Kitabı oku: «Mami, ich habe eine Anguckallergie», sayfa 4
Benjamin besaß inzwischen neben den Gummibüchern aus seiner Babyzeit eine ansehnliche Anzahl Pappbilderbücher, aber er war immer noch nicht dazu zu bewegen, sie gemeinsam mit mir anzusehen. Wenn ich mir mit der fast gleichaltrigen Tochter meiner Freundin die Bücher anschaute, dann schien dies Benjamin überhaupt nicht zu stören. Er ging einer seiner Lieblingsbeschäftigungen nach und beachtete uns vermutlich nicht. Lisa zeigte mir bereitwillig Dinge, wenn ich ihr einfache Fragen, wie beispielsweise: „Wo ist das Auto?“, stellte. Conrad setzte sich meistens zu uns und versuchte ebenfalls Fragen zu stellen. Um auf diesem Gebiet Fortschritte zu erzielen, versuchte ich zuerst, Benjamin mit einigen seiner Bücher alleine zu lassen. Das traurige Ergebnis bestand darin, dass er die Bücher zerfetzte. Also stellte ich die unversehrten Bücher auf ein für ihn gut sichtbares, aber nicht erreichbares Regal. Wollte er ein Buch anschauen, so stellte er sich davor, zeigte nach oben und rief: „Da, da!“ Ich gab ihm die gewünschten Bücher und ließ ihn damit nicht mehr alleine. Er blätterte die Bücher im rasanten Tempo durch, jedes Buch genau ein einziges Mal, und bevor er sie beschädigen konnte, stellte ich sie auf das Regal zurück. Wenn ich versuchte, ihn in ein Gespräch über den Buchinhalt zu verwickeln, wurde er jedes Mal sehr aufgebracht und wehrte mich mit Weinen ab. Es dauerte noch ungefähr ein Jahr, bis er nicht mehr den Drang verspürte, Bücher zu zerreißen. Und es sollte noch viel länger dauern, bis wir zum ersten Mal gemeinsam ein Buch lasen. Damals glaubte ich, Benjamin würde vom Inhalt der Bücher überhaupt nichts mitbekommen, wenn er sie „nur“ einmal schnell durchblätterte. Conrad jedenfalls hatte seine Bücher oft, ausgiebig und intensiv betrachtet. Interessierte sich Benjamin nicht für den Inhalt? Bestand sein ganzer Spaß im Umblättern, so wie man ein Spielzeugauto über den Boden schiebt? Mein Ziel war es, ihn auf jeden Fall zum Anschauen der Seiten zu bewegen, und das konnte ich doch nur erreichen, wenn er länger auf den Seiten verweilte. Das gelang mir vorerst nicht. Später musste ich einsehen, dass ich hier einem gravierenden Irrtum erlegen war. Kurz nach seiner Einschulung, als im Sachkundeunterricht über Elefanten geredet wurde, beschrieb Benjamin mir eine Seite aus einem seiner Kleinkindbücher, welches schon jahrelang in einer Kiste auf dem Hängeboden lag. Ich war davon so überrascht, dass ich dieses Buch heraussuchte und seine Angaben mit der entsprechenden Buchseite verglich. Alles stimmte vollständig überein. Und auch den Inhalt der weiteren Seiten dieses Buches und aller anderen Bücher dieser Serie konnte er bis ins Detail wiedergeben. Die späte Einsicht war also, dass er damals beim rasanten Durchblättern der Bücher den Inhalt erfasste und sich das auch noch über so viele Jahre gemerkt hatte! Aber warum zeigte er kein Interesse am gemeinsamen Bücherlesen?
Obwohl seine Motorik gut entwickelt war und obwohl wir am Fußende des Bettes schon vor Monaten zwei Stäbe entfernt hatten, verließ Benjamin frühmorgens nicht sein Gitterbett. Gewöhnlich saß er wach da und wartete darauf, dass ihn einer von uns aus dem Bett hob. Kam er nicht auf die Idee, das Bett durch die Lücke zu verlassen, ängstigte ihn vielleicht das, was ihn hinter der Tür erwarten würde oder war es ein geliebtes Ritual, von uns aus dem Bett gehoben zu werden? Mit achtzehn Monaten schaute Benjamin mich das erste Mal an, als er „winke, winke“ machte. Er liebte es weiterhin, draußen herumgefahren zu werden, und wenn wir ohne Kinderwagen losgingen, dann bestand er nach wenigen Schritten darauf, getragen zu werden. Heute würde ich dieses Verhalten so interpretieren, dass ihn die quirlige, bunte oder auch laute Welt außerhalb seines Zuhauses irritierte und ängstigte und er deshalb im Kinderwagen oder in unseren Armen Schutz suchte.
Auch sein häusliches Spielverhalten war ungewöhnlich, aber ich habe sehr lange darüber nachgedacht, bis mir aufgegangen ist, was eigentlich daran so ungewöhnlich war. Einerseits liebte es Benjamin immer noch, Schnipselsuppe zu kochen, uns damit zu füttern und auch manchmal fiktive Getränke dazu einzugießen. Aber er verlor völlig die Fassung, wenn wir die Rollen tauschen oder seinen Spielablauf ändern wollten. Er bestimmte die Regeln und die Welt war nur in Ordnung, wenn wir darin seine Marionetten waren. War er vielleicht ein besonders willensstarkes Kind oder würde sich diese Phase mit der Zeit von alleine geben? Warum hatte ich ein solches Verhalten nicht bei Conrad beobachtet, er ließ sich immer bereitwillig und voller Kreativität auf Rollentausche ein und überraschte uns dabei mit witzigen Ideen und Wendungen. Waren die Geschwister wirklich so verschieden oder übersahen wir irgendetwas? Bei anderen Spielen ließ Benjamin absolut keine Einmischung zu. Baute er zum Beispiel seinen DUPLO-Zoo auf, dann wollte er nicht gestört werden und spielte versunken und konzentriert mit den Tieren, Bäumen und Gebäuden. Abends achtete er darauf, dass im Regal neben jeder Tiermutter auch das richtige Tierbaby stand. Bei wieder anderen Spielen ließ er problemlos zu, dass Conrad oder einer von uns quasi parallel zu ihm mitspielte. So konnte Conrad mit seinen Matchbox-Autos auf dem Straßenteppich spielen, während Benjamin seine Plastikautos darüber schob, und auch an den Kreuzungen kam es meistens zu einer Einigung. Oder wir konnten mit einem eigenen Zug auf den Schienen der Holzeisenbahn mitspielen, aber keiner durfte es wagen, Waggons an Benjamins Zug anzukoppeln oder seine Wagen zu beladen oder den Zug mit ihm zu tauschen. Heute bin ich der Meinung, dass Benjamin spielerisches Miteinander nur ertragen konnte, wenn er die Fäden in der Hand hielt und den Ablauf bestimmen konnte oder wenn er in seinem eigenen Spielkonzept nicht gestört wurde. Als er zufällig einen LEGO-Baustein seines Bruders am Boden erspähte, fand er alleine heraus, dass man diesen Baustein auf einen DUPLO-Baustein setzen kann. Wie immer lobten wir ihn dafür, später fiel mir auf, was fehlte: Er war nicht zu uns gekommen, um uns seine Leistung zu präsentieren, er schien mit sich selbst und seiner Leistung zufrieden zu sein.
Meine Karriereplanung sah vor, dass Benjamin jetzt, mit eineinhalb Jahren, eine Kindertagesstätte besuchen sollte. Wir hatten ihn schon kurz nach der Geburt angemeldet und es stand ein Platz für ihn bereit. Die Kinderärztin machte uns allerdings einen Strich durch die Rechnung, denn sie erklärte, dass Benjamin aus gesundheitlichen Gründen auf gar keinen Fall kindergartentauglich sei. Gerade hatte er eine schmerzhafte Rachenentzündung durchlitten, seine Durchfallerkrankung war nicht richtig ausgeheilt, seine Urinprobe zeigte immer noch Auffälligkeiten und sein Bauch erblühte schon wieder einmal mit einem Ausschlag unklarer Herkunft. Außerdem hatte er häufig zum Teil auch sehr hohes Fieber, ohne dass eine wirkliche Ursache erkennbar gewesen wäre. Innerlich war ich ausgesprochen froh, dass die Ärztin diese Entscheidung für uns traf, denn ich hatte mich auch schon besorgt gefragt, ob wir es überhaupt verantworten konnten, ein derart empfindliches Kind in eine Kindertagesstätte zu geben. Mein Mann Leon dagegen hatte bereits nach dem Krankenhausaufenthalt mit dem Gedanken gespielt, Benjamin drei Jahre lang zu Hause zu behalten, in der Hoffnung, dass sich seine Gesundheit bis dahin stabilisiert haben würde. Mein Arbeitgeber, ein großes Forschungsinstitut, sah darin kein Problem und gewährte mir bereitwillig ein weiteres halbes Jahr Erziehungsurlaub. Natürlich hatte ich nie wirklich aufgehört zu arbeiten, denn auch nach der Verteidigung meiner Promotion las ich alle neuen Publikationen zu meinem Fachgebiet und schrieb mit einigen Kollegen Veröffentlichungen. Conrad war überglücklich, dass er weiterhin zu Hause bleiben durfte.
Im Laufe des nächsten halben Jahres arbeitete ich intensiv daran, Benjamin mit der Welt draußen vertraut zu machen. Heute muss ich sagen, dass mir das nur mit mäßigem Erfolg gelungen ist. Für längere Strecken wollte ich den Kinderwagen, jetzt wo die Tage immer wärmer und sonniger wurden, durch einen praktischen Buggy ersetzen. Durch meine früheren Erfahrungen mit der Tragetasche und dem Hinsetzen im Kinderwagen ahnte ich schon, dass Benjamin das nicht einfach so akzeptieren würde. In weiser Voraussicht gewöhnte ich meinen Sohn erst einmal in der Wohnung an den Buggy. Zuerst klappte ich ihn nur auf, stellte ihn hin und wartete, dass Benjamin Interesse daran zeigt. Als er nach ein paar Tagen bereit war, sich hineinzusetzen, kutschierte ich ihn durch die Wohnung, wann immer er das wollte. Nach zwei Wochen versuchte ich, ihn aus der Wohnung zu schieben, aber das schlug jämmerlich fehl. Im Endeffekt dauerte es fast vier Monate, bis er bereit war, sich im Buggy aus der Wohnung schieben zu lassen. Danach gab es keine Probleme mehr, wenn es darum ging, den Buggy zu benutzen. Ich war mächtig stolz auf meinen Erfolg, konnte aber dieses Gefühl nur mit meinem Mann teilen. Leon war der Meinung, dass ich das Richtige tat. Benjamins Großmütter und auch einige meiner Freundinnen vertraten die Auffassung, dass ich viel zu viel Zirkus mit diesem Kind machte, dass man manchmal seinen Willen mit Nachdruck durchsetzen musste und dass ich auf diese Art und Weise mein Kind nur ver- und nicht erziehen würde. Hatten sie vielleicht recht? Musste ich „nur“ lernen, Benjamins panisches Weltuntergangsweinen zu ertragen und alles würde sich rapide bessern? Mein Gefühl sagte mir allerdings, dass dieses kleine Kind ganz erhebliche Probleme mit der Welt um sich herum hat, dass ich behutsame Wege finden musste, um ihm einen Weg in diese Welt zu zeigen, und dass es auf diesem Weg Begleitung und Unterstützung benötigte. Aber wie sollte ich dieses Gefühl jemandem erklären? Ich konnte es nicht. Und so beschritt ich weiter meinen Weg und riskierte dabei, als übereifrige Glucke, inkonsequente Mutter oder als Person, die nicht die richtigen Prioritäten setzte, zu gelten. Ich bin fest davon überzeugt, dass mein damaliges instinktives Handeln richtig war, denn mit meinem heutigen Wissen über Autismus und den damit verbundenen Wahrnehmungsstörungen sowie Veränderungsängsten bin ich der Meinung, dass ich, wenn ich weniger einfühlsam gehandelt hätte, die Tür in die Welt für Benjamin vielleicht für immer verschlossen hätte.
Benjamin ließ sich nun stundenlang im Buggy herumfahren, vorausgesetzt, wir versuchten nicht Kaufhäuser zu betreten, überfüllte Nahverkehrsmittel zu benutzen sowie Märkte oder Menschenansammlungen zu passieren. Er liebte Parks und Grünanlagen, verspürte aber auch hier nicht den Drang, den Buggy zu verlassen. Für mich ergab das überhaupt keinen Sinn. Zu Hause war er jetzt ein äußerst agiles Kerlchen, er kletterte auf Regale und Stühle, sogar auf Tische und auf die Fensterbretter. Er drehte Eimer um, um darauf zu steigen und zeigte große Kreativität, wenn es darum ging, Kisten oder Ähnliches aufeinanderzustapeln, um dann darauf zu klettern und aus dem Fenster zu schauen. Wo war dieser Bewegungstrieb nach dem Verlassen der Wohnung? Hatten wir vergessen, ihn mitzunehmen? Der Drang, dem Regen zuzuschauen, steigerte seine Kreativität und perfektionierte seine Stapel- und Kletterkünste. Waren wir aber draußen, wenn es regnete, schien ihm das Unbehagen zu bereiten und ich musste peinlich genau darauf achten, dass er nicht nass wurde. Er spürte nicht das Bedürfnis, seine kleine Hand einmal auszustrecken, um zu erfahren, wie es sich anfühlt, wenn Regentropfen darauf zerplatzen. Er spürte auch nicht den Drang, durch eine Pfütze zu laufen und sich daran zu erfreuen, wie das Wasser spritzt. Er war ein Kind, das immer um die Pfützen herumlief, wenn es uns gelungen war, ihn im oder nach dem Regen dazu zu bewegen, ein paar Schritte zu laufen. Wind löste ängstliches Unbehagen bei ihm aus. Da ich Benjamin zu Hause inzwischen wegen seiner Kletterkünste keinen Augenblick aus den Augen lassen konnte, hätte ich eigentlich froh sein können, dass er draußen so wenig anstrengend war. Aber das Gegenteil war der Fall, ich strebte draußen mehr und drinnen weniger Aktivität an.
Eine meiner Überlegungen bestand darin, dass, wenn ich ohne Buggy zum Spielplatz gehen würde, mein Sohn keine andere Wahl hätte, als zu buddeln. Obwohl der kurze Weg zum Spielplatz mit Benjamin fast eine Stunde dauerte und obwohl ich Benjamin immer sanft ziehen und festhalten musste, da er sonst weglief, war es jedes Mal ein triumphaler Erfolg, diesen Weg geschafft zu haben. War der Spielplatz leer, dann ließ sich mein Sohn auch auf ein kurzes Spielen im Sand ein, wobei er immer eine Anleitung für das, was er denn mit dem Sand tun konnte, benötigte. Kamen andere Kinder dazu, lief Benjamin weg. Zu meinem großen Erstaunen lief er nicht irgendwo hin, sondern schnurstracks nach Hause. Er hatte sich also den Weg gemerkt und er war auch in der Lage, draußen schnell zu laufen. Wäre Benjamin damals mein einziges Kind gewesen, dann hätte ich kein Problem damit gehabt, immer in der Mittagszeit mit ihm auf den verwaisten Spielplatz zu gehen. Aber Conrad war auch noch da und er fand es langweilig, alleine auf dem Spielplatz zu sein, er wollte seine Freunde treffen. Also gingen wir fast täglich ein zweites Mal auf den Spielplatz und dieses Mal saß Benjamin in seinem Buggy. Fand ich eine ruhige Ecke und kam ich nicht auf den Gedanken, Benjamin nötigen zu wollen, den Buggy zu verlassen, dann ging alles eine Weile lang ganz gut. Zwei Probleme traten aber regelmäßig auf. Das eine waren kleine Mädchen im Kindergarten- oder Grundschulalter, die sich lieber mit kleinen Kindern als mit Puppen beschäftigten und die immer wieder diesen süßen, kleinen, blond gelockten Jungen zum Spielen abholen wollten. Das andere waren Mütter, die nicht glauben wollten oder konnten, dass Benjamin freiwillig im Kinderwagen saß, mir gute Ratschläge gaben und mich in nicht enden wollende Diskussionen verwickelten. Aber wie sollte ich in Worte fassen, was für mich selber nur ein schwer beschreibbares Gefühl war? Wie gerne hätte ich im Sand gesessen und mit Benjamin Sandkuchen gebacken! Langsam fühlte ich mich um diese unbeschwerte Buddelzeit, die den meisten anderen Müttern mit ihren Kindern vergönnt war, betrogen. Dass Benjamin auf unserem Balkon ausgiebig buddelte, war hier nur ein schwacher Trost.
Eine sonderbare Maus
Der größte Reichtum unseres Lebens sind die kleinen Sonnenstrahlen, die täglich auf unseren Weg fallen. Indische Weisheit
Mit eisernem Willen habe ich immer wieder versucht, unser Leben trotz aller nicht erklärbaren Probleme mit Benjamin so normal wie möglich zu gestalten. Ich erinnere mich an einen Besuch bei der Familie von Conrads neuestem Spielplatzfreund, die uns eingeladen hatte. Da wir schon zum Mittagessen erwartet wurden, bereitete ich mich akribisch auf dieses Treffen vor. Benjamin sollte es gut gehen, denn dann ging es uns allen auch gut. Ich packte Lieblingslöffel, Lieblingstasse, Lieblingsteller und sein Lätzchen ein. Des Weiteren wanderte ein Gläschen mit püriertem Hühnchen, welches er zu den vereinbarten Nudeln essen konnte, und eine Flasche Tee, gefüllt mit der einzigen Teesorte, die er trank, in meinen Rucksack. Sein Lieblingskissen und etwas vertrautes Spielzeug durften natürlich nicht fehlen. Meine größten Sorgen bestanden darin, wie er auf die neue Umgebung reagiert und ob er die „fremden“ Nudeln isst. Der Mutter von Daniel, so hieß Conrads neuer Freund, erklärte ich, dass Benjamin sehr empfindlich auf alles Mögliche reagiert und für sein Alter noch sehr ängstlich ist. Besser wusste ich es zum damaligen Zeitpunkt ja selber nicht. Benjamin klammerte zwar die ganze Zeit an mir und ließ keinen an sich heran, aber er weinte nicht und aß auch die unbekannten Nudeln zum Mittagessen. Für mich war das ein Riesenerfolg, auch wenn Daniels Eltern dafür kein Verständnis hatten. Zu meinem großen Entsetzen teilte mir aber nun Daniels Mutter mit, dass sie es als Beleidigung empfände, dass ich all die Sachen für Benjamin mitgebracht hatte. Sei mir etwa ihr Essen nicht gut genug, ihre Wohnung nicht sauber genug oder das Spielzeug der Kinder nicht ausreichend anspruchsvoll? Ich war völlig sprachlos und konnte weder mein Verhalten besser erklären noch das ihre wirklich verstehen. Fortan beschränkten sich die Treffen von Conrad und Daniel auf den Spielplatz.
Benjamin war immer noch ein leidenschaftlicher Schnipselsuppenkoch, aber er entwickelte dieses Spiel selbständig weiter. Inzwischen benutzte er auch Topflappen, denn ein kleiner Ofen war zu seiner Küchenausstattung dazugekommen. Eines Tages vergaß er, die Topflappen zu benutzen, rief „Au!“ und pustete seine Fingerchen. So sehr, wie ich von diesem vielschichtigen Spiel beeindruckt war, so sehr verunsicherte es mich auch. Warum wartete er, nachdem er „Au!“ gerufen hatte, nicht auf irgendeine Reaktion aus seiner Umgebung? Ich versuchte wieder einmal, mich in sein Spiel einzuklinken, indem ich das Arztköfferchen mit dem Arztspielzeug holte und ihm medizinische Hilfe anbot, aber er wehrte mich energisch ab. Ich hatte sein Spiel gestört, und jetzt hatte er wieder die Fassung verloren, und er würde lange brauchen, bis er sich wieder beruhigt und noch länger, bis er wieder zu seinem unbeschwerten Spiel zurückfindet. Trotzdem versteckte ich wenige Tage später zwei leicht in der Farbe abweichende Karteikartenschnipsel in seiner Schnipselsuppe, um zu sehen, was passiert. Ich war mir sicher, dass Benjamin dies nicht bemerken würde. Weit gefehlt! Beim ersten Umrühren fischte er die beiden Schnipsel mit einem empörten und erregten „Da, da!“ aus der Suppe und wollte sie in den Mülleimer werfen. Ich ließ mir die Schnipsel geben und versuchte, sie ihm als Gewürze oder Salz aufzuschwatzen. Er aber wurde immer erregter, solange ich die Schnipsel in der Hand hielt. Erst als sie im Mülleimer gelandet waren, gewann er seine Fassung zurück. Wie war es möglich, dass er in seinem Alter in einem Berg von Schnipseln so schnell zwei fremde, gleich große und farblich nur wenig abweichende Schnipsel fand? Und tat ich das Richtige, wenn ich versuchte, mich immer wieder in seine Spiele einzuklinken oder war er einfach noch nicht reif genug für gemeinschaftliche Spiele? Wieso hatte er kein Mitteilungsbedürfnis, wieso wollte er nicht bewundert werden wie andere Kinder in seinem Alter? Wieso suchte er nur unsere Aufmerksamkeit, wenn es um grundlegende Bedürfnisse wie Essen oder Trinken ging? Wieder Fragen über Fragen und wir hatten keine Antworten. Bis jetzt beruhigte uns aber die Tatsache, dass halt jedes Kind sein eigenes Entwicklungstempo hat.
Zwei Monate vor seinem zweiten Geburtstag waren Benjamin und Conrad mit ihrer Großmutter im Wohnzimmer alleine, während ich mit Leon in der Küche das Essen zubereitete. Inzwischen ließ es unser Sohn kurzzeitig zu, dass wir uns entfernten, solange die vertraute Aufsichtsperson ihm nicht zu nahe kam oder gar etwas von ihm verlangte. Plötzlich vernahmen wir einen markerschütternden Schrei. Wir stürmten herbei und sahen, dass Benjamin offensichtlich vom Fensterbrett gefallen war. Obwohl ich meine Mutter vor den Kletterkünsten meines kleinen Sohnes gewarnt hatte, konnte sie sich nicht vorstellen, dass er so schnell so hoch klettern würde. Sie hatte mit Conrad gespielt und war dadurch abgelenkt gewesen. Benjamin schrie, ohne sich irgendwie beruhigen zu lassen, und konnte sich nicht hinstellen. Sein linkes Füßchen schwoll bedrohlich an. Da es Sonntagabend war, fuhren wir sofort in die Kinderrettungsstelle des Krankenhauses. Benjamin hörte einfach nicht auf zu weinen, sein Weinen wurde nicht einmal wenigstens etwas leiser. Das Krankenhaus oder die Erinnerung an dieses Krankenhaus regten ihn so sehr auf, dass es keine andere Möglichkeit gab, als ihn während der Untersuchung und auch während des Röntgens durch meinen Mann festhalten zu lassen. In mir krampfte sich alles zusammen, weil ich nicht wusste, ob er vor Schmerz oder vor Angst schrie. Leon meinte, dass Benjamin panische Angst vor dem dunklen Röntgenraum und dem Klacken der Geräte hatte. Der Arzt stellte eine metatarsale Distorsion, also eine Verdrehung des Mittelfußes, fest und verordnete, dass der Fuß samt Unterschenkel für ein bis zwei Wochen ruhig gestellt werden müsse. Da unser Sohn aber immer noch heftig weinte und sich mit jeder Faser seines Körpers gegen diese ganze Situation wehrte, bat mich der Arzt in ein Nebenzimmer und forderte, ich solle Benjamin die Schiene und den Verband zu Hause anlegen, wenn er sich wieder beruhigt hätte. Er würde unserem Sohn nur Schmerzen zufügen, wenn er jetzt versuche, dieses aufgebrachte Kind zu verbinden und deshalb erläutere er mir jetzt, worauf ich dabei zu achten hätte. Weiter meinte er, er könne sich nicht erklären, warum unser Sohn nicht aufhöre zu schreien, denn eine solche Verletzung würde nicht mehr schmerzen, sobald keine Belastung des Fußes mehr stattfände, und das sei ja wohl der Fall, da mein Mann ihn schon seit mehr als zwei Stunden auf dem Arm trüge. War es nicht allzu verständlich, dass Benjamin sich nach seinen Krankenhauserfahrungen und den Aufregungen des heutigen Tages nicht beruhigen konnte? Auf der Rückfahrt und zu Hause beim Anlegen der Schiene ging ihm die Kraft langsam aus und er wimmerte nur noch ganz kläglich. Die kommende Nacht war wieder zerrissen von Weinen, Wimmern und schreiendem Aufwachen durch Albträume, zumindest hielt ich dieses schreiend aus dem Schlaf Aufwachen für schlimme Träume. Und wieder einmal hatte ich nach dem Aufstehen das Gefühl, nicht geschlafen zu haben und jetzt dringend ins Bett zu müssen. Am anderen Morgen war das Drama aber keineswegs überstanden. Benjamin weinte schon im Bett, sobald er die Schiene an seinem Bein erblickte. Den ganzen Tag über zeigte er immer wieder auf die Schiene und rief verzweifelt: „Da, da!“ Ich musste ihn den kompletten Tag herumtragen, damit er sich wenigstens etwas beruhigte. Er weigerte sich zu spielen und ich war völlig hilflos, weil ich seinen Kummer nicht lindern konnte. Nach und nach wurde mir klar, dass er offenbar glaubte, seine Fähigkeit zum Laufen für immer eingebüßt zu haben. Aber wie sollte ich ihm erklären, dass er bald wieder laufen können würde? Meine Worte schienen ihn nicht zu beruhigen, genauso wenig wie seine heiß geliebten Spieluhren. Diese angespannte Situation hielt fast eine Woche lang an, dann wurde die Schiene durch einen Verband ersetzt. Benjamin beruhigte sich sichtlich und humpelte übereifrig durch die Wohnung. Obwohl er dabei Schmerzen zu haben schien, sagte er keinen Mucks.
An dieser Stelle möchte ich meinen Lesern erklären, warum ich überwiegend davon berichte, dass Benjamin „weinte“ und ich nur selten das Wort „schreien“ dafür benutze. Für die meisten Menschen in unserer Umgebung bestand der Unterschied zwischen „Weinen“ und „Schreien“ lediglich in der Lautstärke, und würde ich danach gehen, dann müsste ich eigentlich fast immer vom „Schreien“ unseres Sohnes berichten. Für uns bestand der Unterschied zwischen „Weinen“ und „Schreien“ jedoch darin, dass die Ursachen für Weinen tiefer Kummer, Sorgen, Schmerzen, Hilflosigkeit oder Angst sind. Schreien dagegen deutet eher auf Wut, Frust, plötzliches Erschrecken oder schlechte Laune. Natürlich ist das keine generelle Einteilung, es soll nur erklären, warum ich mich innerlich weigere, Benjamins Reaktionen auf seine Umwelt mit Schreien zu umschreiben. Bereits im Säuglingsalter war zuerst Leon und später auch mir aufgefallen, dass Benjamins Weinen sich deutlich von dem anderer Babys unterschied. Später haben wir uns eingestanden, dass wir beide unabhängig voneinander all die seltsamen Erkrankungen, die uns während unserer Studienzeit über den Weg liefen, in Gedanken durchgegangen waren, weil das Weinen unseres Babys so seltsam und fremd klang. Das sogenannte Trotzalter, wo meine Freundinnen darüber klagten, dass ihr Nachwuchs bei jeder Kleinigkeit wütend herumschreien würde, blieb bei Benjamin aus. Da Kinder um den zweiten Geburtstag herum zunehmend selbständiger werden, aber sich dabei auch oft überschätzen und ihnen somit nicht alles gelingt, führt das zu den von meinen Freundinnen beschriebenen Wutanfällen oder zu trotzigem Verhalten. Benjamin dagegen hatte überhaupt nicht das Verlangen, irgendetwas aus eigenem Antrieb zu verändern. Aus meinem heutigen Verständnis heraus ist die Angst vor etwas Neuem, und dazu gehört auch, sich selber an- oder auszuziehen, einen Stift zu halten …, der Grund dafür, warum Benjamin keine Veränderungen anstrebte. Keine Veränderungen brachten auch keine Misserfolge und damit kein Trotzalter. Andererseits reagierte unser Sohn auf alle von uns erzwungenen Neuerungen mit heftigem Widerstand, was sich vom Nervenaufwand mit dem Trotzalter eines Kleinkindes vergleichen ließe, nur dass dieses „Pseudo-Trotzalter“ viel länger andauerte.
Pflanzen, egal ob draußen oder drinnen, weckten in dieser Zeit immer die Aufmerksamkeit unseres Sohnes. Mindestens einmal am Tag goss er mit seiner Spielzeuggießkanne fiktiv unseren Grünbestand, wobei er nie eine Pflanze übersah, das Spiel nicht langweilig wurde und er jede Neuerwerbung sofort bemerkte, selbst wenn es sich dabei nur um einen winzig kleinen Kaktus handelte. In den Gebrauch der Spielzeuggießkanne hatte ich Benjamin eingewiesen und ich glaube, dass er zu dieser Zeit nie beobachtet hatte, dass lebende Pflanzen mit Wasser gegossen werden, weil das Gießen meiner Gewächse durch unseren anstrengenden Alltag tagsüber nicht möglich war. Nachdem ich eine Mimose gekauft hatte, um Conrad die ungewöhnliche Reaktion dieser bezaubernden Pflanze auf Berührungen zu demonstrieren, versuchte Benjamin die Reaktion der Pflanze zu reproduzieren, indem er beharrlich an das Zwischenfenster klopfte, hinter dem die filigrane Mimose gedieh. Wieder einmal hatte ich geglaubt, dass mein Sohn unsere Aktivitäten überhaupt nicht mitbekam, da er sich weder zu uns gesellte noch uns aus der Ferne zuzusehen schien. Nachdem auch Benjamin die Mimose, wie Conrad sagte, „erschrecken“ durfte, versuchte er trotzdem weiterhin, die Mimose durch Klopfen an die Scheibe zu einer Reaktion zu bringen.
Diese Pflanzenliebe machte ich mir zunutze und so verbrachten wir viele Tage im Botanischen Garten. Als ich das erste Mal mit Benjamin in die prachtvollen Gewächshäuser gehen wollte, musste ich feststellen, dass Kinderwagen und auch Buggys dort drinnen nicht erlaubt waren. Also nahm ich Benjamin auf den Arm. Zu meinem allergrößten Erstaunen signalisierte mein sonst so laufscheuer Sohn, dass er meinen Arm verlassen wollte. Er marschierte fleißig durch die Gewächshäuser, ließ verschiedenste Blättchen über seine zarten Händchen streifen und bestaunte große Blüten in mannigfaltigen Farben. Ein kleiner See mit Trittplatten machte ihm Angst, hier ließ er sich vorsichtshalber darüber tragen. Im Sukkulenten-Gewächshaus angekommen, strebte Benjamin auf einen gewaltigen Kaktus zu, der mindestens doppelt so groß war wie er selbst. Für seine Größe riesige Dornen ragten in alle Richtungen. Schon wollte ich meinen Sohn ergreifen und in Sicherheit bringen. Da fiel mir auf, wie vorsichtig, ja fast ehrfurchtsvoll, er sich dem wehrhaften Wüstenbewohner näherte. Ich hielt mich zurück und wartete gespannt ab. Inzwischen stand Benjamin vor dem Kaktus und berührte mit dem rechten Zeigefinger vorsichtig die Spitze eines Dornes in Augenhöhe. Er gab ein „Au!“ von sich, pustete seinen Finger und wiederholte die Prozedur einige Male. Dann benutzte er den linken Zeigefinger als Prüfwerkzeug. Nach mehreren Versuchen ging er zum nächsten Dorn über: Anfassen, „Au!“, Pusten, Anfassen, „Au!“, Pusten … Ich liebte die Besuche im Botanischen Garten unter anderem deshalb, weil er an Wochentagen nur wenig frequentiert wurde. Aber jetzt betrat eine ganze Gruppe älterer Damen das Gewächshaus. Aus meiner Erfahrung wusste ich, dass gerade Frauen im fortgeschrittenen Alter häufig Kontakt zu kleineren Kindern suchen und Benjamin schien als süßer, kleiner Junge mit weichen, blonden Löckchen dafür äußerst geeignet. Instinktiv suchte ich mit den Augen die nächste Tür, denn ich glaubte zu wissen, was jetzt passieren würde. Aber nichts geschah! Obwohl die Damen inzwischen hinter Benjamin standen und sich an seinen Experimenten ergötzten, schien Benjamin völlig in seine Tätigkeit versunken zu sein. Zwei Dinge lernte ich an diesem Tag: In der richtigen Umgebung hatte auch mein Sohn Spaß daran, draußen, oder zumindest außerhalb der Wohnung, herumzulaufen. Und zweitens war Benjamin sogar in der Lage, fremde Menschen in unmittelbarer Nähe zu ertragen, wenn ihm seine momentane Beschäftigung äußerst wichtig war.
Die siebente Vorsorgeuntersuchung brachte zum ersten Mal zu Tage, dass in der Entwicklung unseres Sohnes etwas nicht stimmte. Sobald die Schwester bei der Gewichtskontrolle mit ihm in Kontakt getreten war, begann Benjamin zu weinen und war dann nicht mehr zu beruhigen. Im Behandlungszimmer der Ärztin flüchtete er vom Behandlungstisch, indem er das seitliche Treppchen sicher herunterstieg und beim Rutscherauto in der äußersten Ecke des Zimmers Zuflucht suchte. Die Ärztin forderte mich ein wenig gereizt auf, ich solle mein Kind zurückholen und dafür sorgen, dass es während des Tests auf dem Tisch verweile. Sie erwähnte weiterhin, dass sie von seinen motorischen Fähigkeiten bereits überzeugt sei. Es gelang mir nicht, meinen Sohn auf den Tisch zu setzen. Er sprang sofort wieder auf, krallte sich ängstlich an mir fest und verweigerte jegliche Zusammenarbeit. Nach einem kurzen Gespräch mit mir schrieb die Ärztin in sein Untersuchungsheft: „Denver Test: ignoriert Aufforderung; nur nach Befragen der Mutter altersentspr. Entw.“ Ich kann meine Gefühle in diesem Moment nur schwer wiedergeben. Ich fühlte Tränen in mir aufsteigen, war wütend auf mich und verzweifelt. Was machte ich nur falsch bei Benjamin und wieso war Conrad ein so unkompliziertes Baby und Kleinkind gewesen? Da Benjamin keine organischen Schäden aufwies, musste es doch mein Versagen sein, welches seine Entwicklung in die falschen Bahnen lenkte. Ich fand damals jedenfalls keine plausible Erklärung für seine Verweigerung. Die Dinge, die die Ärztin im Test von ihm verlangte, erledigte er zu Hause mit Leichtigkeit, zumindest traf das für die grob- und feinmotorischen Aufgaben zu. Ich erwähnte im Gespräch mit der Ärztin zum wiederholten Male seine unveränderten Schlafstörungen und tat meine Sorge über die ungewöhnliche Sprachentwicklung unseres Sohnes kund. Die Schlafstörungen verharmloste die Ärztin damit, dass viele Zweijährige protestieren täten, wenn sie ins Bett gebracht würden. Wie sollte ich auch erklären, dass etwas so schlecht Messbares wie der Gesamtschlaf einer Nacht bei einem Kind, das häufig weinend aufwacht und dann ewig braucht, bis es wieder einschläft, uns nicht ausreichend erschien. Wann hat ein Kind eigentlich Schlafstörungen? Dafür gibt es doch keine Mess- und Richtwerte wie für Blut- und Urintests. Die verzögerte Sprachentwicklung erklärte mir die Ärztin damit, dass Jungen häufig später sprechen lernen würden als Mädchen und dass Zweitgeborene meistens langsamer die Sprache erwerben täten, weil sie öfter mit dem Erstgeborenen und dafür weniger mit den Eltern kommunizieren würden. Damals erschien mir das durchaus plausibel und in meinem tiefsten Innern war ich wohl froh, dass die Ärztin unsere Sorgen zerstreute und zum Abwarten riet. Der Denver-Test sollte nach spätestens zwei Monaten wiederholt werden, wozu es aber nicht kam, weil Benjamin auch zum späteren Zeitpunkt nicht kooperationsbereit war. Das gelbe Untersuchungsheft gaukelte uns damals vor, dass die Probleme unseres Sohnes nicht besorgniserregend waren. Heute bin ich der Meinung, dass in der Spalte „Erfragte Befunde“1 folgende Punkte hätten unbedingt angekreuzt werden müssen: