Kitabı oku: «Das Barnabas-Evangelium», sayfa 2
2.
Altötting/Deutschland, 27. November
Die Weihnachtsfans fieberten auch in diesem Jahr wieder dem Altöttinger Christkindlmarkt entgegen, der heute endlich startete. Gut drei Wochen lang konnte man den Duft des Glühweins, der Bratwürste und der Zuckerbäckerei wieder genießen, während man die besondere Stimmung des Christkindlmarktes, der eingebettet in prächtige Barockgebäude am berühmten Kapellplatz jedes Jahr stattfand und weit über die Stadtgrenze hinaus berühmt und beliebt war. Wer könnte sich dem Zauber der Besinnlichkeit und der Ruhe, gepaart mit geschäftigem Treiben entziehen? Hans Hiebler, Kriminalhauptkommissar der Mühldorfer Kriminalpolizei, jedenfalls nicht. Der 54-jährige, sportliche, attraktive Junggeselle mit dem besonderen Faible für Frauen schlenderte mit seiner neuesten Eroberung Rita über den Christkindlmarkt und war glücklich. Die junge Rita war wie eine frische Brise in seinem Leben und er ließ sich von ihr und ihrem Temperament gerne mitreißen. Beruflich war es in den letzten Wochen sehr ruhig gewesen. Es gab fast nur Routinearbeiten, alles war friedlich in seiner beschaulichen oberbayrischen Heimat. Er kaufte Rita ein Lebkuchenherz mit einem kitschigen Spruch, über den sich beide amüsierten.
„Ich bin dir noch einen Glühwein schuldig,“ strahlte ihn Rita an. „Warte hier und halte mir ein Plätzchen frei. Bin gleich zurück.“
Hans stellte sich an einen Tisch und sah der für ihn viel zu jungen Frau hinterher. Rita war erst 32 Jahre alt, er war also über 20 Jahre älter als sie. Was sollte ihn an ihrem Alter stören? Die anderen tuschelten über sie, das hatten sie längst bemerkt. Hans war es egal, was andere über ihn dachten. Er genoss die Zeit mit ihr. In ihrer Gegenwart fühlte er sich jung und frisch; was sollte daran verkehrt sein?
Dann gab es einen fürchterlichen Knall!
Hans ging in Deckung, viele Dinge flogen ihm um die Ohren. Was war passiert? Qualm und Rauch füllte die Luft und die Sicht war gleich Null! Schreie, fürchterliche Schreie folgten und wurden immer mehr. Dann brach Panik aus. Hans rettete sich neben den Eingang einer Verkaufsbude, sonst hätten ihn die Menschen umgerannt. Was zum Teufel war hier los? Hans rief seine Kollegen in Mühldorf an und hatte keine Ahnung, dass sein Chef Rudolf Krohmer am anderen Ende der Leitung war. Der Lärm um ihn herum war zu groß. Hans hatte keine Chance, auch nur ein Wort zu verstehen. Er musste einen Platz finden, von dem aus er telefonieren konnte. Er lief einfach los und suchte Schutz in der Stiftskirche.
„Feuerwehr und mehrere Krankenwagen zum Kapellplatz Altötting. Schnell!“, rief Hans ins Handy und seine Worte hallten in der Kirche wider. Viele Personen hatten ebenfalls Schutz in der Stiftskirche gesucht, aber Hans nahm sie nicht wahr.
Rudolf Krohmer, Chef der Mühldorfer Polizei, verstand seinen Kollegen nun viel besser und gab sofort die Anweisung weiter.
„Was ist passiert?“
„Das weiß ich noch nicht. Ich vermute eine Bombe.“ Hans hatte aufgelegt und ging wieder nach draußen. Rita! Wo war sie?
Krohmer war geschockt. Eine Bombe auf dem Christkindlmarkt Altötting war eine Katastrophe! Nachdem er Feuerwehr und Rettungswagen angefordert hatte, rief er umgehend den Kollegen Schenk an. Der Chef der Altöttinger Polizei war ein unsympathischer, schwieriger Charakter, mit dem er regelmäßig aneinandergeriet. Jetzt ging es nicht um persönliche Aversionen, es gab Wichtigeres.
„Es stimmt also wirklich? Eine Bombe auf dem Christkindlmarkt? Woher haben Sie Ihre Informationen?“
„Einer meiner Leute ist privat vor Ort. Es herrscht Panik. Ich habe ihn kaum verstanden. Feuerwehr und Rettungskräfte sind unterwegs. Ich fahre sofort los, wir müssen umgehend einen Krisenstab einrichten.“
Waldemar Schenk lehnte sich zitternd zurück. Eine Bombe in seinem beschaulichen Altötting! Und dann noch auf dem Christkindlmarkt! Für einen kurzen Moment war er versucht, einfach davonzulaufen. Er war überfordert. Reiß dich gefälligst zusammen! Er öffnete das Fenster, atmete tief durch, und ging wieder an seinen Schreibtisch. Jetzt galt es, die Nerven zu bewahren!
Rauch und Qualm lichteten sich nur langsam und Hans konnte das Ausmaß immer noch nur erahnen. Es war schwer, in der Luft zu atmen und er hielt sich den Schal vors Gesicht. Er näherte sich dem Zentrum des Unheils. Wo war seine Rita? Er betete inständig, dass sie in Sicherheit war. Ganz bestimmt war sie das! Hans ging weiter und stand vor der Stelle, an der vor wenigen Minuten noch eine Bude stand. Nichts war von ihr übriggeblieben. Die beiden Nachbarbuden hatten auch ordentlich was abbekommen, aber sie standen noch. Hans hörte die Sirenen. Hilfe nahte.
„Rita? Rita!“ Hans rief mehrmals ihren Namen. Anfangs laut und ruhig, dann immer hektischer, bis er schließlich hysterisch wurde. Er suchte in jedem Winkel und jedem Eck. Wo war sie nur? War sie tatsächlich so weit weggelaufen? Verständlich, nach so einer heftigen Explosion. Hans wusste nicht mehr, wie lange er nach ihr suchte, er hatte jegliches Zeitgefühl verloren.
Leo Schwartz war wenige Minuten nach Krohmers Anruf auf dem Christkindlmarkt eingetroffen. Er wartete auf die Sprengstoffspürhunde, die nach einer halben Stunde eintrafen und ihre Runden drehten. Krohmer und Schenk mussten ausschließen, dass sich eine weitere Bombe auf dem Gelände befand, bevor sie den Rettungskräften erlauben konnten, bis ins Zentrum der Explosion vorzudringen. Bis dahin kümmerten sie sich um die Verletzten, die sich in Sicherheit gebracht hatten. Endlich gaben die Hundeführer Entwarnung, was Leo mit Erleichterung aufnahm. Der 50-jährige, 1,90 m große Schwabe stand fassungslos vor der zerstörten Bude. Zwei Sanitäter waren ihm gefolgt und fanden zum Glück keine Verletzten mehr, Passanten hatten sie in Sicherheit gebracht. Über drei Leichen waren von unerschrockenen Helfern Tücher gelegt worden. Leo wies sich dem überforderten Uniformierten gegenüber aus und besah sich die Gesichter der Leichen. Die waren so sehr entstellt, dass man nur aus den Kleidungsfetzen erkennen konnte, ob es sich um Männer oder Frauen handelte. Sie hatten es mit zwei toten Männern und einer Frau zu tun. Um wen es sich dabei handelte, musste später festgestellt werden. Leos Kollege Werner Grössert war nun ebenfalls vor Ort und übernahm die Aufgabe, die verstörten Zeugen zu befragen. Der 40-jährige Werner hatte auch heute wieder einen sehr teuren Anzug an und passte optisch nicht in dieses chaotische Umfeld.
Friedrich Fuchs, Leiter der Spurensicherung, hatte den Tatort weiträumig abgesperrt und machte sich mit seinen Leuten sofort an die Arbeit. Es war lange her, dass er es mit einer Bombe zu tun hatte. Jetzt galt es, jede noch so kleine Kleinigkeit zu sichern, um damit eventuell die Herkunft einzelner Bauteile nachweisen zu können. Jeden Polizisten, der ihn mit Fragen löcherte und ihn bei seiner Arbeit störte, verwies er schroff hinter die Absperrung und verweigerte jegliches Gespräch. Sahen die nicht, dass seine Arbeit wichtig war?
Leo kannte Fuchs schon lange und ließ ihn in Ruhe. Wo war Hans? Hatte Krohmer nicht gesagt, dass er den Christkindlmarkt besucht und die Detonation mitbekommen hatte? Leo sah sich um. War das dort hinten nicht sein Freund und Kollege? Doch! Das war er. Zielstrebig lief er auf ihn zu und blieb wenige Schritte vor ihm stehen. Was war los mit Hans? Er rief ununterbrochen den Namen Rita und schien sie überall zu suchen.
„Hans? Was ist los mit dir?“
„Ich kann meine Rita nicht finden. Sie wollte uns einen Glühwein holen, weil sie eine Wette verloren hat. Sie ist verschwunden. Ich muss sie doch finden!“ Hans war vollkommen aufgelöst.
„Wo wollte Rita den Glühwein holen? Von welcher Bude?“
„Die gibt es nicht mehr, dort habe ich schon nachgesehen. Rita war nicht dort. Sie hat sich ganz bestimmt erschrocken und ist davongelaufen.“
„Sie wird schon auftauchen, keine Sorge. Sieh mich an. Hans? Bist du in Ordnung?“ Jetzt, wo er in das vertraute Gesicht seines Freundes und Kollegen Leo sah, beruhigte er sich. Er nahm den Schal vom Gesicht und atmete mehrmals durch. „Geht es wieder? Bist du in der Lage, die Arbeit aufzunehmen?“
Hans nickte nur. Natürlich musste er arbeiten. Bis jetzt hatte er nur nach seiner Freundin gesucht und schämte sich jetzt fast dafür. Leo hatte Recht. Rita war irgendwo in Sicherheit und er musste dringend seiner Arbeit nachgehen.
„Ich habe mit dem Einsatzleiter da vorn gesprochen. Wir haben es mit 14 Verletzten zu tun, vier davon schwer.“
„Keine Toten?“
„Drei Leichen. Zwei Männer, eine Frau. Sie liegen noch am Tatort. Willst du sie sehen?“
„Muss nicht sein, es gibt Wichtigeres.“ Leo und er schlossen sich Werner an, der allein mit den Befragungen der Zeugen überfordert war. Viele behaupteten, weder etwas gesehen, noch gehört zu haben. Die meisten von ihnen waren total geschockt. Erfahrungsgemäß fielen dem einen oder anderen doch einige Kleinigkeiten auf, die für die Ermittlungen von enormer Wichtigkeit sein konnten. Nach zwei Stunden war der Christkindlmarkt wie leergefegt. Alle Zeugen, Besucher, Verletzte und Schaulustige waren verschwunden. Nur noch die Polizeibeamten waren bei der Arbeit. Schenk und Krohmer hatten veranlasst, dass die spontan verlassenen Buden bewacht wurden, da sie Plünderungen nicht auch noch brauchen konnten. Vor allem musste die Presse davon abgehalten werden, sich dort herumzutreiben. Nein, es war besser, den ganzen Kapellplatz abzusperren und bewachen zu lassen.
Dann wurden die Leichen abtransportiert. Leo, Hans und Werner standen zusammen und beobachteten die Arbeit. Von einer Bahre rutschte etwas herunter. Es fiel nur zwei Meter entfernt von den Kripobeamten auf den Boden.
„Was ist das?“ Werner griff danach. „Ein Lebkuchenherz. Gehört wohl der Toten.“
Hans hatte das Lebkuchenherz sofort wiedererkannt. Er ging zu der Toten und schlug das Tuch zur Seite: Rita!
3.
„Was haben wir?“, fragte Krohmer Fuchs, der endlich den Bericht fertig hatte. Es war 5.30 Uhr des 28. Novembers und allen war die Anstrengung der vergangenen Nacht anzusehen.
Fuchs holte weit aus und warf mit Fachbegriffen um sich. Er war stolz auf die Arbeit seiner Leute, die ohne eine Pause gearbeitet hatten. Trotzdem waren die anderen genervt von den langen Ausführungen.
„Wir haben es also mit einer selbstgebastelten Rohrbombe zu tun, die hinter der Bude platziert wurde. Konnten Teile davon sichergestellt werden, die auf den Täter schließen lassen?“
„Nein.“
„Braucht man Fachkenntnis für diese Bombe?“
„Nein. Anleitungen hierzu findet man zuhauf im Internet.“
„Das sollte verboten werden!“ Werner Grössert war außer sich. Er ärgerte sich schon lange über die frei zugänglichen Seiten des Internets, die mit gefährlichem Inhalt voll waren.
Krohmer und Schenk gingen nicht darauf ein. Auch ihnen waren diese Internetseiten ein Dorn im Auge. Aber wie sollten sie denen zu Leibe rücken? Die meisten Server befanden sich im Ausland und mit den dortigen Behörden zu arbeiten war ein Witz. Bis Anträge und Zuständigkeiten durch waren, befanden sich die betreffenden Seiten längst nicht mehr online, dafür wurden andere freigeschaltet. So segensreich das Internet auch war, so unheilbringend war es auch.
„Gab es Bekennerschreiben? Irgendwelche Hinweise auf ein bevorstehendes Attentat?“
„Nichts, rein Garnichts,“ sagte Schenk verzweifelt. Er hatte sich zusammen mit Krohmer die ganze Nacht damit beschäftigt. Sie befürchteten, irgendwas übersehen oder nicht ernst genommen zu haben und beide somit eine Mitschuld an dem ganzen Desaster zu haben. Aber das war nicht der Fall.
„Das kann doch nicht sein,“ schrie Hans verzweifelt. „Solche Bombenanschläge werden entweder angekündigt oder es bekennt sich jemand nach dem erfolgreichen Anschlag dazu. Irgendjemand muss doch die Verantwortung übernehmen.“
„Das ist nicht immer so Hans,“ sagte Leo, der großes Mitleid mit Hans hatte. „Denk doch an den Bombenanschlag 1980 während des Oktoberfestes in München. Bis heute weiß man nicht, wer tatsächlich dahintersteckt. Eine Sonderkommission hat die Ermittlungen erst kürzlich neu aufgenommen, weil damals nicht alle Spuren verfolgt wurden.“
„Stimmt, der Kollege Schwartz hat Recht! Wir müssen nochmals mit allen Zeugen sprechen. Mehr haben wir nicht.“
„Was ist nun mit dem Christkindlmarkt Altötting? Die Veranstalter und die Stadt selbst haben mehrfach angefragt, ob trotz allem der Christkindlmarkt weiterlaufen soll.“
„Spinnen die? Es sind drei Menschen getötet worden und viele wurden verletzt. Und die wollen einfach so tun, als wäre nichts passiert?“
„Seien Sie nicht ungerecht, Kollege Hiebler. Sollen wir uns dem Terror geschlagen geben? Sollen Spinner unser Leben so weit beeinflussen, dass wir uns nach denen richten? Ich für meinen Teil gebe grünes Licht, dass der Christkindlmarkt weiterlaufen soll. Warum auch nicht?“ Krohmer war kein Freund davon, sich von einzelnen Idioten einschränken zu lassen. Natürlich war das viel verlangt und kam bei vielen auch bestimmt nicht gut an. Es entbrannte eine heftige Diskussion darüber. Einige waren dafür, andere dagegen. Schlussendlich musste Schenk als zuständiger Polizeichef die Empfehlung an die Stadt Altötting und die Veranstalter übergeben. Wie die zuständigen Stellen letztendlich entschieden, war dann deren Problem.
„Ich stimme dem Kollegen Krohmer zu. Auch ich plädiere dafür, dass der Christkindlmarkt fortgeführt wird und werde das auch so weiterleiten. Allerdings unter der Auflage einer starken Polizeipräsenz und mit Einsatz von Sprengstoffspürhunden.“
Krohmer hob die Besprechung auf, bat aber noch um ein Gespräch unter vier Augen mit dem Kollegen Hans Hiebler.
„Ich habe erfahren, dass Ihre Freundin eines der Todesopfer ist. Mein aufrichtiges Beileid Herr Hiebler. Ich hoffe Sie verstehen, dass ich Sie nicht bei den Ermittlungen dabeihaben möchte. Sie sind befangen und ich fürchte, dass Sie dem was folgt nicht gewachsen sind. Gehen Sie nach Hause und ruhen Sie sich aus.“
„Das können Sie vergessen Chef. Klar schmerzt mich der Verlust meiner Freundin, keine Frage. Aber ich möchte denjenigen finden, der das zu verantworten hat. Sie können und dürfen mich nicht außen vorlassen. Das ertrage ich nicht! Und was soll ich zuhause machen? Rumsitzen und Trübsal blasen?“
„Ich verstehe Ihre Lage, aber mir sind die Hände gebunden. Wenn der Staatsanwalt davon erfährt, bekomme ich riesigen Ärger. Sie wissen genau, dass ich mit Eberwein auf Kriegsfuß stehe.“ Es war wirklich kein Geheimnis, dass sich Krohmer und Eberwein regelmäßig überwarfen, und viele amüsierten sich darüber. Es war nicht selten, dass sich die beiden auch privat über den Weg liefen und auch bei diesen Gelegenheiten hielten sie sich mit ihrer Antipathie nicht zurück.
Hans war verzweifelt. Er stand kurz davor, untätig zuhause sitzen zu müssen, während seine Kollegen den Wahnsinnigen suchten, der seine Rita auf dem Gewissen hat. Er musste den Chef umstimmen. Denk nach!
„Wir sind durch den Weggang von Viktoria nur noch zu dritt. Wenn ich jetzt auch noch gehe, sind Leo und Werner völlig aufgeschmissen. Diesen Anschlag zu zweit zu bearbeiten wäre der Wahnsinn!“ Krohmer begann zu überlegen und Hans setzte noch einen drauf. „Machen wir einen Deal: Bis Verstärkung kommt, bin ich dabei.“
„Einverstanden. Sie versprechen mir, dass Sie sich klaglos zurückziehen, wenn Verstärkung hier ist?“
Hans nickte und wusste genau, dass er sich sowieso nicht daran halten würde. Offiziell war er jedenfalls noch dabei, danach würde er weitersehen.
4.
Der Bombenanschlag zur Eröffnung des Christkindlmarktes Altötting schlug riesige Wellen. Die Tageszeitungen waren voller Bilder, Kommentare und Zeugenberichten. Viele Fernseh- und Radioübertragungswagen waren vor Ort, belästigten alle möglichen Passanten und verstopften mit ihren Fahrzeugen die sowieso schon enge Innenstadt. Der Termin der Stadtratssitzung zur weiteren Vorgehensweise im Falle Christkindlmarkt war durchgesickert und das Rathaus war voller Journalisten und Fernsehteams.
Waldemar Schenk war der Einladung des Bürgermeisters zu der außerordentlichen Sitzung gefolgt. Er hatte darum gebeten, dass ihn Krohmer begleitete. Unter den Anwesenden herrschte Hektik und Unbehagen. Es war offensichtlich, dass alle durch den Anschlag völlig überfordert waren. Schenk und Krohmer hörten sich die Vorwürfe und Seitenhiebe an, die allesamt total daneben waren. Wie hätte die Polizei diesen Anschlag im Vorfeld verhindern sollen? Nichts wies darauf hin.
„Wir beruhigen uns jetzt alle. Mit Schuldzuweisungen kommen wir doch nicht weiter. Wie wir bereits mehrfach betont haben, lagen der Polizei keine Hinweise auf einen Anschlag vor.“
„Hätte eine stärkere Polizeipräsenz das nicht verhindern können?“, rief ein Stadtrat aufgebracht ein.
„Warum hätten wir präsenter sein sollen? Nochmals: Wir hatten zu keiner Zeit einen diesbezüglichen Hinweis vorliegen. Können wir uns darauf einigen, dass auch wir von den Ereignissen völlig überrascht wurden? Einen solchen Anschlag gab es in unserem Zuständigkeitsbereich noch nie. Wir sollten uns jetzt alle beruhigen und überlegen, wie wir weiter verfahren. Wie gehen wir mit den Medien um?“ Krohmer war wie sein Kollege Schenk nicht scharf darauf, sich mit diesen auseinanderzusetzen. Das kostete nur unnötig Nerven und Zeit. Außerdem hatten sie beide schon die Erfahrung gemacht, dass nur das gesendet wird, was interessant genug und oft völlig aus dem Zusammenhang gerissen wurde.
„Das übernehme ich,“ sagte der Stadtrat Krautwein, dem außer einer gutgehenden Gaststätte auch noch viele Immobilien in der Innenstadt gehörten. Krautwein war mediengeil und nutzte jede Gelegenheit, sich selbst in den Mittelpunkt zu rücken. Die anderen reagierten genervt. Immer dieser Krautwein! Eigentlich wäre das die Aufgabe des Bürgermeisters gewesen, der aber ebenfalls gerne darauf verzichtete.
„Gut, dann kümmern Sie sich darum Herr Krautwein,“ sagte Schenk, dem ganz andere Dinge wichtig waren. „Was haben Sie für die Fortführung des Christkindlmarktes geplant? Ich habe mich mit dem Kollegen Krohmer auseinandergesetzt und von unserer Seite geben wir grünes Licht.“
Jetzt entbrannte abermals eine heftige Diskussion unter den Anwesenden. Die einen waren für einen Abbruch und fanden schon allein die Idee der Fortführung als Affront den Toten und Verletzten gegenüber. Andere wollten die Fortführung mit allen Mitteln erzwingen.
Schenk und Krohmer war die Diskussion zuwider. Die Entscheidung war nicht ihr Problem, sie mussten nur mit ihr leben. Wenn der Christkindlmarkt fortgeführt wurde, bedeutete das eine höhere Polizeipräsenz.
Die Entscheidung war gefallen: Der Christkindlmarkt wird fortgeführt. Die Argumente dafür waren einfach zu schwer, als dass man sie ignorieren könnte. Viele Vereine und Gruppen haben sich angekündigt, die ihrerseits auf Nachfrage trotz des Anschlags kommen wollten. Nur die Honoratioren wollten sich die Teilnahme an der Schlussveranstaltung am 20. Dezember noch überlegen. Die Diskussion zog sich noch lange hin. An deren Anschluss stellte sich der Stadtrat Krautwein der Presse und gab freimütig und ausführlich Auskunft. Krautwein war sich sicher, dass er morgen in allen Medien erscheinen würde.
Die Spurenlage war recht dürftig. Bei der selbstgebastelten Rohrbombe wurden keine verwertbaren Spuren gefunden. Auch die Auswertungen der verschiedenen Überwachungskameras, um die sich Fuchs mit seinen Mitarbeitern kümmerte, waren wertlos. Wegen den vielen dichtgedrängten Menschenmassen des Christkindlmarktes konnte lediglich vermutet werden, wann die Bombe an der fraglichen Hütte platziert worden war.
Selbstverständlich gingen die Ermittlungen zuerst in die Richtung des Budenbetreibers, der in Altötting wohnte. Der 62-jährige, gebürtige Grieche Dimitri Salonakis betrieb früher ein griechisches Lokal, das er wegen eines Herzleidens vor sechs Jahren leider aufgeben musste. In den letzten fünf Jahren war die Teilnahme am Christkindlmarkt eine willkommene Abwechslung für ihn. Der Tod des überall beliebten Griechen löste in der Altöttinger Bevölkerung zusätzlich eine Welle der Bestürzung aus. Leo und Hans suchten die Witwe und die beiden erwachsenen Söhne zuhause auf.
„Hatte Ihr Mann Feinde? Wurde er bedroht? Gab es in letzter Zeit irgendwelche Auseinander-setzungen?“
„Dimitri war eine Seele von Mensch und hat niemandem etwas getan. Er war überall beliebt und die Menschen haben ihm gerne ihre Sorgen anvertraut, er hatte immer für alle ein offenes Ohr.“ Olivia Salonakis war gebürtige Polin, das hatten die Polizisten im Vorfeld herausgefunden. Die hübsche, blonde Frau wirkte sehr gefasst und gab sich Mühe, hochdeutsch zu sprechen. „Obwohl mein Mann noch sehr viel Familie in Griechenland hatte, war hier sein Lebensmittelpunkt. Er liebte Bayern und die Traditionen. Er hat damals darauf bestanden, unsere Söhne Josef und Matthias zu nennen, bayrische Traditionsnamen. Ich kann mir nicht vorstellen, warum gerade unser Stand Ziel eines Anschlags wurde.“
„Denk doch nach Mama,“ sagte Matthias Salonakis. Der 22-jährige Mann lümmelte in einem Sessel und hielt sein Handy in der Hand. „Papa war Grieche! Siehst du keine Nachrichten? Durch die andauernden Flüchtlingsströme sind Ausländer das Ziel des Hasses geworden.“
„Das glaube ich nicht,“ mischte sich Josef Salonakis ein. „Papa war mehr Deutscher als Grieche. Ich denke, dass es reiner Zufall war, dass es gerade unsere Bude getroffen hat. Wie viele andere auch bin ich der Meinung, dass sich irgendein Idiot am Christkindlmarkt selbst gestört hat und seine Wut durch eine Bombe zum Ausdruck gebracht hat.“ Josef Salonakis war ganz anders als sein Bruder. Er war ruhig, hatte gütige Augen und ein sanftes, porzellanartiges Gesicht. Er saß direkt neben seiner Mutter und hielt ihre Hand. Die Polizisten wussten bereits vor ihrem Besuch, dass Josef Rechtswissenschaften studierte, während Matthias eine Ausbildung zum Kfz-Mechaniker absolvierte.
Nun entbrannte eine heftige Diskussion innerhalb der Familie Salonakis, die immer lauter wurde. Vor allem die resolute Olivia nahm kein Blatt vor den Mund und gab ihrem Sprössling Matthias kräftig contra. Es war unverkennbar, dass Matthias ganz nach seiner Mutter kam.
Auch die Kriminalpolizei hatte an einen ausländerfeindlichen Anschlag gedacht. Allerdings bekannten sich danach immer irgendwelche Gruppen und prahlten mit ihrer Tat. Diesmal gab es nichts, absolut nichts.
Die Familie Salonakis erlaubte, dass Leo und Hans den Laptop und das Handy des Toten mitnahmen. Vielleicht gab es darauf Informationen, die sie weiterbrachten. Fuchs nahm sich beides sofort vor und musste die Kriminalbeamten enttäuschen: Das Handy zeigte nur Verbindungen zu Familienmitgliedern und der Laptop wurde nicht häufig benutzt. Die wenigen aufgerufen Seiten waren harmlos und unverfänglich.
Die Möglichkeit des ausländerfeindlichen Hintergrundes konnte nicht bestätigt werden, was Waldemar Schenk zufriedenstellte. Es gab in der Vergangenheit keine ausländerfeindlichen Auffälligkeiten, auch nicht seit den massiven Flüchtlingsströmen, mit denen vor allem Bayern zu kämpfen hatte. Hier waren der gemütliche Lebensstil und die positive Einstellung der Bevölkerung von Vorteil.
Der Christkindlmarkt Altötting wurde nach zwei Trauertagen, die auch für Aufräumarbeiten genutzt wurden, fortgeführt. Nach anfänglicher Entrüstung in der Bevölkerung ging man schnell zur Tagesordnung über. Waldemar Schenk hatte für eine ständige Polizeipräsenz gesorgt, die allgemein sehr gut angenommen wurde und womit die Christkindlmarkt-Besucher sich sehr viel sicherer fühlten. Das Medieninteresse ließ zum Leidwesen Krautweins stark nach. Niemand interessierte sich mehr für den Bombenanschlag, den man allgemein als Tat eines Irren abtat, den die Polizei wohl niemals finden würde.
Krohmer und Schenk standen im ständigen Kontakt mit den nun überall veranstalteten Weihnachts- und Christkindlmärkten. Auch dort sorgten sie für Polizeipräsenz, auch wenn sie bei kleineren Veranstaltungen nur aus einem Polizisten bestand. Der Personalaufwand stieß an seine Grenzen und trotz der vielen Urlaubsanträge musste Schenk eine Urlaubssperre aussprechen; bereits schon die zweite in diesem Jahr. Das gab Ärger, den er aber für die Sicherheit gerne in Kauf nahm.