchdown um 8 Uhr morgens. Die Aussicht auf einen Linienflug begeisterte ihn zwar nicht besonders, aber vielleicht konnte er ja nun etwas schlafen.

Miriam dagegen schlief tief und fest bis zum folgenden Morgen durch. Sie hatte phantasiereiche, aber durchaus angenehme Träume. Ein wenig enttäuscht wachte sie morgens alleine auf.

Dunkel erinnerte sie sich an seine Worte und prüfte sofort nach, ob sie wirklich Besitzerin eines neuen Telefonbucheintrags in ihrem Handy war. Und tatsächlich fand sie Rayans Nummer auf Anhieb.

Sie überlegte, ob sie ihm eine Nachricht zukommen lassen sollte, zögerte aber, was sie schreiben könne, ohne sich lächerlich zu machen. „Danke“? Nein ganz sicher nicht! „Es war schön“? Wie abgedroschen!

Was hatte er zu ihr gesagt, als er gegangen war, vielleicht konnte sie darauf Bezug nehmen? Doch sie konnte sich nur vage daran erinnern, weil sie viel zu sehr verschlafen gewesen war. Irgendetwas über das Zimmer, das bezahlt sei …? Ja, das war es gewesen. Aber dazu etwas schreiben? Nein.

Dann fiel der Polizistin in ihr etwas anderes auf: nicht etwa das, WAS er gesagt hatte, sondern WIE er es gesagt hatte! Und grinsend tippte sie die Worte in ihr Display: „Guten Morgen. Du hast einen Fehler gemacht! Jetzt kenne ich ein weiteres Geheimnis von dir: dass du unter anderem sehr gut Deutsch sprichst … LG Miriam“

Bereits kurze Zeit später erhielt sie seine Antwort – ebenfalls in Deutsch geschrieben: „Du hast mich ertappt.“ Der Rest des Textes war in Arabisch, eine Grußformel und gute Wünsche.

Miriam musste lächeln. Dieser mühelose Wechsel der Sprache war so typisch für ihn. Aber der deutsche Teil rief Zweifel in ihr hervor: War es wirklich ein Versehen gewesen, dass er Deutsch gesprochen hatte?

Dann merkte sie, dass das genau seine Absicht gewesen war – sie zu verwirren. Und erneut war sie ihm auf den Leim gegangen. Lächelnd duschte sie sich, zog sich an, gönnte sich noch ein ausgiebiges Frühstück und machte sich auf den Weg zur Arbeit.

Als ihre Kollegen ihre ausgesprochen gute Laune bemerkten, wollten sie sie mit allerlei anzüglichen Bemerkungen über ihren gestrigen Tag necken. Es hatte sich natürlich herumgesprochen, warum sie so kurzfristig zu diesem besonderen Fall gerufen worden war.

Doch sie nahm ihnen allen den Wind aus den Segeln, indem sie antwortete: „Was wollt ihr? Ich habe luxuriös gegessen und hatte danach den besten Sex meines Lebens!“

Sprachlos starrten ihre Kollegen sie an. War das ihr Ernst? Und wenn ja, warum teilte sie es ihnen so offen mit? So brachten ihre Bemerkungen die Kollegen zum Schweigen und die Männer zum Grübeln. Das hatte sie von Rayan gelernt.

Grinsend machte sie sich an ihre Arbeit.

05.02.2015 - Hummers Haus in Alessia - Terminplanungen

Rayan betrat vom Haus aus den Garten von Hummers Anwesen und ging zu dem kleinen Pavillon, von dem man ihm gesagt hatte, dass er dort Carina finden würde.

Von weitem nahm er sich einen Moment Zeit, Carina in Ruhe zu betrachten. Er liebte diese Frau noch immer. Was auch immer er inzwischen mit anderen Frauen gehabt haben mochte – es waren alles Flüchtigkeiten gewesen. Niemals war ihm eine Frau derart unter die Haut gegangen wie Carina. Noch nicht einmal Amina, Tahsins Mutter, die er ebenfalls geliebt hatte, hatte die gleiche Macht über ihn besessen.

Doch durfte er sich jetzt nicht von diesen Gefühlen beeinflussen lassen. Sein Entschluss stand fest.

Er trat leise an die Liege, auf der sie es sich mit einer Decke zum Lesen bequem gemacht hatte. Es war ein typischer Wintertag mit etwa 25 Grad.

Wie von ihm beabsichtigt, bemerkte sie ihn erst, als er direkt neben ihr stand. Sie schreckte von ihrer Lektüre auf. „Rayan, Gott sei Dank, es geht dir gut!“, so gut es mit ihrem bereits merklich runden Bauch ging, stand sie auf. Rayan widerstand der Versuchung, ihr dabei zu helfen.

Er entgegnete nichts und schaute sie stattdessen nur kühl an. „Hallo Carina“, war alles, was er ihr entgegnete. Sie hatte Deutsch gesprochen, doch er antwortete in Arabisch. Es war das perfekte Mittel, seinen Wunsch nach Distanz zum Ausdruck zu bringen.

„Was ist in München passiert? Hast du Probleme gehabt mit der Polizei?“, fragte sie mit einer Mischung aus Neugier und Besorgnis. „Immer ganz die Reporterin“, fuhr es Rayan durch den Kopf.

Es trug keineswegs dazu bei, seine Laune zu verbessern.

Laut sagte er nur: „Nein, keine Probleme – wie du siehst, bin ich hier. Ich bin gestern mit dem Flieger aus Dubai hier angekommen.“ Er wollte sie wissen lassen, dass sie keineswegs sein erstes Ziel nach seiner Ankunft gewesen war, sondern er sich im Gegenteil sogar Zeit gelassen hatte, um nach ihr zu sehen. An ihrem Blick konnte er sehen, dass es sie verletzte – ganz wie er beabsichtigt hatte.

Doch Carina ließ sich nicht entmutigen, sie kannte ihn und seinen Stolz inzwischen gut genug, dass sie eigentlich mit nichts anderem gerechnet hatte.

Darum fuhr sie gelassen im Plauderton fort: „Ja das hab ich bereits gehört, du wolltest zuerst ins Krankenhaus, um nach den Ergebnissen der Proben der Attentäter zu fragen. Und? Habt ihr etwas herausgefunden?“

Ein wenig hämisch stellte sie fest, dass Rayans Augen blitzten. Es war ihm überhaupt nicht recht, dass sie derart detailliert informiert war.

Rayan nahm sich vor, mit dem Anführer der Wachen, die Ruhi zu Carinas Schutz abgestellt hatte, ein ernstes Wort zu reden. Denn diese Information konnte ja nur von einem der Aufpasser stammen. Der würde sich warm anziehen müssen.

Als Rayan nicht antwortete, drängte Carina weiter: „Nun komm schon, schließlich bin ich auch persönlich betroffen. Was schätzt du, bis wann ihr die Hintermänner gefunden habt? Ich möchte wieder nach Hause – nach München und in meine eigene Wohnung!“

„Ach weißt du“, antwortete Rayan gedehnt, denn das Gespräch nahm genau den Verlauf, den er geplant hatte und er holte langsam zu seinem Höhepunkt aus. „Den Namen des Hintermannes hat uns der Anführer in München ja freundlicherweise verraten. Das vereinfacht und beschleunigt die Dinge …“ Und mit einer gewissen Genugtuung sah er die Erleichterung in Carinas Gesicht. Sie hoffte auf eine baldige Heimkehr nach Deutschland. Noch.

Abrupt wechselt er das Thema: „Wie ich höre, war der Arzt mit deinem Gesundheitszustand höchst zufrieden? Dem Baby fehlt nichts?“

Carina war verblüfft über den schnellen Themenwechsel. Doch dann antwortete sie, ehrlich erfreut über sein Interesse: „Ja, alles bestens. Danke.“

„Und der Arzt hat deinen Zuspruch gefunden? Bei dieser Art von Untersuchungen ist es ja auch wichtig, dass sich die Mutter auch wohl fühlt …“, er ließ den Satz etwas verlegen verklingen.

Ebenfalls peinlich berührt lachte Carina kurz auf. „Ja, er war ganz bezaubernd. Sehr sympathisch. Ich bin Hanif sehr dankbar, dass er so besorgt um mich war und auf dieser Untersuchung bestanden hat.“

Von wegen Hanif, dachte sich Rayan, in dessen Auftrag die Untersuchung durchgeführt worden war. Aber diese Information behielt er noch für sich.

Carina dachte, mit ihrer Bestätigung sei das Thema abgeschlossen, aber Rayan hakte nochmals nach: „Und es hat dir nichts ausgemacht, dass es ein Mann war? Oder wäre dir die Behandlung durch eine Frau lieber?“

Sie war verwirrt, wieso stellte Rayan ihr diese Fragen?

„Nein, das ist schon in Ordnung. In München gehe ich ebenfalls zu einem männlichen Frauenarzt.“

Rayan nickte zufrieden: „Dann ist ja alles prima. Denn weißt du, du hast vorhin danach gefragt, wie lange es wohl dauern wird, bis wir die Männer erwischen. Doch dies ist nur die eine Zeitkomponente, was deinen Aufenthalt hier angeht.“ Er hielt kurz inne, um sicherzugehen, dass er Carinas volle Aufmerksamkeit hatte. In ihren Augen konnte er eine Ahnung aufkeimen sehen und setzte nach: „Der andere Zeitpunkt ist der Termin der Entbindung. Etwa 10. Mai, nicht wahr?“

Letzteres war natürlich eine rhetorische Frage, denn der Arzt hatte ihm das Datum bereits bestätigt.

Misstrauisch beantwortete Carina die Frage trotzdem: „Stimmt. Was soll das bitte heißen?!“

Rayan machte sich nicht die Mühe, den Triumph aus seiner Stimme zu verbannen, als er ihr antwortete: „Dass du bis zur Entbindung hier bleibst natürlich. Danach kannst du gehen.“

Er betonte das Wort „du“ derart, dass kein Zweifel aufkommen konnte, dass diese Erlaubnis nicht für das Baby galt.

Carina riss die Augen auf und holte Luft um ihrer Entrüstung Ausdruck zu verleihen. Doch er kam ihr zuvor: „Was denn? Überrascht dich das wirklich?! Du hattest vor, mir mein Kind vorzuenthalten! Und es bei diesem Sascha aufzuziehen. Aber nicht mit mir.“ Rayan wusste natürlich ganz genau, dass Carinas Ex-Freund Sven hieß, doch er wollte sie damit zusätzlich ärgern.

Und ohne ihre weitere Reaktion zu beachten, drehte er sich mit den Worten um „Und nun reg dich nicht so auf, das schadet meiner kleinen Tochter!“, und ließ Carina stehen.

Sie schrie ihm einige Beschimpfungen in Deutsch und Arabisch hinterher, die ihn aber nicht auf seinem Weg nach draußen aufhielten. Ein breites Grinsen war auf seinen Lippen.

„Meine kleine Tochter“, wie schön es war, sich diese Worte auf der Zunge zergehen zu lassen.

November 2005 - Alessia - Unendliche Sturheit

Am nächsten Morgen schockierte Taib seinen Chef, indem er ihm mitteilte, dass er sich zwar sehr über die Abstammungsurkunden freue, jedoch das Angebot für das Studium ablehne.

Und zum zweiten Mal innerhalb eines Tages saß Raschid mit offenem Mund an seinem Schreibtisch. „Aber wieso?!“, sein kompletter Ausdruck zeigte Verwirrung und komplettes Unverständnis.

Gelassen antwortete Taib ihm, der natürlich mit dieser Reaktion gerechnet hatte: „Ich habe gestern Abend noch lange darüber nachgedacht. Ich lasse mich nicht auf eine derartige Geschichte ein, wenn ich nicht weiß, was genau dahinter steht. Am Ende bin ich nachher erpressbar. Nein danke! Ich will mein eigener Herr bleiben.“

Sein Gesicht verriet, dass das für ihn das letzte Wort war.

Raschid Aziz kannte seinen Schützling mittlerweile gut genug, dass der in seiner unendlichen Sturheit einen Entschluss gefasst hatte, den er ihm nicht mehr ausreden konnte. Er seufzte und begab sich kopfschüttelnd wieder an seine Arbeit.

Es war einige Tage später, dass Raschid einen Anruf erhielt, den er schon die ganze Zeit gefürchtet hatte: Scheich Rayan Suekran erkundigte sich, ob der Umschlag angekommen war. Sie hatten in den letzten Wochen mehrfach telefoniert, doch stets hatte der Scheich sich bei ihm gemeldet, nie hatte er ihm eine Telefonnummer für Rückrufe aufgegeben. Offenbar wollte er nicht gestört werden.

Zunächst bedankte sich der Anwalt höflich in seinem und Taibs Namen und äußerte seine Bewunderung für die gelungene Beschaffung all dieser Unterlagen.

Dann gestand er zerknirscht und unendlich verlegen dessen Entschluss, das Studium nicht wahrnehmen zu wollen. Einige Sekunden lang war es still am Telefon, dann sagte Rayan: „Ich verstehe.“ Seinem Tonfall war nicht anzuhören, was er dachte. Kurz danach beendeten sie das Telefonat.

Erleichtert atmete der Anwalt auf, dass er die schlechte Nachricht endlich überbracht hatte. Ihm war klar, dass es eine absolute Beleidigung war, ein derart großzügiges Angebot abzulehnen.

Eine Weile überlegte er, wie der Scheich wohl darauf reagieren würde, dann gab er diese Gedankenspiele auf. Ihm war klar geworden, dass er im Trüben fischte. Von komplettem Ignorieren bis hin zu einem Racheakt an Taib konnte er sich alles vorstellen. Er hoffte bloß, dass der Junge seine Sturheit nicht eines Tages bereuen würde.

Anfang März 2015 - Hummers Haus in Alessia - Stolz und Unnahbarkeit

Carina hatte den Diener kurzerhand zur Seite gedrückt und die Tür zu dem dahinterliegenden Trakt des Hauses geöffnet. Seinen Protest ignorierte sie einfach.

Sie war vorher noch nie hier in diesem Nebengebäude gewesen, obwohl sie nun schon einige Zeit mehr oder weniger freiwillig in Hummers Haus wohnte.

Sie war um 10 Uhr mit Rayan verabredet gewesen, inzwischen war es bereits 10 Uhr 15. Ihr war klar, dass er sie absichtlich warten ließ und sie war entsprechend empört. Seit ihrem letzten Gespräch Anfang Februar hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Das war fast vier Wochen her!

Mit Beharrlichkeit hatte sie es nun endlich erreicht, dass er einem Treffen zugestimmt hatte und dann war er noch nicht einmal pünktlich. Ein Diener hatte ihr mitgeteilt, dass der Herr noch nicht bereit sei. Und das hatte das Fass bei Carina zum Überlaufen gebracht.

Wutentbrannt enterte sie den großen Raum, nur um wie angewurzelt stehen zu bleiben. Mit offenem Mund sah sie sich um. Mit diesem Anblick hatte sie nicht gerechnet, denn offenbar handelte es sich um eine großzügige Badeanlage. Im Halbdunkel des Raumes konnte sie Fliesen in verschiedenen Brauntönen erkennen. Von hell-sandfarben bis zu elegantem Mahagonibraun. Modern, aber doch im Stil der alten Badeanstalten aus der Römerzeit. Was durch goldene Armaturen und Säulengänge unterstrichen wurde.

In der Mitte befand sich eine gigantische Badewanne, wobei dieser Begriff reichlich untertrieben war: ebenfalls gefliest und etwa vier mal vier Meter groß. Einige Treppenstufen führten hinein in das dampfend warme Wasser.

Und dort sah sie Rayan. Er stieg gerade aus dem wohlriechenden Schaumbad.

Carina traute kaum ihren Augen, als sie die fünf Badefrauen bemerkte, die sich sofort seiner annahmen. Sie waren alle vollständig bekleidet in edlen Seidengewändern und hübsch aufgemacht mit sorgsam frisierten Haaren und einem leichten Schleier vor ihrem Gesicht, der allerdings durchsichtig war.

Von beiden Seiten traten zwei der Mädchen an ihn heran und begannen, ihn an Armen, Beinen und dem Rücken abzutrocknen. Rayan selbst verharrte am Rand des Beckens und hob lediglich beide Arme ein wenig an.

Dann trat die dritte Frau von vorne an ihn heran und erkundigte sich, ob sie „ihrem Herrn auch den Rest seines Körpers abtrocknen dürfe“, was Rayan bejahte. Da dies ganz offenbar nicht nur seinen Bauch, sondern auch die Region zwischen seinen Beinen beinhaltete, schoss Carina das Blut ins Gesicht, während sie diese Szene heimlich mit beobachtete. Sie schwankte zwischen verschiedenen Emotionen: Peinlich-Berührt-Sein, über Empörung bis hin zu Bewunderung. Eigenartigerweise verspürte sie keinerlei Eifersucht.

Aber aufgrund der Bekleidung schlussfolgerte Carina richtig, dass die Frauen Rayan nicht im Wasser begleitet hatten, sondern sich erst außerhalb des Bades um das Wohlbefinden ihres Herrn kümmerten.

Keiner der sechs Personen schien Carina bemerkt zu haben, worüber sie inzwischen froh war. Denn ihr war nun klar, dass ihre Ungeduld sie wieder einmal in eine unangenehme Lage gebracht hatte. Sie beschloss, das Beste daraus zu machen und beobachtete einfach fasziniert weiter das Geschehen.

Kaum war Rayan an allen Stellen hinreichend getrocknet, kamen die beiden bisher untätigen Mädchen zum Einsatz: Mit sanften Bewegungen begannen sie, den muskulösen Körper ihres Herrn einzuölen.

Die ganze Situation war für Carina derart ungewohnt, fast surreal, dass sie beschloss, sich weiterhin nicht zu erkennen zu geben.

Zum einen konnte sie sich von Rayans nacktem Körper nicht losreißen, den sie nun schon eine ganze Weile nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte. Obwohl sie lediglich die Rückseite mit den festen Pobacken und vor allem seine muskelbepackten Oberarme sehen konnte, erschien er ihr noch schöner als in ihren Träumen. Denn zu ihrem Leid musste sie sich gestehen, dass sie noch immer von ihm träumte. Alle ihre Vorsätze, sich endlich von ihm zu lösen, waren vergeblich.

An diesem Eindruck änderten auch keineswegs die grausamen Narben etwas, die seinen kompletten Rücken in weisen Linien durchzogen. Ein makabrer Kontrast zu dem tiefen Braun seiner Haut. Doch statt sie abzustoßen, vermittelte ihr dieser Anblick wilde Eleganz, was sie eher noch mehr faszinierte. Sie wusste, dass nicht viele Menschen das Geheimnis dieser Narben kannten und konnte einen gewissen Stolz nicht verleugnen. Stolz und Zuneigung. Am liebsten wäre sie zu ihm geeilt und hätte ihn tröstend in die Arme genommen. Doch das war nicht möglich. Wie hatte es nur so weit kommen können? Und wieso interessierte sie sich überhaupt noch für diesen Mann? Sie konnte dieses unglaubliche Gefühl, dass sie keine andere Wahl hatte, als ihn zu lieben, nicht mit Logik erklären.

Das umso mehr, als sie sich angesichts ihrer Lage als „Besucherin ohne Erlaubnis, das Grundstück zu verlassen“ - andere würden dazu „Gefangene“ sagen - vorgenommen hatte, ihn zu hassen. Sie schaffte es nicht. Es war, als unterliege sie seinem Bann, ohne Chance auf eigenen Willen.

Verstärkt wurde dieses Gefühl von der Gesamtsituation, die sich ihr im Moment darbot: wahrscheinlich zum ersten Mal überhaupt wurde sie sich im vollen Ausmaß seiner edlen Abstammung bewusst. In Zarifa war sein Haus zwar groß und durchaus gut ausgestattet, vor allem im Hinblick auf die neueste Technik, aber insgesamt doch eher „normal“ und keineswegs so opulent wie dieses Gebäude. Und auch bei ihren vielen Stunden in der Wüste hatten seine Männer Rayan zwar immer mit Respekt und Verehrung behandelt, aber er hatte keineswegs auf irgendwelchen Luxus bestanden.

Nun aber diese schönen, in zarte Gewänder gehüllten Frauen zu sehen, wie sie ihm in diesem königlichen Raum ehrfurchtsvoll dienten, das war in gewisser Hinsicht ein Augenöffner. Zum ersten Mal überhaupt nahm sie Rayan wahr, wie zum Beispiel Jassim ihn sah. Und ihr wurde klar, wieso der Leibwächter seit der Abfuhr, die sie seinem Scheich in München erteilt hatte, kein Wort mehr mit ihr gesprochen hatte. Wenn sie sich trafen, ignorierte er sie oder schaute sie derart verächtlich an, dass Carina inzwischen einen Bogen um ihn machte.

In welcher Welt hatte sie vorher eigentlich gelebt? Nun war ihr umso deutlicher klar, wieso sie sich immer wieder in Rayans Gegenwart so befangen fühlte. Auf einmal hatte sie Verständnis für seinen Stolz und schämte sich ein wenig, dass sie ihn immer derart herausgefordert hatte. Wer war sie, sich so etwas herauszunehmen? Musste sie nicht froh sein, wenn sie dieser Mann überhaupt eines Blickes würdigte? Er könnte statt ihrer eine Prinzessin haben. „Oder mehrere“, fügte sie ironisch hinzu.

Inzwischen hatten die Dienerinnen die Ölung beendet und kleideten Rayan an.

Er stand nach wie vor still und Carina wurde an eine dieser Steinstatuen der alten römischen Könige erinnert, die sie in Rom bewundert hatte. Ihr Mund war trocken und sie wagte kaum zu atmen. Schlagartig fühlte sie sich erneut wie ein Eindringling, der hier nichts zu suchen hatte.

Doch zurück konnte sie nun auch nicht mehr. Also wartete sie, bis die Frauen ihre Aufgaben beendet hatten und sich zurückzogen. Jede von ihnen verneigte sich einzeln tief vor Rayan, wobei sie ihm die Hand küssten.

Mit stolzer Miene und völlig unbeweglich ließ Rayan es geschehen. Rückwärts zogen sie sich dann geräuschlos zurück und verschwanden durch eine Tür am anderen Ende des Raumes. Erst dann kam Bewegung in ihn, indem er sich umwandte und in Richtung des Ausgangs kam, durch den Carina den Saal betreten hatte.

Sie nahm all ihren Mut zusammen und trat aus dem Schatten der Säule.

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