Kitabı oku: «Nikolka», sayfa 3

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Konstantinopel

In Russland weitete sich die wirtschaftliche und technische Rückständigkeit mehr und mehr auf alle Bereiche des geschäftlichen Lebens aus. Die Schifffahrtsgesellschaft «Roput» hingegen, die 1856 unmittelbar nach dem Krimkrieg vom langjährigen Stadtpräsidenten Odessas mitbegründet worden war, blühte unter Admiral Nikolai Tschichatschow förmlich auf. Zwei Jahre nach der Inbetriebnahme hatte das Unternehmen bereits 35 Schiffe in französischen und englischen Werften bauen lassen, die weit über hunderttausend Passagiere und über vier Millionen Tonnen Ware auf zwölf Seewegen transportierten. Die Firma wurde grösser und grösser, fuhr bis in die Häfen von Ägypten und Frankreich und entwickelte sich zur führenden Reederei im Handel mit dem Osmanischen Reich. In der Folge berief man den Admiral in den Marinestab und übertrug ihm später sogar das Amt des Marineministers.

Auf der Suche nach einem neuen Direktor kam Rudolf von Steigers Sohn Eduard, der sich nach der Rückkehr aus der Schweiz und dem Studium in Sankt Petersburg während seiner 15-jährigen Tätigkeit im Marineministerium einen Namen gemacht hatte, ins Spiel. An seinem Vorstellungsgespräch gelang es ihm, die Unternehmensgründer davon zu überzeugen, dass sie mit ihm die beste Wahl für den weiteren Ausbau ihrer Flotte treffen würden.

Als Eduard seine Stelle in Konstantinopel antrat, hatte die einst blühende Hauptstadt des Osmanischen Weltreichs ihren Zenit bereits überschritten. Es war versäumt worden, die notwendigen Modernisierungen durchzuführen, überall herrschte Korruption, und die militärischen Niederlagen hatten auch auf das Leben in der Metropole ihre Auswirkungen. Trotzdem war Konstantinopel, wo zwei Kontinente und eine Vielzahl von Nationalitäten aufeinanderstiessen, noch immer ein faszinierender und lebendiger kultureller Schmelztiegel. In den Strassen und Gassen vermischten sich Menschen christlicher, jüdischer und muslimischer Prägung mit allen erdenklichen Ethnien, und das gegenseitige Interesse am Austausch trieb die Geschäfte voran. Im «ägyptischen Basar» reihten sich in einer langen, überwölbten Passage kleine Läden aneinander, die Gewürze und allerhand Erzeugnisse für Apotheker, Färber und Parfümeure anboten. Langbärtige Händler sassen mit untergeschlagenen Beinen in Kaftanen und mit Turbanen würdevoll inmitten von Gefässen mit geheimnisvollen Salben und Tinkturen und warteten auf Kundschaft. In der Nähe des Basars lagen die Gasthäuser und Karawansereien, wo die von weit her gereisten Kaufleute übernachten und ihre Güter einlagern konnten. Unmengen von Stoffrollen und Gefässen mit eingelegten Oliven und getrockneten Datteln standen bereit, und in den riesigen Lagerhallen stapelten sich kostbarste Teppiche.

Auf einem dieser Basare begegnete Eduard erstmals Philomène Durand, der Tochter eines französischen Bankiers, die durch ihre ausserordentliche Eleganz die ganze Gesellschaft Konstantinopels bezauberte. Auch Eduard konnte sich dem Charme dieser Frau nicht entziehen und hielt schliesslich bei ihren Eltern um ihre Hand an.

Das grosse Haus, das die beiden nach ihrer Heirat bezogen, trug den schönen Namen «Petit Champs», auch wenn weit und breit kein Feld zu sehen war. Philomène brachte all ihre Kinder in «Petit Champs» zur Welt. Den älteren Kindern Walerija, Anatolij und Rudolf folgten mit etwas Abstand Nikolai und Sergej – die späteren Grossväter von Niklaus und Sergius Golowin.

Während die Söhne zu Hause von einer Gouvernante und einem Schweizer Privatlehrer unterrichtet wurden, besuchten Walerija und die meisten ihrer Cousins und Cousinen das französische Pensionat Notre Dame de Sion. Die Sonntage verbrachten Walerijas Brüder oft bei ihnen im Kloster, wo die Atmosphäre stets fröhlich und unbeschwert war.

1921 kam Sergej, der jüngste der Brüder, auf seiner Flucht vor der Russischen Revolution noch einmal bei jenem Kloster vorbei. Am äusseren Erscheinungsbild hatte sich nichts geändert, und auch in den Gängen roch es noch immer wie in seinen Kindertagen. Und obwohl inzwischen mehr als vier Jahrzehnte vergangen waren, kam es ihm vor, als wären es dieselben Schwestern, die ihn empfingen. Noch trotzten die schweren Mauern dem Weltgeschehen und waren von Ruhe und Frieden erfüllt.

Die Eltern Eduard und Philomène führten ein offenes Haus. Abends empfingen sie entweder Besucher oder waren selbst irgendwo zu Gast. Dann wurde gesungen, musiziert und eine Partie Whist gespielt. Dieses Kartenspiel, das ursprünglich aus England stammte und aus dem sich später das Bridge entwickelte, hatte sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts um den ganzen Erdball verbreitet und wurde vor allem in jenen Kreisen mit Begeisterung gespielt, die den britischen Lebensstil priesen. Obwohl auch im russischen Adel der gelegentliche Gebrauch französischer Redewendungen zum guten Ton gehörte, war die Bewunderung für englische Sitten und Gebräuche weit verbreitet.

Bei den grossen Empfängen in «Petit Champs» waren die Kinder nicht dabei. Nur bei kleineren Einladungen kam es zuweilen vor, dass sie zusammen mit der Gouvernante an einem separaten Tisch essen durften. Meistens jedoch nahmen die Knaben ihre Mahlzeiten im hauseigenen Schulzimmer ein und wurden anschliessend ins Bett geschickt, wo sie noch eine Weile der Musik, dem vergnügten Lachen und den Gesängen der Gäste lauschen durften. Dann kam die Mutter, setzte sich zu ihnen ans Bett, bekreuzigte sie und sprach ein Nachtgebet. Eingenommen von ihrer liebenswürdigen Art und mit dem Bild ihres anmutigen Lächelns vor Augen, schliefen sie friedlich ein. Auch den Vater bewunderten sie über alles. Im Gegensatz zu Philomène war er von grosser, aber schlanker Statur und hatte trotz seines fortgeschrittenen Alters und seiner grau gelockten Haare ein jugendliches Gesicht. Eduard wiederum war stolz, dass seine Frau als die eleganteste Dame Konstantinopels galt. An vielen Anlässen und Empfängen waren ihre Kleidung und ihr sicherer Geschmack das vorherrschende Thema unter den Damen. Auch als die Auslagen später eingeschränkt werden mussten, war sie stets darauf bedacht, ihre Noblesse nie völlig ablegen zu müssen.

In jenen Tagen in Konstantinopel jedoch fehlte es ihnen an nichts. Sie waren von zahlreichen griechischen Bediensteten umgeben, besassen Pferde und ein Boot, mit dem sie im Sommer in Begleitung von drei türkischen, in goldene Gewänder gekleideten Ruderern Ausfahrten machten. An die Bälle liess sich Philomène von zwei edel ausstaffierten Knaben in einer geschlossenen «Chaise à Porteur» tragen. Ansonsten stand die Sänfte in der Empfangshalle, und wenn es niemand sah, setzten sich die Kinder hinein und ahmten das Leben der Erwachsenen nach.

In der gehobenen Gesellschaft Konstantinopels ging es damals ausgesprochen fröhlich zu und her. Die Menschen waren unbeschwert und voller Lebensfreude. Nebst Bällen und Empfängen fanden Konzerte und Theaterveranstaltungen statt. Im Sommer unternahm man Picknickausflüge aufs Land oder auf die Prinzeninseln.

Die Familie von Steiger reiste jeden Frühling an den Bosporus, meistens nach Bujuk-Dare. Der Ort mit den vielen Botschaften und Residenzen galt in ihrem Bekanntenkreis als beliebtes Ausflugsziel. Besonders beeindruckte die russische Residenz, die von einem prachtvollen Park umgeben war und von der aus man eine wundervolle Aussicht auf die Öffnung des Bosporus mit den vielen Schlössern und ausgedehnten Gartenanlagen bis hin zum Schwarzen Meer und zum Hafen von Konstantinopel hatte. Und man sah auf das Goldene Horn, das den Bosporus mit dem Marmarameer verband. Obwohl Eduard und Philomène in ihrem Leben viele Länder bereist hatten, waren sie sich einig, dass ihnen nie zuvor eine Gegend von vergleichbarer Schönheit begegnet war.

Die von Steigers verfügten neben einem Kutter über ein eigenes Luxusschiff mit dem Namen «Taman». Der Kommandant war schon etwas älter und hatte ein grosses Herz. Alle nannten ihn «Kapitän Gut», und wenn er die Familie durch den Bosporus steuern und ihnen einen Teller seines kräftigen Borschtsch mit einem Stück schmackhaftem Schwarzbrot vorsetzen konnte, strahlte er über das ganze Gesicht.

Die Aufzeichnungen von Eduards Sohn Sergej geben Einblick in das Leben seines Vaters und in die damaligen besseren Kreise von Konstantinopel. Sie zeigen, womit die Gesellschaft zu kämpfen hatte und was sie beschäftigte. Figuren und Schicksale tauchen auf, die man für Erfindungen halten könnte und anhand derer man nachvollziehen kann, warum Niklaus gewisse Kapitel seiner Familiengeschichte mit Tolstois «Anna Karenina» verglich.

Abgesehen von den verwandtschaftlichen Verbindungen, die Philomène und Eduard besonders wichtig waren, bestand ihr Umfeld hauptsächlich aus Mitgliedern des diplomatischen Korps und Teilen der sehr grossen und vermögenden russischen Kolonie. Besonders verbunden waren sie mit dem Minister für Volksbildung, der sich in den schwierigen Jahren, die noch auf die russische Bevölkerung zukamen, hohes Ansehen erwerben sollte, sowie mit dem russischen Botschafter, einem Fürsten Lobanoff-Rostowskij. Ihm sagte man eine stürmische Romanze mit einer jungen Schönheit namens Virginie nach, was dem notorischen Schürzenjäger durchaus zuzutrauen war. Seine zahlreichen Affären hatten dazu geführt, dass man ihn zwischenzeitlich sogar von seinem Botschafterposten abgezogen hatte. 1888 kam er beim tragischen Eisenbahnunfall des Zarenzuges in der Nähe von Birky, an dessen Spätfolgen auch Alexander III. erlag, ums Leben. Der Fürst verschied noch an der Unglückstelle, was letztlich auch seine Geliebte in den frühen Tod trieb.

Über längere Zeit war auch der Sekretär des russischen Militärattachés in aller Munde, nachdem bekannt geworden war, dass er in Armenien mithilfe eines dort stationierten Generals ein einfaches Bauernmädchen geraubt und in die Türkei entführt hatte. In Odessa schliesslich verwandelte es sich zum allgemeinen Erstaunen in eine russische Dame von Welt, und nur ein kleiner Akzent erinnerte noch an deren Herkunft und die zur Legende gewordene Räubergeschichte.

Zu den regelmässigen Gästen in «Petit Champs» gehörte ausserdem eine gewisse Familie Onu, deren ältester Sohn als Student in eine politische Verschwörung verwickelt und in die Verbannung geschickt worden war. Seine von allen geliebte Schwester hatte sich mit einem Gutsbesitzer verheiratet und lebte auf dem Land, als sich eines Tages in der Stadt die Nachricht wie ein Lauffeuer verbreitete, dass die beiden unter noch ungeklärten Umständen ihre Kinder umgebracht hatten. Auf ihrer Flucht vor der Justiz griff die Polizei sie schliesslich in Wien auf und wies sie nach stundenlangen Verhören und zahlreichen medizinischen Untersuchungen in die Psychiatrie ein. In den gehobenen Kreisen diskutierte man damals, ob es sich um ein brutales Gewaltverbrechen im Affekt gehandelt, oder der Tat nicht doch eine seelische Notlage zugrunde gelegen haben musste.

Während solche und andere Geschichten besonders von den Damen angeregt diskutiert wurden, drehten sich die Gespräche in den Männerrunden immer wieder um die politischen Verhältnisse im Land. Viele der Entscheidungen des Sultans Abdul Hamid hatten einen unmittelbaren Einfluss auf ihre berufliche und persönliche Situation. Obwohl sie grundsätzlich Abdul Hamids autokratischen Führungsstil befürworteten und aufklärerischen Tendenzen ablehnend gegenüberstanden, stellten sie als kultivierte Bürger doch die zunehmende Zensur und den staatlichen Überwachungsapparat infrage.

Als sich aber die Bewegung der sogenannten Jungtürken formierte, die eine Revolution nach französischem Vorbild mit dem Ziel eines säkularisierten Staates anstrebten, ging dies selbst den fortschrittlichsten Köpfen unter ihnen zu weit. Nur Eduard fürchtete weniger den drohenden Untergang des Osmanischen Reichs als die damit verbundenen Zollformalitäten, die auf seine Schifffahrtsgesellschaft zugekommen wären.

Brüder

Als Eduards ältere Söhne Anatolij und Rudolf die nötige Reife erreicht hatten, schickten die Eltern sie ins Internat des Rischeljewskaja Gymnasiums in Odessa. Ein paar Jahre später folgten ihnen die jüngeren Brüder Nikolai und Sergej nach.

Dass Sergej Nikolai begleiten durfte und nicht, wie Philomène es sich gewünscht hatte, weiterhin bei ihr blieb, verdankte er einem eigentümlichen Umstand. Sergej trug damals Mädchenkleider und lange Haare, wie es der englischen Sitte entsprach. Während sich andere Kinder klaglos in diese Maskerade schickten, wehrte er sich mit Händen und Füssen gegen den in seinen Augen unwürdigen Aufzug. Als er in einem Spitzenkleid und sorgfältig gekämmten, bis auf die Schulter fallenden Haaren an einem Kinderball in der russischen Botschaft von einem Knaben zum Tanz aufgefordert wurde, brach Sergejs ganze aufgestaute Wut aus ihm heraus, und er schlug zum Entsetzen der anwesenden Erwachsenen dem ahnungslosen Jungen heftig ins Gesicht.

Dieser Skandal führte dazu, dass ihm die Haare geschnitten wurden und er sich fortan in der Art eines Jungen kleiden durfte. Und auch seinem Wunsch, gemeinsam mit seinem Bruder in das Rischeljewskaja Gymnasium einzutreten, wurde stillschweigend nachgegeben.

Kurze Zeit nach der Ankunft von Nikolai und Sergej in Odessa brach im April 1877 der Russisch-Osmanische Krieg aus, und auch die Eltern mussten Konstantinopel verlassen. Philomène nahm sich in der Nähe des Gymnasiums zusammen mit Tochter Walerija eine Wohnung, während Eduard in Bukarest eine Anstellung fand und die Familie nur noch selten besuchen konnte.

Der Krieg löste in sämtlichen Volksschichten der Stadt starke patriotische Gefühle aus. Wer konnte, spendete grosse Summen, und die Damen strickten für die russischen Soldaten warme Kleider. Man verfolgte das Geschehen fieberhaft mit, beklagte die Verluste und jubelte bei jeder russischen Eroberung.

Auch die elf- und dreizehnjährigen Buben Sergej und Nikolai waren bestens über die Kampfhandlungen unterrichtet. Sie kannten alle Schlachtfelder und die Namen von Kriegsgrössen wie Gurko, Skobelew oder Totleben. Nach der Schule übten sie auf dem Pausenplatz das Exerzieren, sangen Militärlieder und träumten davon, als Freiwillige in den Krieg zu ziehen.

Schon im Sommer vor dem Ausbruch der militärischen Auseinandersetzungen hatten die Buben ihre Spielsäbel geschliffen und sich so ins Zeug gelegt, dass sich Sergej nach einem Schlag seines Bruders Rudolf eine Gesichtswunde nähen lassen musste. Den schwarzen Verband trug er noch lange voller Stolz und fühlte sich wie ein kleiner Kriegsheld.

Als das Dragonerregiment Kinsberg verabschiedet wurde, durften die Schüler des Rischeljewskaja Gymnasiums am feierlichen Anlass teilnehmen. Die berittene Infanterie nahm auf dem grossen Platz neben der Kirche Aufstellung, und die Buben beteten ergriffen und voller Hingabe für die Offiziere und Soldaten. Nach dem Gottesdienst und den würdevollen Worten des Priesters wurden alle Anwesenden mit dem heiligen Wasser gesegnet. Dann folgte ein lautes Kommando, die Musiker nahmen das Spiel auf, das Regiment marschierte los, und während die Buben den jungen Männern ihre letzten Durchhalteparolen nachriefen, schossen ihnen vor lauter Rührung Tränen in die Augen.

Kurz danach besuchte der Zar Odessa. Am Strassenrand standen die Rischeljewskajaner und die uniformierten Schülerinnen des Mädchengymnasiums Spalier. Ein Raunen ging durch die Menge, als er nach Stunden des Wartens endlich in seiner Kutsche vorfuhr und die Menschen ihn feierlich und mit der gebotenen Würde empfangen konnten.

Die Kampfhandlungen wurden im Jahre 1878 schliesslich beendet, doch der in San Stefano ausgehandelte Friedensvertrag war für viele Russen eine Enttäuschung. Weder ihre Idee einer Neuordnung Südosteuropas noch ihr lang ersehnter Zugang zum Mittelmeer waren durchgesetzt worden.

Für die Familie von Steiger bedeutete das Ende des Kriegs, dass sie wieder nach Konstantinopel zurückkehren konnte. Eduard war erstaunt, wie offen und herzlich sie dort empfangen wurden. Der Sommer in Bujuk-Dare wurde für sie zu einer besonders glücklichen und unbeschwerten Zeit. Am Meer fanden zahlreiche Festivitäten statt, Militärkapellen spielten auf, man sah viele russische Uniformen, und die Buben zogen freudig und voller Stolz auf ihre Herkunft durch die Strassen.

Dass die Türken gegenüber den Russen keine Verbitterung zeigten, obwohl sie wie schon so oft in Auseinandersetzungen mit dem Zarenreich die Verlierer waren, beeindruckte Eduard und Philomène tief.

Eduard und seine Schifffahrtsgesellschaft waren nun fast rund um die Uhr mit der Repatriierung der russischen Truppen beschäftigt. Trotzdem fanden er und seine Frau auch Zeit, um zu Hause Gäste zu empfangen. Oft brachte Eduard nach der Arbeit Kapitäne und hohe Militärs nach «Petit Champs». Einmal sogar den berühmten General Totleben. Ihm zu Ehren wurde ein grosser Ball veranstaltet. Es kamen unheimlich viele Gäste, um den Helden von Sewastopol zu feiern, und der Abend wäre ein grosser Erfolg geworden, wenn der General nicht mitten in der Mazurka gestürzt wäre und mit einer aufgeplatzten Kriegswunde ins Krankenhaus hätte gebracht werden müssen.

Auch der sechzigjährige Eduard kämpfte mit gesundheitlichen Problemen, die unter anderem daher rührten, dass er sich auf undurchsichtige Geschäfte eingelassen und viel Geld verloren hatte. Sowohl seine seelische wie auch körperliche Verfassung verschlechterten sich dramatisch.

Als seine vier Söhne in Odessa eines Morgens in das Büro des Schuldirektors gerufen wurden, traf sie die Nachricht vom Tod ihres Vaters dennoch unvorbereitet.

Walerija heiratete später den französischen Konsul von Odessa. Ihr Bruder Anatolij wurde Reserveoffizier im polnischen Tschenstochau, und nacheinander traten auch seine jüngeren Brüder ihren Dienst an. Die gemeinsame Zeit mit seinem Bruder Nikolai bei den Dragonerregimenten Kinsburg und Jekaterinoslaw hatte sich Sergej jedoch anders vorgestellt. Er machte sich grosse Sorgen um seinen älteren Bruder, der ein ausschweifendes Leben führte und vor allem die Gesellschaft der Husaren und Ulanen suchte, bei denen der Alkohol in rauen Mengen floss. Nikolai und seine Trinkgenossen bekundeten immer mehr Mühe, um neun Uhr morgens einen passablen Eindruck zu machen, wenn sie beim diensthabenden Offizier zum Appell antreten mussten. Einmal liessen sie sich sogar von einem kleingewachsenen jüdischen Arzt gegen ein hohes Honorar behandeln, damit ihnen die durchzechte Nacht nicht mehr anzusehen war. Als sie ihn aber schon am nächsten Tag wieder aufsuchten, verweigerte er ihnen jede Hilfe, obwohl sie ihm dafür den doppelten Betrag anboten. Was sie nicht wussten war, dass der Arzt sich vor allem davor fürchtete, von den betrunkenen Junkern zum Dank erneut in die Luft geworfen zu werden.

Sergejs Versuche, mässigend auf seinen älteren Bruder einzuwirken, bewirkten das Gegenteil. Nikolai begann sich zu fragen, ob sein Bruder, der sich höchstens ein Glas Rotwein am Mittag gönnte, überhaupt für das harte Männerleben in der Armee geeignet war. Sobald es hoch herging, verärgerte dieser mit seinen mahnenden Sprüchen die ausgelassene Tischgesellschaft, und so war es kein Wunder, dass er bei den Kameraden nicht eben beliebt war.

Am Ende bestand Sergej seine Prüfung mit Bravour und Nikolai schaffte den Abschluss ebenfalls, wenn auch nur um Haaresbreite.

Nach Walerija heirateten auch ihre Brüder Rudolf und Nikolai. Sergej lernte an einem gesellschaftlichen Anlass Marija Skarginskaja kennen, eine Tochter aus gutem Hause, die von ihrem Vater abgöttisch geliebt wurde, der aber der Ruf vorauseilte, launisch und verwöhnt zu sein. Sergej jedoch war bezaubert von ihrer Klugheit und ihrer natürlichen Art. Die beiden verliebten sich, und bald darauf läuteten erneut die Hochzeitsglocken. In Warschau kauften sie sich Möbel und Teppiche und bezogen eine grosse Wohnung in Tschenstochau.

Trojka

Aufgrund ihres aufwendigen und verschwenderischen Lebensstils schmolz Sergejs Vermögen rasch dahin, und Marija konnte ihr Erbe erst im Alter von dreissig Jahren antreten. Er war daher erleichtert, als ihm der Posten eines Adjutanten beim Grafen Mussin-Puschkin, dem Armeegeneral und Kommandanten der Truppen im Bezirk Odessa, angeboten wurde. Mit seiner Anstellung verpflichtete er sich zu absoluter Verschwiegenheit. Es galt: «La bouche doit être la prison de la langue.»

Marija hatte kurz hintereinander Sohn Boris und Tochter Ljudmila zur Welt gebracht, und Sergej war stark von seiner Arbeit beansprucht. Ungeachtet dessen führten sie ein mondänes Leben. Sie besuchten das Theater und die Oper und nahmen an unzähligen Empfängen teil. Dazwischen war Sergej immer wieder während Wochen zusammen mit dem Grafen auf Inspektionsreisen in Südrussland unterwegs.

Als er nach dem Tod von Alexander III. im Jahre 1894 auf der Krim als Mitglied einer Regierungsdelegation die Rückführung der sterblichen Überreste des Zaren nach Sankt Petersburg begleiten durfte, erfüllte ihn dies mit einer Mischung aus Wehmut und Stolz. Kurz darauf wurde ihm die Ehre zuteil, mit dem Grafen nach Istanbul und Athen zu reisen, um Sultan Abdul Hamid sowie dem griechischen König die Nachricht vom Ableben Alexanders III. und der anstehenden Thronbesteigung Nikolais II. persönlich zu überbringen.

Sergej war äusserst beeindruckt von den feierlichen Empfängen der griechischen Krone, dem glanzvollen Prunk, der Opulenz der Bankette und dem Habitus von Hof und Diplomatie. Als Gastgeschenk des Zarenhofes hatten die beiden eine Trojka aus Ural-Kristall mitgebracht. Während der Begrüssung durch die königliche Familie stand sie auf einem niedrigen Salontisch. Als sich Sergej der Prinzessin näherte, um ihr die Hand zu küssen, verlor er in seiner Aufregung kurz die Konzentration. Er machte eine unachtsame Bewegung, sein umgeschnallter Säbel verfing sich in den Spitzenbordüren des Tischtuchs, und die wertvolle Figur zerschellte am Boden. Der Graf muss ein gewiefter Diplomat gewesen sein, jedenfalls half er Sergej mit den feierlichen Worten aus der Patsche: «Mögen die Schwierigkeiten in den Beziehungen zwischen unseren Ländern in ebenso viele Scherben zerspringen wie diese Vase!»

Wenn der Graf diese Episode später zum Besten gab, betonte er stets, dass der Empfang bei Hof zwar etwas steif gewesen sei, was aufgrund der damaligen politischen Lage durchaus verständlich war, «mais grâce à Monsieur de Steiger, la glace fut rompue».

Ein Jahr später erkrankten die Kinder Boris und Ljudmila an Diphterie. Boris überstand die Krankheit, Ljudmila jedoch konnte nicht gerettet werden. Marija war untröstlich. Sie schaffte es nicht, sich mit dem Tod ihrer kleinen Tochter abzufinden und verfiel in eine tiefe Schwermut. Die Ärzte verschrieben ihr Morphium, und im Lauf der Zeit wurden die Dosen immer höher.

Sergej hoffte, dass Reisen Marija auf andere Gedanken bringen würden. Die kleine Familie fuhr auf die Krim, nach Menton, Cannes und in die Schweiz. Sie besuchten Schwester Walerija, die inzwischen in Paris lebte, reisten nach Bad Elster in Sachsen und Franzensbad. Besonders mochten sie die französische Schweiz und die am Genfersee gelegenen Orte Lausanne, Vevey und Ouchy. In Montreux stiegen sie im besten Hotel ab und bezogen sechs Zimmer. Für viele vermögende Russen und Engländer waren damals die Schweizer Kurorte, wo grosser Komfort zu verhältnismässig günstigen Preisen geboten wurde, ein äusserst beliebtes Reiseziel.

Leider schafften es auch die immer längeren Auslandsaufenthalte nicht, Marija von ihrer Sucht zu heilen. Sergej vertiefte sich in Bücher, sprach mit unzähligen Ärzten und quittierte letztlich sogar seinen Dienst, um sich rund um die Uhr um seine Frau kümmern zu können.

Auch das in der Nähe von Kiew gelegene Landgut, das sie dank Marijas Erbschaft erwerben konnten, vermochte sie nicht von ihrer Trauer zu befreien. Erst ihr früher Tod, zwei Jahre später, beendete ihre Leidensgeschichte.

Schliesslich ging Sergej mit seiner Haushälterin Anna Petrowna eine Liebschaft ein, die vor ihrer Anstellung im Gutshaus bei einem Notar als Schreibkraft tätig gewesen war.

Sergej versuchte sich kurze Zeit als Landwirt, überliess seine Felder aber bald schon einem Pächter und übernahm fortan verschiedene lokale Ehrenämter.

Die Geburt ihrer unehelichen Kinder Anatolij und Alla verunmöglichten Sergej eine Rückkehr in die militärischen Dienste, da von einem Offizier geregelte Verhältnisse erwartet wurden. Für Sergej, der bis an sein Lebensende voller Stolz seine Auszeichnungen und seine militärischen und zivilen Uniformen vorzeigte, muss dieser Ausschluss eine erhebliche Kränkung bedeutet haben.

Trotzdem war er zufrieden mit seiner neuen Situation. Die Kinder brachten Leben ins Haus, und seine Beziehung mit Anna war glücklich. Er liebte es, ihren Gesängen zu lauschen, bewunderte den Schalk und die Schlagfertigkeit, mit der sie immer wieder Sprichwörter und Redensarten in ihre Gespräche einfliessen liess und erfreute sich an ihrer Schönheit und ihrem angeborenen ländlichen Charme.

Schliesslich heirateten Anna Petrowna und Sergej trotz aller Widerstände, und zwei weitere Kinder kamen zur Welt, die sie auf die Namen Jelisaweta und Sergius tauften.

Sohn Anatolij beschrieb später seine frühe Kindheit, die er in der Obhut von seiner Mutter, deren Amme Domna und einer Tante verbracht hatte, und erzählte von den seltenen Besuchen des Vaters. Mit dem Landgut verband er noch Jahrzehnte später wohltuende Gerüche und zarte Glücksgefühle.

«Klare Abgrenzungen gab es nicht – ob Tantchen, ob Mutter, alles floss zusammen in der Atmosphäre meines Kinderzimmers, mir waren die Hände des Tantchens oder meiner Mutter gleichermassen angenehm und nah. Ich wurde gebadet in einer kleinen Wanne vor der Terrasse, an der Sonne, bei einem Rosenbaum – die Sonne spielte auf dem Wasser. Nacheinander übergossen mich Mutter und Tantchen. Natürlich stand auch die Amme mit meiner Schwester dabei. Das Wasser duftete nach Sonne, die Mutter nach Erdbeerseife, das Tantchen nach ätherischem Öl. Domna hatte den leichten Geruch von Graubrot an sich, von dem das Mädchenzimmer ständig erfüllt war.

Nur sehr selten liess sich in dieser weiblichen Welt mein Vater blicken. Die Berührung seiner Wangen war frisch, wenn auch stets ein bisschen stachelig, sein gewichster und mit Eau de Cologne getränkter Schnauzbart lief wie bei Wilhelm II. nach oben in zwei Spitzen aus, wenn er mich auf den Arm nahm, stachen mich seine Orden und die goldenen Uniformknöpfe in die Brust. Vater sprach stets mit lauter Stimme, hustete laut, lachte jungenhaft und hob mich über seinem Kopf hoch, was Mutter wie Tantchen sogleich in Geschrei ausbrechen liess. Leider war er stets auf Reisen. Immer wieder stellte sich unsere kleine weibliche Welt am Perron auf, und schon winkte er uns aus der von vier grossen falben Pferden gezogenen Kutsche zu, in weisser Uniformjacke mit Goldknöpfen und Orden und in nobler roter Schirmmütze.»

Sergej war inzwischen zum Friedensrichter und Adelsmarschall aufgestiegen und wurde in der Ära Stolypin zum Vorsitzenden seines Bezirks gewählt. Er gründete zahlreiche Schulen und Spitäler und liess das damals noch marode Strassennetz verbessern.

Als Premierminister und Innenminister des Russischen Kaiserreichs hatte Pjotr Stolypin zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Agrarreform in Gang gesetzt, die den Adel einen Teil seines Landbesitzes kostete und es Kleinbauern ermöglichte, eigenen Grund und Boden zu erwerben. Viele dieser sogenannten Stolypinbauern gaben allerdings aus wirtschaftlichen Gründen ihre Höfe wieder auf und suchten Arbeit in den Städten. Ein weiteres zentrales Anliegen war Stolypin die Förderung von Bildungseinrichtungen. Es gelang ihm, die Analphabetenrate in der Armee zu verringern, und er setzte sich für die Belange der Juden ein. Als kurz nach dem Oktobermanifest von 1905 eine Welle von Pogromen einsetzte, versuchte er diesen entgegenzuwirken und stellte sich damit offen gegen den Zaren, der die Ausschreitungen stillschweigend duldete.

Durch seine politischen Alleingänge und sein zuweilen rücksichtsloses, autoritäres Auftreten verlor Stolypin allerdings zunehmend den Rückhalt im Parlament und letztlich auch die Unterstützung des Zaren. Und so scheiterte am Ende sein Versuch, das Land zu modernisieren und aus Russland einen Rechtsstaat zu machen.

Sergej und seine Frau Anna Petrowna sassen am 14. September 1911 im Publikum der Kiewer Oper. Der Zar hatte soeben in seiner Loge Platz genommen, als ein Schuss auf den ebenfalls anwesenden Stolypin abgefeuert wurde. Der Täter war ein ehemaliger Agent der Geheimpolizei Ochrana. Es war nicht das erste Attentat auf den Premierminister, diesmal jedoch erlag er seinen Verletzungen.

Kurz darauf wurde Sergej nach Sankt Petersburg berufen und im Winterpalais des Zaren Nikolaus II. offiziell in sein Amt als Volksvertreter der Duma eingeführt.

Anna Petrowna fiel es aufgrund ihrer schlichten provinziellen Herkunft in der Metropole schwer, gesellschaftlichen Anschluss zu finden. Während ihr Mann von Empfang zu Empfang eilte, zog sie sich zunehmend aus dem öffentlichen Leben zurück.

Die Kinder jedoch bewegten sich in Begleitung ihrer Gouvernante mit grosser Selbstverständlichkeit unter ihren neuen aristokratischen Freunden und übernahmen rasch deren Interessen und Gewohnheiten. Ihren Vater sahen sie, wenn überhaupt, nur noch in seiner mit Orden überhängten Uniform des Duma-Deputierten. Sie bemerkten, welchen Respekt man ihm, wohl nicht zuletzt auch aufgrund seines persönlichen Zugangs zum Zaren, entgegenbrachte. Dabei schien sie der Glanz der höfischen Welt, mit der sie sich nun auch selbst verbunden fühlten, gleichermassen zu faszinieren wie zu amüsieren.

Als im Sommer 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach und Sergej die Leitung der Mobilmachung im Gouvernement Kiew übertragen wurde, kehrte er mit seiner Familie nach Südrussland zurück.

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