Kitabı oku: «Anguckallergie und Assoziationskettenrasseln», sayfa 3
Wieder zu Hause angekommen, zog eine euphorische Stimmung durch die gesamte Familie, denn obwohl der kleine Urlaub zumindest für einen Teil der Familienmitglieder körperlich anstrengend sowie auslaugend war und wir nach unserer Rückkehr erst einmal ein paar Tage zur physischen Erholung benötigten, werteten wir die Reise als vollen Erfolg und hatten uns damit wieder ein Stückchen Normalität im Familienalltag zurückerobert. Mit Benjamin zu verreisen, blieb auch in den folgenden Jahren schwierig, aber sofern die Urlaube nicht länger als vierzehn Tage dauerten und mit Aktivitäten wie Kinobesuchen, Burg- oder Museumsbesichtigungen, Erkundungen von Freizeitparks … angefüllt waren, lief alles ganz gut. Faule Tage ohne Strukturen waren nicht möglich, weil unser Sohn dann nichts mit sich anzufangen wusste und nur noch quengelte, weil er nach Hause fahren wollte. Nach dem Entwickeln der Bilder fiel mir auf, dass Benjamin auf allen Fotos, die ich von den Kindern mit den verschiedensten Animateuren geschossen hatte, immer einen gepflegten Sicherheitsabstand zu dem schaurigen Piraten, dem würdevollen König oder den anderen Unterhaltern wahrte, während Conrad auf allen Bildern in Körperkontakt mit den fremden, aber liebenswerten Personen stand. Obwohl Benjamin es war, der diese Fotos von mir forderte, duldete er keinen um seine Schultern gelegten fremden Arm und gab niemandem seine Hand. Ein anderes Foto zeigte unsere Kinder zusammen mit ein paar fremden Kindern, wie sie am Lagerfeuer des großen Indianerhäuptlings saßen und die Arme im wilden, spielerischen Kriegsgeschrei nach oben rissen. Der Häuptling saß zwischen Conrad und Benjamin und erst auf dem Foto erkannte ich, dass er Benjamins Arme hochgehoben hatte und in der Luft festhielt, was Benjamin aber nicht zu stören schien. Als ich dieses Foto verblüfft Leon zeigte, sagte er dazu: „Die haben eben gut geschultes Personal, wenn sie mitbekommen, wenn ein Kind nicht mitgeht, und ihm dann helfen.“ Dieses Foto ist mein liebstes Urlaubsfoto, weil so viele verborgene Wahrheiten in einem einzigen Bild stecken.
Der, die, das – was?
Die Weisen sagen: Beurteile niemand, bis du an seiner Stelle gestanden hast.
Johann Wolfgang von Goethe
Benjamins Vorschullehrerin, die wir für immer in guter Erinnerung behalten werden, hatte recht gehabt. Unser Sohn nahm an der Schulaufführung für die diesjährigen Schulanfänger teil und das machte uns sehr stolz, obwohl wir uns diese Darbietung aus Platzgründen nicht anschauen durften. Er spielte einen Hahn in einem Waldmärchen und ich hatte für ihn ein Kostüm aus weichem Baumwollstoff genäht, sodass seine Erzieherin sogar „Recht vielen Dank für das wunderschöne Kostüm!“ in sein Mitteilungsheft schrieb. Es war Benjamins bisher größter Auftritt, wobei er schauspielern und einige Male „Kikeriki!“ rufen musste. Noch vor einem Jahr war dies für uns nahezu unvorstellbar gewesen.
Anabel, ein Mädchen aus Benjamins Klasse, bescherte unserem Sohn seine allererste Einladung zu einem Kindergeburtstag. Ich rief daraufhin Anabels Mutter an, um mit ihr über meinen Sohn zu reden und um ihr zu verstehen zu geben, dass Benjamin nicht allein auf der Party bleiben wird. Sie erwiderte, dass Anabel eine Einzelfallhelferin habe, die bei der Kinderbetreuung auf der Feier helfen würde, und so vereinbarten wir, dass ich dann operativ entscheiden werde, ob ich bleibe oder gehe. Dies war wieder eine neue Herausforderung für uns, obwohl Benjamin schon viele Geburtstagspartys seiner Brüder mehr oder weniger durchlitten hatte. Solche Feiern zu Hause mit fremden Kindern ließen sich nur durchführen, wenn Leon anwesend war, weil Benjamin an derartigen Tagen eine Person für sich zum Abschirmen, Aushalten oder auch manchmal zum Mitmachen benötigte, wie beispielsweise bei LEGO-Bauwettbewerben oder beim Puzzeln auf Zeit. Anabel, ein spastisch gelähmtes Mädchen im Rollstuhl, hatte eine gesunde Zwillingsschwester. Die Mutter der beiden Mädchen war alleinerziehend. Während Anabel nur Benjamin eingeladen hatte, freute sich ihre Schwester Isabel auf vier Gäste. Wir würden also auf sechs unbekannte Personen treffen und mit diesen den Nachmittag verbringen, das war eine enorme Herausforderung.
Unterwegs versetzte mich mein Sohn in Erstaunen, weil er für jedes Mädchen eine einzelne Rose kaufen wollte. Woher hatte er nur solche Ideen? Vielleicht aus einem Trickfilm? Anabel war über diese Rose hocherfreut, sie sagte, dass wäre ihr schönstes Geburtstagsgeschenk, und ihre Mutter zeigte sich erleichtert über meine Anwesenheit, da die Einzelfallhelferin plötzlich erkrankt war. Beim Essen des selbst gebackenen Geburtstagskuchens fiel Benjamin wie immer durch sein enormes Esstempo und die verzehrte Menge auf, aber ich konnte ihn nur am Tisch halten, wenn er aß, denn sonst würde er zum Fernseher laufen, einen Videofilm aus dem kleinen Regal darunter ziehen und damit gegen den Fernseher klopfen, so wie er es schon kurz nach der Begrüßung getan hatte. Isabels Gäste witzelten über Benjamins Tischmanieren, aber mein Sohn reagierte darauf nicht und ich war unschlüssig, wie ich mich jetzt verhalten sollte. Noch ehe ich einen Entschluss fassen konnte, wechselten sie das Thema und begannen, sich haarsträubende Witze über Behinderte zu erzählen. Ich fand das völlig unangemessen und wäre am liebsten explodiert, aber sowohl Anabel als auch ihre Mutter blieben ganz ruhig und warteten ab, bis das Thema zu den Pokémons gewechselt wurde. Also verhielt ich mich auch ruhig, schließlich war es nicht Benjamins Party. Die nachfolgenden Spiele lehnte mein Sohn konsequent ab, da aber Anabels Mutter ihm ihrerseits den Fernseher verweigerte und ihm stattdessen Isabels leicht chaotisches Zimmer zum Spielen anbot, waren alle damit zufrieden. Später gab es zu Benjamins Freude dann doch noch einen kurzen Trickfilm und ein lustiges Spiel, welches er mochte. Bei diesem Spiel lagen verschiedene Süßigkeiten auf dem Tisch und ein Kind musste den Raum verlassen, während die verbleibenden Kinder eine Süßigkeit auswählten. Dann wurde das Kind wieder hereingerufen und durfte so lange Süßigkeiten vom Tisch nehmen, bis es auf die ausgewählte Süßigkeit zeigte und damit das nächste Kind an der Reihe war. Die Regeln hatte Benjamin verstanden, da er aber glaubte, dass es ein bestimmtes Abräumprinzip gibt, testete er verschiedene Varianten: Er versuchte rasend schnell zu sein, er entfernte eine Sorte nach der anderen und in der dritten Runde probierte er eine farbliche Abfolge. Es frustrierte ihn, dass er das Prinzip nicht verstand, weil er keine gültige Regel finden und das Zufallsprinzip nicht akzeptieren konnte. Die gerade fertig gewordenen Pommes frites verhinderten glücklicherweise, dass die Situation eskalierte. Anabels Mutter dankte mir für meine Hilfe und fragte beim Verabschieden, ob Benjamin denn einmal zu Anabel zum Übernachten kommen wolle, weil doch alles sehr gut gelaufen sei. Ich war so überrascht von diesem unerwarteten Angebot, dass ich schnell erwiderte, ich müsse erst in Ruhe mit Benjamin darüber reden. Sie wandte sich meinem Sohn zu: „Und Benjamin, hat es dir bei uns gefallen?“ „Gut“, war seine Antwort.
Wenige Wochen später kam tatsächlich ein gemeinsames Wochenende von Benjamin und Anabel zustande. Nicht nur unser Sohn war furchtbar aufgeregt, sondern auch Anabel, die Benjamin mittlerweile als „meinen Freund“ bezeichnete, denn bevor wir losgingen, rief ihre Mutter an und fragte nach, ob wir etwas eher kommen könnten. Voller Optimismus verteilten wir unsere Randkinder auf die Großeltern, denn wenn alles klappte, dann hätten wir unseren ersten gemeinsamen freien Abend seit Benjamins Geburt. Nachdem wir mit Anabels Mutter noch eine Tasse Kaffee getrunken hatten, drängte uns Benjamin zur Tür und wir fragten uns, ob er sich wirklich der ganzen Tragweite seiner Handlungen bewusst war. Bis zum frühen Abend warteten wir ängstlich und angespannt auf einen Anruf, der uns auffordern würde, dass wir Benjamin wieder abholen sollten, weil er nach Hause wollte oder weil er Anabels Mutter überforderte. Aber das Telefon blieb stumm und wir fühlten uns wie im siebenten Himmel, denn wir hatten so viel nachzuholen und jede Stunde war kostbar. Wir fuhren in die Stadt, um Freunde zu besuchen und mit ihnen gemeinsam zu speisen. Am Sonntagmorgen zerriss kein Kind und kein Wecker unseren Schlaf und nachdem wir von selbst irgendwann aufgewacht waren, frühstückten wir im Bett. Dieser eine freie Abend füllte unsere Batterien wieder auf und ließ uns abermals mutig in die Zukunft schauen.
Am Sonntag nach dem Mittagessen sollte Benjamin wieder abgeholt werden und als ich vor der sandfarbenen Wohnungstür stand, hörte ich die Mädchen zufrieden kichern, sonst nichts. Zu meinem großen Erstaunen wollte Benjamin nicht sofort nach Hause gehen und so beschlossen wir, noch einen ausgedehnten Spaziergang zu unternehmen. Anabels Mutter erzählte, dass es keine wesentlichen Probleme gegeben hatte. Sie war ein bisschen traurig, weil Isabel Benjamin immer wieder in ihr Zimmer gelockt hatte, um mit ihm zu spielen. Damit Benjamin auch bei Anabel blieb, hatte sie zwischendurch einige Male einen kurzen Trickfilm gezeigt. Das Einschlafen war äußerst problematisch verlaufen, was ich ihr aber vorher bereits angekündigt hatte. Da Anabel in der Nacht mehrmals gedreht werden musste und Benjamin davon immer wieder aufgewacht war, hatte sie unseren Sohn den Rest der Nacht in Isabels Zimmer schlafen lassen. Beim Durchqueren einer Kleingartenanlage schüttete Anabels Mutter völlig unerwartet ihr ganzes Herz vor mir aus. Auf diesem Spaziergang freundeten wir uns miteinander an und stellten fest, dass uns mehr verband als nur unsere problembelasteten Kinder. Beide Mädchen wünschten sich einen weiteren Besuch von Benjamin und so erkundigte sich Anabels Mutter beim Abschied: „Benjamin, möchtest du uns wieder einmal besuchen?“ Ohne nachzudenken, verkündete mein Sohn: „Später!“
Nach diesen Erfolgserlebnissen hielt ich die Zeit für gekommen, auch Benjamins Geburtstag mit „richtigen“ Gästen zu feiern. Also fragte ich meinen Sohn erwartungsfroh und ohne Umschweife: „Benjamin, welches Kind aus deiner Klasse möchtest du zu deinem Geburtstag einladen?“ Ich hielt es für sinnvoll, mit einer kleinen, überschaubaren Party zu beginnen, und erwartete, dass er „Anabel“ antworten würde. Stattdessen schleuderte er mir „Alle!“ entgegen. Jetzt hatte ich ein Problem, denn fünf der sieben Kinder seiner Klasse waren so schwer behindert, dass sie ständige Hilfe benötigten und nicht allein auf einer Geburtstagsparty bleiben konnten. Außerdem war unser Haus alles andere als behindertengerecht. Ich musste also eine andere Lösung finden. Nach einer Weile kam mir die vermeintlich rettende Idee: Wir könnten doch nachmittags in der Schule feiern, da wäre dann auch für die angemessene Betreuung gesorgt. Ich vereinbarte einen Gesprächstermin mit Benjamins Erzieherin und erfuhr dabei, dass es nicht möglich war, am Nachmittag in der Schule zu feiern, weil einige Kinder in dieser Zeit Therapiestunden oder Nachhilfeunterricht erhielten. Sie bot mir aber die Sportstunde für kleine Spiele und die darauffolgende Hofpause für das Essen an. Ich nahm den Vorschlag dankbar an, denn Benjamin hatte auf meine Frage, wo er denn feiern möchte, „Nich Hause“ geantwortet.
Die Vorbereitung dieser Geburtstagsfeier stellte eine echte Herausforderung für mich dar, denn ich musste mir eine Menge interessanter Spiele für Kinder ausdenken, welche die verschiedensten Handicaps hatten. Benjamins absolute Lieblingspartyspiele, nämlich der LEGO-Bauwettbewerb und das Wettpuzzeln, schieden leider schon aus. An Benjamins achtem Geburtstag erschien ich zur vereinbarten Stunde in seiner Schule mit einer Fülle hoffentlich guter Ideen, mit Preisen, mit herzhaftem sowie süßem Essen und mit Pascal. Mein jüngster Sohn besuchte zwar seit wenigen Wochen die Vorschule, aber da ich nicht rechtzeitig fertig sein würde, um ihn pünktlich abzuholen, hatte ich ihn für diesen Tag entschuldigt. Mein erstes Spiel war eine Schatzsuche, wo ich vorab ein Kind hinausschickte, um den Schatz von den anderen Kindern verstecken zu lassen. Dann wurde der Schatz nicht wie üblich durch Herumlaufen und Kriechen gesucht, sondern durch gezielte Fragen, welche die Mitspieler mit „heiß“, „warm“ oder „kalt“ beantworteten. Des Weiteren hatte ich einige interessante Geschichten mit Fehlern geschrieben, wo die Kinder bei jeder Ungereimtheit „Halt“ rufen sollten, ein spannendes Quiz … Die Stunde verging schneller, als ich erwartet hatte, und alle schienen ihren Spaß zu haben. Bei dem Spiel „Klappe auf“, wo es darum geht, anhand von sukzessive aufgeklappten Bildausschnitten das Gesamtbild zu erraten, war Benjamin unschlagbar, was nach den ersten zehn Bildern zu einer leichten, aber unverkennbaren Frustration bei seinen Mitstreitern führte. Kurzerhand übertrug ich meinem Sohn die Spielleitung, was ihn sichtlich mit Stolz erfüllte und den anderen Kindern eine Chance einräumte. Je besser die Stunde lief, desto mehr legte sich meine eigene Nervosität, denn schließlich befand ich mich unter den wachsamen Augen von Frau Ferros und Benjamins Erzieherin. Nachdem das letzte Würstchen verzehrt und der letzte Keks vertilgt war, nahte der Beginn der Deutschstunde, sodass ich hektisch begann, meine Sachen zusammenzupacken. Plötzlich fragte mich Frau Ferros: „Haben Sie noch mehr Spiele?“ Natürlich hatte ich noch mehr Spiele vorbereitet, da ich nicht wusste, wie lange die einzelnen Spiele dauern und welche Spiele überhaupt angenommen werden. Frau Ferros meinte daraufhin, dass die Kinder dann weiterspielen dürften. Sie kam überhaupt nicht auf die Idee, mich zu fragen, ob ich eigentlich noch Zeit oder Lust hatte, aber da alle Kinder außer Benjamin jubelten, konnte ich mich dem nicht widersetzen. Mein Sohn schien eher verwirrt von der Änderung des Ablaufes. Da jedoch die Deutschstunde die letzte Stunde des Tages war, versprach ich ihm, dass ich ihn gleich danach nach Hause mitnehmen werde, was seine Wirkung nicht verfehlte.
Diese Geburtstagsfeier beurteilte ich als vollen Erfolg, obwohl ich von Benjamin nicht zweifelsfrei in Erfahrung bringen konnte, ob es ihm gefallen hatte. Richtig glücklich wirkte unser Sohn erst, als er am Nachmittag sein obligatorisches Stück Torte verputzt hatte und damit begann, seine neue LEGO-Welt, dieses Mal eine ägyptische Pyramide, zusammenzubauen. Als wir abends bei unserer täglichen Gute-Nacht-Geschichte dicht gedrängt zusammensaßen, offenbarte mir Benjamin Folgendes: „Mami, ie liebe dir so gerne.“ Ich war von dieser völlig unerwarteten Liebeserklärung so gerührt, dass mir die Tränen literweise in die Augen schossen. Meine Stimme versagte, aber gleichzeitig breitete sich ein wohliges, warmes Empfinden in meiner Brust aus. Pascal und Benjamin umarmend ließ ich meinen Gefühlen einfach freien Lauf, denn viel zu lange hatte ich auf diesen wunderschönen Augenblick warten müssen. Pascal gab mir ein bereits benutztes Taschentuch aus seiner Hosentasche und verkündete selbstbewusst: „Und ich liebe dich auch ganz doll.“ In den folgenden Jahren von Benjamins Grundschulzeit sind wir zu seinen Geburtstagen auf seinen Wunsch hin immer ins IMAX-Kino und danach zu McDonald’s gegangen. Das hatte den Vorteil, dass er Mitschüler einladen konnte, aber sich nur begrenzt um sie kümmern musste, sodass alle auf ihre Kosten kamen.
Mit Beginn des neuen Schuljahres wurde Benjamin in die Arbeitsgemeinschaft Fußball integriert. Einmal pro Woche trainierten die Schüler aller Altersstufen gemeinsam, aber unser Sohn hatte schon Probleme damit, die Mannschaften auseinanderzuhalten, denn die Mitglieder wechselten ständig und unterschieden sich nur dadurch, dass eine Mannschaft die T-Shirts in der Hose trug, die andere darüber. Während des Spiels konnte sich Benjamin weder merken, ob er sein Hemd drinnen oder draußen trug, noch wer zu seiner Mannschaft gehörte. Er ergatterte zwar oft den Ball, aber war dann nicht in der Lage, ihn wieder abzugeben, und verwendete all seine Energie darauf, den Ball zu behalten. Ihm wurde mangelnde Teamfähigkeit vorgeworfen, wir waren uns jedoch nicht sicher, ob er verstand, was da von ihm verlangt wurde. Später kam uns der Gedanke, dass eine alte Fußballweisheit, welche unseren anderen beiden Jungen mehrfach im Sportunterricht mitgeteilt wurde, Benjamins Spielverhalten wahrscheinlich beeinflusste. „Wenn man selbst den Ball hat, kann der Gegner kein Tor schießen“, bedeutete in seiner Logik, den Ball unbedingt behalten zu müssen.
Die Seiten in Benjamins Mitteilungsheft wurden auch im neuen Schuljahr regelmäßig von schwarzen Wolken verdunkelt, was uns nicht weiter gestört hätte, wenn unser Sohn weniger darunter gelitten hätte. Mittlerweile konnte er uns erzählen, dass er diese Unwetterwarnungen bekam, weil er in der Schule die Lehrerin einmal überhört oder des Öfteren nicht still gesessen hatte, und er stellte resigniert fest: „Weil ie das nich kann“. Benjamins Ergotherapeutin bestätigte uns, dass er bedingt durch seinen schwachen Muskeltonus nicht in der Lage sei, längere Zeit still zu sitzen, oder aber dafür so viel Energie aufwenden müsse, dass er zum Schreiben, Lesen, Zeichnen … keine Kraft mehr besitzt. Sie empfahl uns dringend die zumindest zeitweise Benutzung einer Sitzpallone (luftgefüllter Ballstuhl), da rhythmische Auf- und Abbewegungen, die das Kind zwingen, ständig seine Balance neu zu finden, nachgewiesenermaßen das Lernvermögen positiv beeinflussen. Frau Ferros hatte dafür kein Einsehen und wir benötigten fast ein Jahr, um dieses Anliegen in die Tat umzusetzen. Trotzdem reglementierte Frau Ferros die Benutzung der Pallone streng, sodass sie in der Schule die meiste Zeit ungenutzt herumstand. Zu Hause dagegen machten wir äußerst positive Erfahrungen mit dieser Sitzgelegenheit, sowohl am Schreibtisch als auch am Computer.
Genau eine Woche stand Benjamin und seinen Mitschülern zur Verfügung, um ein nettes, kleines Herbstgedicht auswendig zu lernen, für unseren Sohn war dies sein erstes Gedicht. Die anderen Kinder hatten schon früher im Kindergarten oder in der Vorschule kurze Reime auswendig gelernt, aber Benjamin war dazu aufgrund seiner arg verzögerten Sprachentwicklung nicht in der Lage gewesen. Mit viel Geduld, Fleiß und Zeitaufwand trichterten wir unserem Sohn die folgenden Zeilen ein:
(Hermann Siegmann)1
Herbsträtsel
Ein Igel saß auf einem Blatt,
das wie die Hand fünf Finger hat,
auf einem Baum.
Du glaubst es kaum!
Der grüne Igel, stachelspitz,
fiel auf den Kopf dem kleinen Fritz,
von seiner Mütze
in die Pfütze.
Da war es mit dem Igel aus.
Er platzte, und was sprang heraus
mit einem Hops?
Ein brauner Mops!
Die erste Hürde, die es dabei zu nehmen gab, bestand darin, Benjamin zu erklären, dass dieses Gedicht nicht von einem Igel handelte. Er konnte einfach nicht verstehen, warum der Igel auf einem Baum saß und warum er grün und nicht graubraun sein sollte. Nachdem unser Sohn mithilfe von Leons Erklärungskünsten und einer Reihe Zeichnungen, die ich zur visuellen Unterstützung angefertigt hatte, akzeptierte, dass der grüne Igel eine poetische Umschreibung für eine stachelige Kastanie darstellte, folgte in der Mitte des Gedichtes die komplette Verwirrung. Warum wandelte sich denn nun die Kastanie, die als grüner Igel umschrieben wurde, plötzlich in einen braunen Mops und was war überhaupt ein brauner Mops? Und wer war der kleine Fritz und wo kam der eigentlich plötzlich her? Fragen über Fragen und am Ende unseres Erklärungsmarathons wussten wir nicht, wie viel Benjamin nun wirklich verinnerlicht hatte und zu wie viel Prozent er sich einfach in sein Schicksal fügte und dieses Wortwirrwarr zu behalten versuchte. Aufgrund seiner schwerwiegenden Artikulationsprobleme waren Worte wie „stachelspitz“, „Fritz“, „Mütze“ und „Pfütze“ für unseren Sohn nahezu unaussprechbar. Schließlich vermochte er aber dank seines Ehrgeizes das gesamte Gedicht einigermaßen verständlich zu rezitieren und wir waren wieder einmal stolz auf Benjamin. Pascal, der häufig um uns wuselte, wenn wir mit Benjamin irgendetwas übten, zeichnete nicht nur seinen eigenen, entzückenden Bilderzyklus zu den Versen, sondern lernte das gesamte Gedicht fehlerfrei einfach so nebenbei. Frau Ferros beurteilte Benjamins Leistung deutlich weniger euphorisch als wir, wertete seinen Vortrag mit einem „ganz gut“, bemängelte seine Undeutlichkeiten und trug ihm deshalb auf, das Gedicht abermals zu lernen. Für uns alle war dies ein herber Rückschlag, welcher sich noch zweimal wiederholte und im Mitteilungsheft wie folgt kommentiert wurde: „Benjamin hat Schwierigkeiten, das Z zu sprechen. Er verwechselt es mit sch oder ch. Bitte achten Sie auch zu Hause auf die korrekte Aussprache.“ Vielleicht waren wir inzwischen ein wenig dünnhäutig und überempfindlich geworden, aber bei all den Hinweisen oder auch Anweisungen, die uns Frau Ferros gab, beschlich uns das unangenehme Gefühl, dass sie uns für faule Eltern hielt und dass sie glaubte, unsere scheinbaren Versäumnisse oder unsere angebliche Inkonsequenz oder unser vermeintliches Desinteresse würden Benjamins Schwierigkeiten verursachen.
Anderes Lehrpersonal schätzte unseren Sohn und seine Leistungen völlig anders ein. Eine Vertretungslehrerin, welche die Klasse während einer zweiwöchigen Krankheit von Frau Ferros unterrichtete, lobte Benjamin in den höchsten Tönen und verlor kein negatives Wort über unseren Sohn. Und auch Benjamins Sprachtherapeutin hob immer wieder hervor, dass sich unser kleiner Schüler in ihren Therapiestunden sehr viel Mühe gebe. Die Sprachtherapeutin nutzte sehr geschickt Benjamins Interessen aus, um ihm kleine Erfolge abzutrotzen. Sie ließ ihn zu Beginn jeder Stunde erzählen, was er wollte, völlig egal, ob er dabei nur von LEGO-Bausätzen oder von Computerspielen redete. Manchmal berichtete Benjamin aber auch von anderen Dingen wie beispielsweise unseren Ferienbildern. In den vergangenen Sommerferien hatte ich die Idee gehabt, unsere Kinder Bilder von wichtigen Ereignissen zeichnen zu lassen und am Ende der Ferien eine kleine Galerie zu gestalten, um die besten Kunstwerke zu prämieren. Das half vor allem Benjamin dabei, sich an seine Ferienerlebnisse zu erinnern, und es gab den weniger angefüllten Tagen eine Struktur. Diese Idee kam bei meinen Kindern so gut an, dass sich das Zeichnen von Ferienbildern zu einer langjährigen Tradition entwickelte und von meinen Söhnen immer weiter ausgebaut wurde, was die verwendeten Techniken und die Themenwahl betraf. Nachdem Benjamin seiner Sprachtherapeutin mit Begeisterung von seinen Zeichnungen berichtet hatte, bat sie ihn, die Bilder zur Therapie mitzubringen. Alle Blätter waren auf der Rückseite mit Datum, Ort und eventuellen Anmerkungen zum besseren Verständnis des Dargestellten versehen und boten somit eine ideale Kommunikationsgrundlage. Da die Sprachtherapeutin direkt an Benjamins Interessen anknüpfte und ihn damit fast unmerklich auf Dinge lenkte, die sie mit ihm üben wollte oder musste, hatte sie bedeutend mehr Erfolg in der Förderung unseres Sohnes als Frau Ferros. So arbeitete sie in wochenlanger Kleinarbeit einen kurzen Vortrag über unseren spannenden Besuch im Filmpark Babelsberg aus, welchen Benjamin dann vor seiner Klasse hielt.
Die Sprachtherapeutin schien unsere Sorgen und Benjamins Probleme bedeutend besser zu verstehen als Frau Ferros und so fragte ich sie in einem Elterngespräch nach einer alternativen Fibel und anderem Übungsmaterial für den Deutschunterricht. Ich hatte beobachtet, dass Benjamin eine tiefe Abneigung gegen seine Fibel hegte und sich nur Seiten gern anschaute, auf denen keine Menschen, sondern lediglich Pflanzen, Tiere, Häuser, Landschaften … abgebildet waren. Unserer Meinung nach benötigte Benjamin Lernmaterial, was ihn mehr ansprach, denn Geschichten wie „Wo ist Moni?“, „Moni und Nina sind am Ofen.“ sagten ihm gar nichts und er konnte damit nichts anfangen. Die Sprachtherapeutin bestätigte meine Beobachtung aus ihrer eigenen Erfahrung mit unserem Sohn, konnte uns aber nicht helfen und gab mein Anliegen an Frau Ferros weiter. Frau Ferros’ Reaktion darauf bestand in einem Sturm der Entrüstung, den sie über mir toben ließ: Benjamin sei nur zu faul zum Üben und zu träge zum Lesen. Und Frau Ferros war verärgert, weil ich mit der Sprachtherapeutin und nicht zuerst mit ihr über Benjamins Deutschleistungen geredet hatte, was aber so nicht stimmte, denn ich hatte schon unzählige Male versucht, mit ihr über alle möglichen Schwierigkeiten unseres Sohnes zu diskutieren. Trotzdem gab sie mir als Zeichen des guten Willens eine zweite, etwas ältere Fibel, welche aber genauso aufgebaut war wie die, die unser Sohn bereits benutzen musste.
Ein weiteres Problem beim Erlernen des Lesens und Schreibens bestand darin, dass Benjamin unerschütterlich daran glaubte, dass er erst sämtliche Buchstaben des Alphabets erlernen musste oder wollte, bevor er dieses Wissen zur Anwendung bringen konnte. Er war bereit, alle Buchstaben hintereinander in der „richtigen“ Reihenfolge zu erlernen, aber Frau Ferros verbot den Kindern eindringlich, sich Buchstaben anzueignen, die sie in der Schule noch nicht durchgenommen hatte. Da nach mehr als einem Jahr des Schulbesuchs noch keine Einigung mit Frau Ferros betreffs ihrer konventionellen Lehrmethoden zustande gekommen war, beschlossen wir, selber zu handeln. Nach langem Suchen fanden wir Lernmaterial für den Deutschunterricht der ersten und zweiten Klasse, wo eine Maus namens „Mimi“ durch das gesamte Übungsmaterial führte und fast alle Seiten mit Mäusegeschichten angefüllt waren. Dazu gab es noch eine Handpuppe, die sich bestens zur Gesprächsanbahnung eignete, und verschiedene Stempel, die ich zur Bewertung benutzte. Das alles kam prima bei Benjamin an und im Laufe eines halben Jahres lernte er so zu Hause das komplette Alphabet in Schreib- und Druckschrift sowie einfache Texte zu schreiben und zu lesen. Wenige Wochen nach Übungsbeginn hatte er bereits seine Klassenkameraden weit überholt, aber trotzdem verweigerte er weiterhin in der Schule das Lesen gelegter Wörter. Er setzte auch keine Wörter mit Silbenkärtchen von dem Wortmaterial der Fibel zusammen, obwohl er zu Hause aus einer hübschen Fühlbox mit Meeresmotiven Moosgummi-Buchstaben richtig heraussuchte und daraus die geforderten Wörter zusammensetzte oder Wörter in den fast weißen, feinkörnigen Sand der Sandwanne schrieb. Unsere häuslichen Übungen waren allerdings sehr zeitaufwendig, da ich immer neben meinem Sohn sitzen und öfter meine Hand auf seinen linken Arm oder seine Schulter legen musste, damit er arbeiten konnte. Damals wusste ich noch nicht, dass ich ihm damit einen Impuls zum Arbeitsbeginn oder zum Weiterarbeiten gab, ich spürte nur, dass mein Sohn diese Unterstützung brauchte. Jahre später, als ich immer noch bei vielen Schulaufgaben neben Benjamin sitzen oder in der Nähe sein musste, fragte ich ihn einmal nach dem Grund dafür, und er antwortete mir: „Das ist deine gute Energie, die mir sonst fehlt.“
Benjamins häusliche Fortschritte betreffs des Erlernens des Alphabets weckten den Wunsch in ihm, Computerspiele auszuprobieren, für die er eigentlich noch zu jung war, weil er dazu Lesen und Schreiben gut beherrschen musste. Leon sah darin kein Problem und vertrat die Meinung, dass diese Herausforderung seine Lese- und Schreibfähigkeiten sogar verbessern wird. Ich war zwar eher skeptisch, ließ es aber dennoch auf einen Versuch ankommen. Ein Computerspiel, bei dem der Spieler als lustiger, vegetarischer Außerirdischer von der Erde aus zu seinem Heimatplaneten zurückgelangen musste und wo die Fortbewegung von einem Himmelskörper zum nächsten durch das Lösen von Deutsch-, Mathematik- und Konzentrations- sowie Merkaufgaben ermöglicht wurde, war für Grundschüler der dritten und vierten Klasse konzipiert worden und befand sich in Conrads Besitz. Benjamin fühlte sich von diesem Programm so in den Bann gezogen, dass er mit großer Energie daran arbeitete, dieses Spiel testen zu dürfen. In den ersten vier Wochen benötigte Benjamin ständig meine oder Conrads Hilfe, um mit den Aufgaben des Spiels zurechtzukommen. Aber dann wurde er von Woche zu Woche ausdauernder und frustrationstoleranter. Er arbeitete dieses Spiel, welches eigentlich ein klug verpacktes Lernprogramm war, so oft durch, bis ihm ein kompletter Durchlauf ohne fremde Hilfe gelang. Danach versuchte er sich an schwierigen Simulationen, mit denen er ebenfalls gut zurechtkam. Conrad gelang es sogar, seinen Bruder dazu zu überreden, Teile eines Computer-Strategiespiels aus Papier nachzubauen und dann tagelang mit ihm und ausgewählten Plüschtieren alle möglichen Optionen durchzutesten.
Da Benjamin im verhassten Morgenkreis, der jeden Montagmorgen in der Schule abgehalten wurde, immer nur „Computer gespielt“ als Wochenendbeschäftigung von sich gab, fühlte sich Frau Ferros verpflichtet, uns mitzuteilen, wie falsch unser Handeln sei, wenn wir unserem Sohn derartige Spiele erlaubten, bevor er gewillt ist, seine Silbenkärtchen in der Schule richtig zu legen. Das erinnerte mich sofort an die Aussage seiner früheren Spieltherapeutin, welche mir verbieten wollte, Spiele mit Benjamin zu Hause zu spielen, die er in der Therapiestunde verweigert hatte. Frau Ferros hatte allerdings ein generelles Problem mit der Benutzung von Computern, denn sie verkündete einmal auf einem Elternabend Folgendes über die Deutschunterrichtsstunden: „Eine Stunde davon gehen wir an den Computer, da lernen wir zwar auch etwas, aber die Stunde ist verloren.“ Für Benjamin zählten die Unterrichtsstunden am Computer mit Sicherheit zu den effektivsten. Im Gegensatz zu Frau Ferros zeigte seine Sprachtherapeutin Interesse an Benjamins Computerspielen und schaute sich mit ihm gemeinsam Demoversionen von einigen seiner Programme an, um dann daran anzuknüpfen.