Kitabı oku: «Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie», sayfa 8
4. Kritische Anfrage: Hat die ‚Logik‘ einen blinden Fleck?
Olsons Gesamtwerk ist außergewöhnlich ideenreich, und doch sind es relativ wenige – und zudem erstaunlich einfache – Kernüberlegungen, auf die sich Olsons Ideen zurückführen und damit auch systematisch rekonstruieren lassen. So jedenfalls lautet die der hier vorgeschlagenen Lesart zugrundeliegende These. Dem Beleg dieser These dient die Unterscheidung einer gruppentheoretischen, gesellschaftstheoretischen und staatstheoretischen ‚Logik‘ kollektiven Handelns sowie die graphische Illustration der jeweils primären Fragestellung in den Abbildungen 4, 5 und 6.
Diese Abbildungen erfüllen aber auch noch einen zusätzlichen Zweck. Mit ihrer Hilfe lässt sich deutlich machen, dass Olsons Gesamtwerk eine interessante – und möglicherweise wichtige – Fragestellung nahezu völlig ausklammert, vgl. Abbildung 8. Die Rolle des Wettbewerbs – und insbesondere die Unterscheidung ruinöser und gemeinwohlförderlicher Konkurrenzprozesse – spielt in seinen Schriften kaum eine Rolle. Sie erscheint nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ – d.h. systematisch, kategorial bedingt – unterbelichtet. Hat Olsons ‚Logik‘ hier einen blinden Fleck? Folgende Hinweise mögen genügen, um die Frage und ihre Bedeutung zu verdeutlichen.
Abbildung 8:
Hat die ‚Logik‘ einen blinden Fleck?
|61|(1) Bei Olsons Staatstheorie fällt auf, dass Autokratie und Demokratie den Quadranten III und IV zugeordnet werden. Das liegt an dem spezifischen Aspekt, unter dem sie betrachtet werden. Olson fragt nach dem unterschiedlich umfassenden Interesse der Herrschaftskoalition. Implizit wird Demokratie damit eingeordnet als eine Kooperationslösung, bei der die Mehrheit sich erfolgreich zu kollektivem Handeln organisiert. Der Unterschied zur Autokratie wird folglich daran festgemacht, dass es in einer Demokratie eine vergleichsweise größere Gruppe ist, deren Interessen durch die Regierung vertreten werden.
Alternativ hätte es sich angeboten, Demokratie als eine politische Wettbewerbsordnung zu bestimmen. Aus einer solchen – Olson nicht unbedingt widersprechenden, aber doch signifikant anderen – Perspektive erscheint die parlamentarische Parteienkonkurrenz als das zentrale Merkmal. Unter diesem Aspekt wäre die Demokratie dem ersten Quadranten zuzuordnen. Das primäre Gegensatzpaar wäre folglich nicht Autokratie-Demokratie, sondern Anarchie-Demokratie, und der zentrale Unterschied läge somit nicht in einem mehr oder weniger umfassenden Interesse, sondern in einer mehr oder weniger funktionsfähigen Rahmenordnung für politischen Wettbewerb. Olsons Kategorien zur Analyse der Demokratie legen den Schwerpunkt auf den Kooperationserfolg einer Verteilungskoalition. Die alternative Sicht würde betonen, dass es gerade die Konkurrenz zwischen Verteilungskoalitionen sein kann, die solche Erfolge be- und sogar verhindert.[82]
(2) Hier geht es um mehr als lediglich terminologische oder typologische Fragen. Es geht um grundlegende und entsprechend weitreichende Fragen ökonomischer Kategorienbildung: (a) Aus Olsons Perspektive sind die politischen Regimes Anarchie, Autokratie und Demokratie in einem Spektrum zunehmend umfassenden Interesses anzuordnen. Die alternative Perspektive hingegen betont die Diskontinuitäten. Für sie ist Demokratie der – zivilisationsgeschichtlich ungemein erfolgreiche – Versuch, auf dem Rücken des Tigers zu reiten: Während Autokratie die quasi ‚natürlichen‘ Wettbewerbsbedingungen ruinöser Konkurrenz durch Monopolisierung beseitigt, beruht Demokratie auf der artifiziellen (Wieder-)Einführung politischer Konkurrenzprozesse, die die Delegationsverhältnisse zwischen Bürgern und Politikern durch Parteien mediatisieren, für die die Wettbewerbsanreize so gesetzt werden, dass sie das politische Principal-Agent-Problem zumindest halbwegs beherrschbar machen. (b) Eine solche Sicht modifiziert nicht nur das staatstheoretische Argument, sondern auch die verfassungspolitischen Schlussfolgerungen. So kann gerade ein Verhältniswahlrecht den politischen Markt offener halten. Sollte es angesichts neu auftretender Problemlagen zu Kartellen der Besitzstandswahrer kommen, so ermutigt ein Verhältniswahlrecht das Entstehen neuer Parteien, die als Innovatoren ihre etablierten Wettbewerber zu entsprechenden Imitationen zwingen können. Analog zu wirtschaftlichen Märkten reicht oft bereits ein potentieller Wettbewerb aus, um antizipative Verhaltensanpassungen zu bewirken. Insofern ist Olsons verfassungspolitische Schlussfolgerung nicht einmal als Tendenzaussage ohne weiteres haltbar, d.h. ohne eine ausdrückliche Analyse des möglichen Tradeoffs zwischen einem umfassenden Interesse auf der |62|einen Seite und einer höheren Innovationsrate, Anpassungs- und Lernfähigkeit auf der anderen Seite. (c) Ähnliches gilt auch für die gesellschaftstheoretischen und gesellschaftspolitischen Tendenzaussagen. Am Beispiel gewerkschaftlicher Organisation lässt sich dies schnell illustrieren. Während Olson sich für nationale Branchengewerkschaften ausspricht, weil er diesen ein umfassenderes Interesse als Betriebsgewerkschaften unterstellt und mithin tendenziell niedrigere Lohnabschlüsse vermutet, wird man die größere Verhandlungsmacht zentralisierter Gewerkschaftsorganisationen ebenfalls bedenken müssen. Damit erweist sich die Ceteris-Paribus-Annahme als äußerst kritisch. Es ist nicht ohne weiteres auszuschließen, dass nationale Gewerkschaftsorganisationen trotz umfassenderen Interesses vergleichsweise höhere Lohnabschlüsse durchsetzen könnten. (d) Vollends deutlich aber wird das hier angesprochene Problem, sobald man die Analogie zwischen wirtschaftlichen und politischen Märkten stark macht. Auf wirtschaftlichen Märkten erwartet niemand, dass sich gemeinwohlförderliche Ergebnisse durch eine Konzentration zu großen Unternehmenseinheiten hin bewirken lassen, und analog wäre auch von politischen Unternehmern zu erwarten, dass sie nicht durch verstärkte Kooperation, sondern eher durch wettbewerbliche Anreize dazu gebracht werden müssen, sich im Interesse aller Bürger zu verhalten.
(3) Olsons ‚Logik‘ kollektiven Handelns würde durch eine Einbeziehung der ausgeblendeten Fragestellung sicherlich modifiziert werden, auch über die angesprochenen Einzelbeispiele hinaus. Aber würde sie hierdurch an Eleganz und Systematizität verlieren? Oder würde sie ganz im Gegenteil sogar an theoretischer Konsistenz gewinnen können? Ließe sie sich vielleicht gar von einer ‚Logik‘ einzelner Tendenzaussagen zu einer Logik im eigentlichen Sinne des Wortes: zu einer ökonomischen Interaktionslogik transformieren?[83]
Für die zweite Möglichkeit spricht vielleicht folgende Überlegung. Wenn man – nicht das Gefangenendilemma, wohl aber – die Interaktionslogik des Gefangenendilemmas zum Paradigma der Analyse kollektiven Handelns macht, dann werden die Konturen einer gesellschaftstheoretischen Konzeption sichtbar, wie sie gegenwärtig im Rahmen einer ‚Normativen Institutionenökonomik‘ angestrebt wird.[84] Es handelt sich um ein Forschungsprogramm, das die Stabilität – und streng analog: die Instabilität – kollektiven Handelns ins Zentrum der Betrachtung rückt, deren Perspektive damit auf die institutionelle Stabilisierung sozial erwünschter – und streng analog: auf die institutionelle Destabilisierung sozial unerwünschter – Interaktionen fokussiert wird. Konkurrenz und Kooperation erscheinen dann als alternative Interaktionsmodi, die mittels institutioneller Arrangements kombiniert und miteinander verschachtelt werden können. Eine solche Theorieperspektive ist von vornherein darauf berechnet, jene umfassenden Tradeoff-Betrachtungen vorzunehmen, um die Olsons Tendenzaussagen jeweils |63|erst ergänzt werden müssen. Ein weiterer und besonders wichtiger Vorteil dürfte zudem darin liegen, dass gerade die Überführung theoretischer Überlegungen in normative Empfehlungen systematisch, d.h. methodisch kontrolliert, erfolgen kann. Am Beispiel: Die Insider-Outsider-Theorie oder generell die Rent-Seeking-Theorie oder – noch allgemeiner – die wohlfahrtsökonomische Theorie externer Effekte identifiziert Täter und Opfer, indem gesellschaftliche Probleme auf Fremdschädigungsaktivitäten zurückgeführt werden. Hier erfolgt eine einseitige Zuschreibung von Verursachung, obwohl – nimmt man den genuin ökonomischen Gedanken sozialer Interdependenz ernst – prinzipiell von wechselseitiger Verursachung auszugehen ist. Eine solche alternative Konzeptualisierung führt denn auch in der Tat gesellschaftliche Probleme systematisch auf kollektive Selbstschädigungen in Form ruinöser Konkurrenzprozesse zurück. Folglich muss sie sich – und sei es auch noch so implizit – im Interessenkonflikt nicht auf die eine oder andere Seite schlagen, sondern kann stattdessen nach den gemeinsamen Interessen der Akteure fragen, um für gemeinsame Probleme institutionelle Reformoptionen zu eruieren, die – als Befreiung aus einer Rationalfalle – allgemein zustimmungsfähig sind. Geht man nicht von Dependenz, sondern von sozialer Inter-Dependenz aus, so lassen sich politische Reformen systematisch in die Argumentationsfigur kollektiver Selbstbindungen überführen. Anders als bei einer einseitigen Diagnose und Therapie muss man also gar nicht erst versuchen, einzelnen Akteuren Verzichtsleistungen aufzubürden. Wählt man die Konzeptualisierung sozialer Dilemmata, so erscheint eine politische Reform vielmehr als ein Tausch, bei dem sich Leistung und Gegenleistung gegenüberstehen (müssen!), so dass vermeintliche ‚Verzichts‘-Leistungen als Investitionen angesehen werden können, deren Rendite die Empfehlung anreizkompatibel macht.
Die Frage, ob Olsons ‚Logik‘ einen blinden Fleck aufweist, ist hier nicht abschließend zu beantworten. Sie wurde auch nur aufgeworfen, um einen Bereich derzeit offener Forschungsprobleme zu markieren, die weiterer Überlegungen wert wären. Es ging lediglich darum, etwaige Anknüpfungspunkte für theoretisch weiterführende Arbeiten aufzuzeigen. Insofern verstehen sich die Ausführungen zu diesem Gliederungspunkt weniger als Kritik denn in der Tat als Anfrage zum Entwicklungspotential einer umfassenden ökonomischen Gesellschaftstheorie, durch dessen Erschließung sich Olsons Intentionen möglicherweise noch wirksamer zur Geltung bringen ließen. Diese Intentionen sind Gegenstand des abschließenden Fazits.
5. Fazit: Interdisziplinarität und demokratische Aufklärung durch theoretische Integration
Bei Olsons Gesamtwerk, der gruppentheoretischen, gesellschaftstheoretischen und staatstheoretischen ‚Logik‘ kollektiven Handelns, handelt es sich um ein beeindruckendes Theorieprogramm, dessen Entfaltung in beharrlicher Arbeit über mehr als dreißig Jahre hinweg erfolgt. Welchen Motiven folgt die Kontinuität der theoretischen Entwicklung? Lassen sich möglicherweise grundlegende Ideen ausmachen, die diese Entwicklung heuristisch angeleitet haben?
|64|Die hier vorgeschlagene Lesart kommt zu dem Ergebnis, dass es – neben Olsons Verständnis von Ökonomik[85] – zwei solcher Ideen gibt. Es handelt sich zum einen um die Idee, dass die Arbeit an konkreten sozialwissenschaftlichen Problemen stets Interdisziplinarität erfordert. Zum anderen handelt es sich um die Idee, dass die Ideologien, die politisches Handeln leiten, den tatsächlichen Problemen der Gesellschaft nicht immer angemessen – und gelegentlich sogar höchst irreführend – sind. Interessanterweise legen beide Ideen ein bestimmtes Instrument nahe: Es handelt sich um das Mittel theoretischer Integration.
Zum Beleg dieser These seien zwei Aufsätze Olsons herangezogen. Der erste wurde erstmals 1968 veröffentlicht, der zweite 1991. Der erste beschäftigt sich mit dem Verhältnis zwischen Ökonomik und Soziologie, der zweite mit den Möglichkeiten ökonomischer Aufklärung über irreführende Ideologien.[86]
(1) Im ersten Aufsatz geht Olson der Frage nach, was eine Gesellschaft zusammenhält. Er stellt fest, dass unterschiedliche sozialwissenschaftliche Disziplinen hier typischerweise zu unterschiedlichen Antworten gelangen. Sein Befund lautet: Während viele Soziologen betonen, dass es auf Homogenität: auf gemeinsame Werthaltungen und allseits geteilte Normvorstellungen und Rollenerwartungen ankommt, stellen viele Ökonomen zumeist auf das genaue Gegenteil ab. Aus ökonomischer Sicht steigen die gesellschaftlichen Tauschvorteile, – nicht: je homogener, sondern – je heterogener die Bevölkerung ist.
Ausgehend von diesem Befund schlägt Olson vor, den offensichtlichen Widerspruch auf eine Weise aufzulösen, die beide Disziplinen bereichert. Zu diesem Zweck rekurriert er auf die kategoriale Unterscheidung zwischen privaten und kollektiven Gütern. Damit – so Olson (1968, 1991; S. 174) – „lässt sich der Gegensatz zwischen ökonomischer und soziologischer Perspektive aufheben und eine Argumentation skizzieren, die besser als alle beide ist. Diese Argumentation kommt zu dem Schluss, dass eine Gesellschaft – unter sonst gleichen Umständen – mit größerer Wahrscheinlichkeit zusammenhält, wenn ihre Mitglieder so sozialisiert sind, dass sie hinsichtlich privater Güter verschiedenartige Bedürfnisse und hinsichtlich kollektiver Güter ähnliche Bedürfnisse haben.“[87]
Olson geht es hier um theoretische Lernprozesse für beide Disziplinen. Die gemeinsame Arbeit am gleichen Problem, der Gedankenaustausch über die jeweils eigentümlichen Blickwinkel – kurz: interdisziplinäre Polyperspektivität – ist für ihn dann produktiv, wenn sie zum Anlass genommen wird, sich der theoretischen Kategorien jeweils neu zu vergewissern. Theoretischer Fortschritt ist für ihn Fortschritt hinsichtlich der Kategorienbildung, Fortschritt hinsichtlich einer systematisierenden und damit vereinheitlichenden Konzeptualisierung problemadäquater Perspektiven und gerade dadurch zugleich Fortschritt auf |65|dem Weg theoretischer Integration.[88] Für Olsons Gesamtwerk gilt im Umkehrschluss: Das Bemühen um theoretische Integration in der problemorientierten Auseinandersetzung mit ‚benachbarten‘ Disziplinen der Sozialwissenschaften ist für Olson eine – vielleicht sogar die – heuristische, forschungsleitende Idee bei der Weiterentwicklung ökonomischer Kategorien, mit denen er die eigene Disziplin bei der Bearbeitung allgemein gesellschaftlicher Probleme voranbringen will.
(2) Im zweiten Aufsatz setzt sich Olson mit dem Befund auseinander, dass ‚linke‘ und ‚rechte‘ Ideologien die Rolle des Staates, und zwar insbesondere seine sozialpolitische Rolle, im wirtschaftlichen Wachstumsprozess unterschiedlich einschätzen. Er geht der Frage nach, warum sich dieser ideologische Streit nur schwer mit Hilfe empirischen Tatsachenmaterials entscheiden lässt. Hierfür identifiziert er mehrere Gründe. Zu diesen Gründen gehört, dass die verfügbaren Statistiken über Ländervergleiche ‚mixed evidence‘ enthalten, so dass man sich mit einiger Beliebigkeit jeweils Beispiele herausgreifen kann, die die eigene Position stützen. Ein weiterer Grund besteht darin, dass sich der Umfang sozialpolitischer Maßnahmen nicht unbedingt im staatlichen Sozialbudget niederschlagen muss, weil vielfach auch von Regulierungen Gebrauch gemacht wird, deren Wirkungen sich statistisch nicht ohne weiteres identifizieren lassen. Ferner gibt es Diskrepanzen zwischen dem, was ‚linke‘ oder ‚rechte‘ Regierungen ankündigen, und dem, was sie an Politik tatsächlich praktizieren. Insbesondere können zwischen der normativen Diskussion über Pro und Contra von Sozialpolitik einerseits und der tatsächlich praktizierten Sozialpolitik andererseits Welten liegen, weil es in vielen Wohlfahrtsstaaten zu perversen Umverteilungen kommt. So schreibt Olson (1991b; S. 82) über die USA:
„Die Mittel, die unsere Gesellschaft umverteilt, gehen hauptsächlich an Leute, die sie nicht brauchen, und die Verluste an Effizienz und Dynamik, die von solcher Umverteilung bewirkt werden, haben wenig oder nichts mit der ideologischen Auseinandersetzung über Gleichheit und Gerechtigkeit zu tun.“
Insgesamt läuft Olsons Argumentation auf die These hinaus, dass die Fronten im ideologischen Grabenkrieg quer zu den tatsächlichen Problemen verlaufen, d.h. dass Ideologien die relevanten Politikalternativen verfehlen, weil sie die wirklich wichtigen Fragen systematisch falsch stellen. Aus Olsons Sicht geht es nicht um mehr oder weniger Sozialstaat. Eine solche Frage verfehlt das eigentliche Problem. Vielmehr geht es um die Frage – und diese Frage richtig zu stellen ist eine hochtheoretische Leistung –, wie das Politiksystem effizienter gemacht werden kann, damit es – durch geeignete sozialpolitische Maßnahmen – die Lage der Armen sowie – durch geeignete Maßnahmen, die das Wirtschaftswachstum fördern – die Lage der Bevölkerung insgesamt verbessert. Angesichts der gewaltigen Ineffizienzen, deren Abbau allseitig vorteilhaft wäre, ist für Olson (1991b; S. 82) der vielstrapazierte Tradeoff zwischen Gleichheit und Leistung beinahe geradezu |66|nicht-existent, ein „irriger Eindruck“, das Resultat intellektueller Fehlorientierung. Zur Korrektur solcher Fehlorientierungen kann die Wissenschaft – ganz im Sinne des Einleitungsmottos – beitragen, nicht indem sie fertige Antworten vorgibt, sondern indem sie hilft, allererst die richtigen Fragen zu stellen. So schreibt Olson (1991b; S. 81, H.i.O.):
„Das Problem ist, dass die meisten rechten Parteien und Politiker nicht den Großteil ihrer Zeit damit verbringen, freie Märkte herzustellen, und dass die meisten linken Parteien und Politiker nicht den Großteil ihrer Zeit damit verbringen, den Bedürftigen zu helfen. In hochorganisierten Gesellschaften ist der größte Teil der politischen Tätigkeit auf der Rechten wie auf der Linken der Verfolgung der organisierten Interessen gewidmet und weder den freien Märkten noch den Bedürfnissen der Armen.“
Gesellschaftliche Lernprozesse können also durch theoretische Lernprozesse angeleitet werden. Aber damit die Sozialwissenschaften und insbesondere die Ökonomik diese öffentliche Aufgabe in der Demokratie (besser) wahrnehmen können, bedarf es theoretischer Integration. So hält es Olson beispielsweise für besonders wichtig, dass sich die Ökonomik um Konzeptualisierungen bemüht, die es ihr erlauben, die Argumente pro und contra Sozialpolitik innerökonomisch zu diskutieren, z.B. als Vor- und Nachteile von Versicherungen. Staatliche Sozialpolitik lässt sich dann differenziert(er) beurteilen: ihre Einführung als Reaktion auf Probleme privater Versicherungsmärkte mit adverser Selektion, ihre Begrenzung als Reaktion auf Probleme moralischer Versuchung. Eine solche Differenzierung ist für Olson (1991a; S. 47, H.i.O.) Ausdruck theoretischer Integration: „Dieselbe Argumentation lässt sich – somit Aufwand sparend – als Plädoyer sowohl für staatliche Wohlfahrtsprogramme als auch für deren Beschränkung gebrauchen.“[89]
(3) Fazit: Folgt man der hier vorgeschlagenen Lesart, dann liest man Olsons Gesamtwerk als ökonomischen Beitrag zu demokratischer Aufklärung durch theoretische Integration. Im Bemühen um eine problemadäquate Kategorienbildung der Ökonomik im Besonderen und der Sozialwissenschaften im Allgemeinen liegt der vielleicht wichtigste und nachhaltigste Beitrag, den sein Werk: die Entwicklung einer gruppentheoretischen, gesellschaftstheoretischen und staatstheoretischen ‚Logik‘ kollektiven Handelns, zu den theoretischen Grundlagen demokratischer Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik leistet.
6. Nachtrag 2016
Mancur Olsons vielleicht wichtigstes Buch ist erst posthum erschienen, zwei Jahre nach seinem überraschend frühen Tod.[90] Es liegt auch in deutscher Übersetzung vor. Nicht dem Umfang nach, wohl aber dem Inhalt nach ist es gerechtfertigt, von einem opus magnum zu sprechen, denn hier synthetisiert Olson seine früheren Arbeiten zur Logik des kollektiven Handelns und zum Aufstieg |67|und Niedergang von Nationen zu einer in sich schlüssigen polit-ökonomischen Gesamtsicht, die mit zahlreichen innovativen Einsichten aufzuwarten weiß.
In dieser außerordentlich lesenswerten Schrift vergleicht Olson die drei politischen Regimes der Anarchie, Autokratie und Demokratie.
Kennzeichen der Anarchie ist ein (selbst-)zerstörerischer Ausbeutungswettbewerb, in dem konkurrierende Gruppen gewaltsam versuchen, sich auf Kosten der Gesellschaft zu bereichern. Es mangelt an sicheren Eigentumsrechten: Da niemand verlässlich davon ausgehen kann, die Erträge seines Bemühens sich selbst aneignen zu können, fehlt es an Anreizen für Arbeit und Investition. Die Pointe: In der durch Raub gekennzeichneten Anarchie gibt es anreizbedingt nur wenig zu rauben.
Kennzeichen der Autokratie ist die Befriedung der Gesellschaft durch ein Gewaltmonopol, das maximale Ausbeutung durch optimale Ausbeutung ersetzt. Hiermit verbinden sich zwei Konsequenzen: Zum einen achtet der Autokrat darauf, dass für seine Bevölkerung die Leistungsanreize erhalten bleiben; und zum anderen investiert er in öffentliche Güter. Metaphorisch ausgedrückt, wird die Gans nicht geschlachtet, sondern in eigennütziger Weise so gepflegt, dass sie goldene Eier legt.
Kennzeichen der Demokratie ist eine Mehrheitsherrschaft mit vergleichsweise noch mehr Investitionen und noch geringeren Steuersätzen, in der es unter Umständen sogar dazu kommen kann, dass die Mehrheit auf eine Ausbeutung der Minderheit(en) verzichtet und sich Verfassungsregeln gibt, die zur Gleichbehandlung aller Bürger führen.
Darüber hinaus besonders lesenswert sind die Kapitel 7 und Kapitel 10 dieses Buches. Kapitel 7 analysiert den (vorübergehenden) Erfolg der stalinistischen Ressourcenmobilisierung innerhalb der Sowjetunion, und Kapitel 10 erläutert die entwicklungspolitisch überaus bedeutsame Unterscheidung zwischen robusten und prekären Märkten. In die erste Kategorie fallen jene Märkte, die selbst durchsetzend sind und auch dann – als Schwarzmärkte im informalen Sektor – einigermaßen funktionieren, wenn der Staat sie zu unterbinden sucht. In die zweite Kategorie gehören all jene Märkte – z.B. für Kredite und Versicherungen –, die einer institutionellen Einbettung bedürfen, um eine Interaktion unter Abwesenden sowie eine vertrauensvolle Kopplung von Leistung und Gegenleistung über lange Zeiträume hinweg abwickeln zu können.
Ferner hinzuweisen ist auf einen hoch interessanten Aufsatzband, für den Mancur Olson als Mitherausgeber verantwortlich zeichnet,[91] sowie auf die zu Ehren von Mancur Olson herausgegebene Essaysammlung von Heckelman und Coates.[92]
