Kitabı oku: «Das eigene Maß», sayfa 5

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STRESS

Stress ist zunächst eine natürliche Reaktion auf veränderte Lebensbedingungen oder Bedrohungen – der Körper wird in Alarmbereitschaft versetzt. Dafür aktiviert unser Gehirn Stresshormone, vor allem Adrenalin und Cortisol. Blutdruck, Puls und Muskelspannung steigen, damit wir schnell reagieren können, um die vermeintliche oder tatsächliche Bedrohung zu überstehen – evolutionär bedingt durch Kampf, Flucht oder Erstarren. Heute noch folgen wir ähnlichen Mustern: Attackieren, vermeiden, aushalten. Mit zunehmendem Stress erleben wir im Alltag vermehrt, dass die Reizschwelle sinkt und das Erregungspotenzial steigt (ein extremes Beispiel sind die zunehmenden Angriffe auf Rettungskräfte, weil deren Einsatzfahrzeuge die Autofahrenden an der Durchfahrt hindern). Alternativ kommt es zu sozialem Rückzug, Realitätsflucht oder Resignation.

Laut Studien sind über die Hälfte der Erwachsenen in Deutschland der Meinung, dass ihr Leben in den letzten drei Jahren stressiger geworden ist. Insbesondere Frauen sagen, dass sie auch durch eigene, hohe Ansprüche an sich selbst unter Druck stehen.82 Die eigenen Wertvorstellungen treffen schließlich auf überzeichnete, mediale Darstellungen vom erfolgreichen, glücklichen Menschen. Das wiederum verstärkt noch den Anspruch an das eigene Leben – mit einer erlebnisreichen Freizeitgestaltung, einer erfüllenden Beziehung, einer glücklichen Familie, einem attraktiven Zuhause und vielem mehr. Übersteigen der Leistungsanspruch und die Erwartungshaltung die Kraft und die Mittel des Einzelnen, entsteht Stress. So beschreiben Wissenschaftler der Universität Bern auch „die Bedrohung des Selbst“ als Stress-Ursache – entweder aufgrund eines eigenen Scheiterns oder fehlender Anerkennung durch andere Personen.83

Schon junge Menschen fühlen sich belastet: Jeder vierte Studierende leidet unter starkem Stress, ebenso viele zeigen erste Anzeichen eines Burnouts.84 Laut dem DAK-Präventionsradar von 2018/19 empfinden bereits vier von zehn Kindern und Jugendlichen in Deutschland oft oder sehr oft Stress. Liegt dieser Anteil bei den 10- bis 13-Jährigen noch bei etwas mehr als einem Drittel (35 %) steigt er bei den 14- bis 17-Jährigen auf über die Hälfte (52 %). Mädchen sind dabei mit 49 % deutlich häufiger als Jungen (35 %) oft oder sehr oft gestresst.85

Stress sollte eigentlich ein Ausnahmezustand sein, auf eine kurze Anspannung sollte ausreichend Erholung folgen. Wenn das körperliche und psychische Erregungslevel aber dauerhaft hoch bleibt, kann das zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen wie Kopfschmerzen, Konzentrationsproblemen, Bluthochdruck oder Schlafstörungen führen. Stressbedingte Erkrankungen bis hin zu depressiven Störungen können die Folge sein.

In der heutigen Lebenswelt fehlen oft Strategien, um Anspannungen wieder zu lösen, etwa über Bewegung. Die Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft verstärkt diese Tendenz: Wo früher körperliche Arbeit gefordert war, bestimmt heute eher geistige oder monotone Arbeit einen großen Teil der Arbeitsplätze. Die Technik nimmt uns weitere körperliche Anstrengungen ab, so dass wir uns immer weniger bewegen: Wir fahren mit dem Auto zur Arbeit, verbringen den Bürotag vor dem Computer und beschließen den Tag auf der Couch.

Gleichzeitig nehmen wir über die Nahrung mehr Kalorien auf, als wir verbrennen – nach der Nationalen Verzehrstudie II überschreitet rund ein Drittel der Erwachsenen die Richtwerte für die Energieaufnahme.86 Stress, Bewegungsmangel und Überernährung aber erhöhen zusätzlich das Risiko, ernsthaft zu erkranken.

Stress und Schlaf

Dem Prinzip der Leistungsgesellschaft folgend, versuchen viele Menschen, mit möglichst wenig Schlaf auszukommen. Auch andere Faktoren, die sich aus unserem Lebensstil ergeben, können Stress erzeugen und sich damit auf den Schlaf auswirken, ihn verschlechtern oder verkürzen. Untersuchungen weisen darauf hin, dass sich die durchschnittliche Schlafdauer in den westlichen Industrieländern innerhalb der letzten hundert Jahre um mindestens 1,5 Stunden verringert hat.87

Schlaf ist aber nicht nur zur Entspannung, sondern auch für die Regeneration und die Selbstheilungsprozesse des Körpers notwendig. Er hilft dabei, Erfahrungen und Gefühle zu verarbeiten. Daher reduziert ausreichend Nachtschlaf die psychische Anspannung und sorgt sogar für ein ausgewogeneres Essverhalten. Studien legen verschiedene Mechanismen nahe, über die die Schlafdauer das Körpergewicht beeinflussen könnte. Zum einen sinkt durch wenig Schlaf und chronische Müdigkeit der Grundumsatz. Zum anderen werden Hunger und Appetit durch Hormone gesteuert, die bei zu wenigem oder schlechtem Schlaf aus dem Gleichgewicht geraten können, was das Verlangen nach süßer, kohlenhydratreicher Nahrung verstärkt. Daneben könnte Schlafmangel auch die Impulskontrolle reduzieren, so dass man während des Tages leichter spontan isst oder nascht. Und schließlich bietet sich durch längere Wachzeiten und jederzeit verfügbare Lebensmittel auch einfach öfter die Gelegenheit, zuzugreifen.88

Eltern von Säuglingen oder Nachtarbeitende kennen das – sie greifen zu Süßigkeiten, um den Schlafmangel zu kompensieren und „wach zu werden“. Studien sehen außerdem einen Zusammenhang zwischen der nächtlichen Schlafdauer und dem Risiko für Übergewicht.89

Stress und Essverhalten

Wir müssen „die Zähne zusammenbeißen“, wir „kauen auf etwas herum“, „schlucken Probleme herunter“ oder es „stößt uns etwas auf“ – die enge Verbindung von Stress und Essverhalten zeigt sich in vielen Redewendungen. Manchen Menschen schlägt der Stress auf den Magen – ist er akut und intensiv, wird das Hungergefühl oft unterdrückt. Das kann dazu führen, dass sie in akuten Stressphasen an Appetitlosigkeit leiden (oder gar nicht zum Essen kommen) und dadurch kurzfristig abnehmen. Dauerhaft kann Stress allerdings auch eine Gewichtszunahme zur Folge haben: Zum einen neigen einige Menschen zum bereits erwähnten stress- oder emotionsbedingten Essen. Hier greift die erlernte Kompensationsstrategie – übermäßiges Essen gegen Stress und damit verbundene unangenehme Gefühle wie Überforderung, Versagensängste, Konfliktscheu. So isst repräsentativen Befragungen zufolge jede/r dritte Deutsche bei Stress mehr als normalerweise.90 Zum anderen erhöhen Erschöpfungszustände das Verlangen nach zucker-, fett- und salzhaltigen Nahrungsmitteln, da diese kurzfristig die Energie erhöhen und Stresshormone und Botenstoffe regulieren. In jedem Fall erschwert Stress die Wahrnehmung unserer natürlichen Körpersignale, wenn wir Hunger und Durst übergehen, Essen zur Gefühlsregulation missbrauchen, Unwohlsein oder Verdauungsprobleme übersehen oder über Sättigungsgrenzen „hinwegessen“.

Chronischer Stress hat damit großen Einfluss auf unsere Gesundheit und unser Essverhalten. Langfristig kann er zu Übergewicht und ernährungsbedingten Krankheiten führen, wie Bluthochdruck, Diabetes und Herz-Kreislauferkrankungen, aber auch zu Essstörungen. Umgekehrt wirkt sich auch die psychische Belastung, die mit einer Essproblematik verbunden ist, auf unser Stressempfinden aus und kann in eine Spirale von Überlastung, Kompensation, Frustration und noch mehr Stress münden.

Wie sich Stress und Anspannung auf das Essverhalten auswirken, wenn Menschen aktuell an einer Essstörung leiden oder in früheren Zeiten litten, ließ sich deutlich während der Pandemie beobachten, wie Sigrid Borse vom Frankfurter Zentrum für Ess-Störungen beschreibt: „Bei der Magersucht wird versucht, über das Einsparen von Essen Kontrolle wiederherzustellen, Ohnmachtsgefühle in den Griff zu bekommen, vermeintlich handlungsfähig zu sein. Bei der Bulimie wird Stress abgebaut, der durch die mit der Situation verbundenen Ängste und Unsicherheiten entstanden ist. Durch das Erbrechen wird oftmals eine innere Anspannung gelöst. Andere Menschen berichteten von Essanfällen aus Langeweile, aus Angst oder zum Trost.“91

Zwischen Stressbewältigung und Leistungssteigerung

Der eine schafft es nur mit viel Kaffee und Zigaretten durch den Tag, die andere greift abends regelmäßig zum Glas Wein um „runterzukommen“, der Nächste greift zur Kopfschmerztablette oder zu Beruhigungsmitteln.

Wieder andere setzen zur Stressbewältigung bestimmte Verhaltensweisen ein: Sie entfliehen dem Alltag in die sozialen Medien, beim Serien-Streaming oder beim Spielen in virtuellen Welten, sie gehen shoppen oder betreiben exzessiv Sport.

Wenn Menschen konstruktive Methoden der Stressbewältigung fehlen, greifen sie stattdessen auf gewohnte Hilfsmittel zurück. Da Essen nicht nur emotional besetzt, sondern auch permanent verfügbar ist, kann es besonders leicht zum alltäglichen Hilfsmittel gegen Stress werden.

Anhaltender Stress schränkt – neben vielen anderen Auswirkungen – auch die Selbstwahrnehmung ein. Statt zu spüren, was Körper und Psyche wirklich brauchen, bleiben die Antennen nach außen gerichtet. Wir bemerken vielleicht zu spät, dass unsere Muskeln verspannt, dass wir durstig oder erschöpft sind. Auch Empfindungen wie Unruhe oder Niedergeschlagenheit nehmen wir lange nicht wahr.

Neben der Bewältigung von Stress und seinen Auswirkungen gehört es für viele Menschen zum Alltag, ihre Leistungsfähigkeit über bestimmte Substanzen zu steigern, etwa über Koffein in Kaffee und Tee, über Nahrungsergänzungsmittel oder Energy-Drinks. Daneben sollen Medikamente helfen, Müdigkeit zu überwinden, Schmerzen nicht zu spüren oder sich für eine Prüfung oder besondere Termine fit zu machen.

Im Prinzip sind aber all diese erwünschten Wirkungen darauf ausgelegt, die natürliche Verbindung zum eigenen Körper auszuhebeln, um Erschöpfungszustände, Missempfindungen oder sogar Schmerzen zu ignorieren.

Solche Verhaltensweisen sind gesellschaftlich akzeptiert oder werden sogar noch gefördert. In einer Leistungsgesellschaft, die es oft genug scheinbar erforderlich macht, die eigenen Bedürfnisse nicht zu spüren oder sogar über sie hinwegzugehen, ist das Innehalten nicht unbedingt erwünscht. Wenn wir uns aber daran gewöhnen, dauerhaft Leistungsgrenzen zu überschreiten und körperliche Signale bewusst zu überhören, wirkt sich das natürlich auf unsere körperliche und seelische Gesundheit aus.

Die Hilfsmittel halten das System am Laufen – und die Bereitschaft, sich zu optimieren, abzulenken oder zu betäuben, trifft auf Industrien, die diese Bedürfnisse mit Nachdruck bedienen.

WER PROFITIERT?

Ob Fertignahrung, Tabak, Alkohol, Lifestyle- oder Diät-Produkte: Viele Anbieter greifen den Alltagsstress und den Wunsch nach Selbstoptimierung bei Konsumentinnen und Konsumenten auf. Sie versehen ihre Produkte über deren eigentlichen Zweck hinaus mit Heils- und Glücksversprechen – entweder, um sie aufzuwerten oder sogar, um ihre Schädlichkeit zu überdecken.

Wenn Menschen sich unzulänglich fühlen, lässt sich mit vermeintlichen Hilfsmitteln viel Geld verdienen. Hersteller aus der Lebensmittel-, Pharma- und Schönheitsindustrie ziehen gewaltigen wirtschaftlichen Nutzen daraus, gesunden Menschen Defizite einzureden. So entsteht eine endlose Flut an „Must-haves“, die einen Energieschub, raschen Gewichtsverlust, Faltenfreiheit und vieles mehr versprechen: Abdeck-Creme gegen Augenringe? Eine Bauch-weg-Strumpfhose für die Konferenz? Oder doch lieber einen Drink?

Selten sah man das Prinzip so anschaulich dargestellt wie in den frühen Werbefilmen zu „Frauengold“: Schon in den 1950er-Jahren wurde unter diesem Namen ein rezeptfreies Mittel für die gestresste Frau verkauft, das anregend und stimmungsaufhellend wirken sollte (und dessen Alkoholgehalt dem eines Likörs entsprach). Die Werbespots dieser Zeit demonstrieren, wie eine Telefonistin, eine Sekretärin und eine Hausfrau sich in Stresssituationen behelfen – statt „emotional“ zu reagieren. Nach dem Genuss des „Tonikums“ bleiben sie gelassen und zeigen sich bei Kunden, Chef oder Ehemann wieder „lebensfroh und jugendfrisch“. Slogan: „Nach einer Kur mit Frauengold sieht man in allem nur noch die guten Seiten“.92 Die Schwester im Geiste, „Klosterfrau Melissengeist“, wartet sogar mit 79 % Vol. Alkohol gegen „Unruhezustände“ auf. Heute kommen die Werbekampagnen zwar etwas subtiler und moderner daher – die Botschaften bleiben aber ähnliche: Mag die Mehrfachbelastung noch so schlimm sein – mit Lavendel, Vitaminen, Johanniskraut oder anderen rezeptfreien Mittelchen kann es weitergehen wie bisher. Da tobt die Mutter gleich wieder mit drei Kindern, Hund und Ehemann durch den Garten.

Ein erschöpfter, überforderter Mensch, der nach Orientierung sucht, ist umso empfänglicher für diverse Versprechungen – besonders bei so grundlegenden Wünschen wie denen nach Wohlbefinden und Attraktivität. Bei Männern lässt sich der Wunsch nach Selbstoptimierung besonders im Sportbereich beobachten: Um die Leistungsstärke zu erhöhen, Belastungsgrenzen zu umgehen und den Muskelaufbau voranzutreiben, nutzen viele Freizeitsportler diverse Substanzen. Proteinpulver für die Muskulatur, Stimulanzien wie Amphetamine, um die motorische Aktivität zu steigern und Müdigkeitsgefühle zu unterdrücken. Narkotika sollen Muskelschmerzen und körperliche Überforderung betäuben, illegale Substanzen wie Anabolika Muskelwachstum fördern und Fett abbauen. So ergab eine repräsentative Studie in deutschen Fitness-Studios, dass mehr als jeder fünfte Mann verbotene Substanzen zu sich nimmt. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA) schätzt, dass 3 bis 5 Prozent der Jugendlichen Anabolika benutzen, was ihre Gesundheit schädigen und abhängig machen kann.93

Gleichzeitig macht sich die Industrie das in der Bevölkerung gestiegene Bewusstsein für Gesundheit und Ernährung zunutze, in dem sie Produkte zur gesundheitlichen Optimierung verkauft – ein enormer Wirtschaftsfaktor.

Gesundheit to buy?

Sie aktivieren die Abwehrkräfte, unterstützen die Verdauung, stärken die Blase oder senken den Cholesterinspiegel – in den Supermarktregalen finden sich immer mehr „funktionelle“ Lebensmittel, die gesundheitlichen Zusatznutzen versprechen. In einem Markt, der im Wortsinn „gesättigt“ ist, muss sich die Lebensmittelindustrie neue Strategien suchen: Eine davon ist es, Nahrungsmittel wie Joghurt, Säfte oder Margarine mit angeblich gesundheitsfördernder Wirkung anzupreisen – über so genannte „Health-Claims“.

Diese müssen nach einer EU-Verordnung seit einiger Zeit von der Europäischen Lebensmittelbehörde EFSA geprüft und genehmigt werden. Laut foodwatch e. V. konnten 90 Prozent der bislang kontrollierten Gesundheitsaussagen den Prüfungen allerdings nicht standhalten – sie waren schlicht Werbelügen. Die Verbraucherorganisation listet auf ihrer Website einige der blumigen Versprechen auf, die durchfielen: „Abgelehnt wurden zudem Aussagen, nach denen Hopfen den Busen vergrößere, Granatapfelsaft gegen erektile Dysfunktion und Cranberrysaft gegen Blasenentzündungen helfe sowie schwarzer Tee die Aufmerksamkeit steigere.“94

Neben der Strategie, die angeblich positive Auswirkung des kompletten Lebensmittels zu loben, werden alternativ die gesundheitlichen Vorteile einzelner Bestandteile beworben: über so genannte „Nutrition Claims“ – beispielsweise für Bonbons mit Vitaminen, Fruchtsaftgetränke mit Mineralstoffen oder Frühstücksflocken mit Eisen-Zusatz. So können sogar Lebensmittel, die ernährungswissenschaftlich betrachtet eher ungesund sind, punkten, indem ihnen etwa künstliche Vitamine zugesetzt werden.

Eine Fehlernährung kann das natürlich nicht ausgleichen. Gleichzeitig entspricht die Versorgung der deutschen Bevölkerung bei den meisten Vitaminen und Mineralstoffen durchschnittlich bereits den vorgegebenen Werten der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) oder überschreitet diese sogar.95

Um die Verbrauchertäuschung zu begrenzen, wollte die EU-Verordnung Mindeststandards einführen für Lebensmittel, die entsprechend beworben werden dürfen – über so genannte „Nährwertprofile“. Laut foodwatch e. V. ist das allerdings noch offen: „Auf Druck der Lebensmittellobby erwägt die EU sogar, die Profile ganz aus der Verordnung zu streichen.“96

Hinzu kommen noch Nahrungsergänzungsmittel, die dem Körper als Kapseln oder Brausepulver fehlenden Schwung oder Nährstoffe wieder zuführen sollen. Knapp ein Drittel der Frauen und ein Viertel der Männer in Deutschland nehmen laut der Nationalen Verzehrstudie II Nahrungsergänzungsmittel zu sich – vor allem, wenn sie selbst ihren Gesundheitszustand als „schlecht“ einschätzen.97 Anders als Arzneimittel müssen Nahrungsergänzungsmittel allerdings keinerlei Nutzen nachweisen. Ob die Käuferinnen und Käufer überhaupt Bedarf an den enthaltenen Stoffen haben, ist als Kriterium für den Verkauf ebenfalls unerheblich.

Fazit: Die Anforderungen der Leistungsgesellschaft führen zu mehr Belastung im Berufs- und Privatleben – gleichzeitig steigt der Anspruch an das individuelle Lebensglück. Wer sich am meisten abrackert, sich selbst verleugnet, besonders viel an sich arbeitet, wird vermeintlich belohnt. Wir finden in uns selbst keine Ruhe: Alles muss besonders anstrengend und schwierig sein und gleichzeitig ganz leicht aussehen: Wir hätten gerne Yoga, aber mit Höchstleistung – oder gleich den Ironman.

Dieser Leistungsanspruch führt zu Stress, der sich negativ auf unsere körperliche und psychische Gesundheit und auch auf das Essverhalten auswirken kann. Von dem Spannungsverhältnis zwischen äußerem Überfluss und innerem Mangel, der sich zum Beispiel im emotionalen Essen ausdrückt, und dem gleichzeitigen Wunsch nach Entspannung und Leistungssteigerung profitieren diverse Industrien, indem sie vermeintliche Lösungen zur Selbstoptimierung verkaufen. Der Wunsch nach Ruhe, Gesundheit oder Ausgeglichenheit wird transformiert zum Wunsch nach Produkten, die Ruhe, Gesundheit und Ausgeglichenheit versprechen.

4. LEBEN IN BILDERN


Das hohe Stress-Level der Menschen in den Industrieländern, ihre mangelnde Stressbewältigung und Selbstregulation – darauf führt der Neurobiologe Gerald Hüther die Zunahme psychischer Erkrankungen zurück, zu denen auch Essstörungen gehören. Gleichzeitig spielten ein hoher Erwartungsdruck und eigene unrealistische Vorstellungen eine Rolle.98

Zu den Anforderungen der Leistungsgesellschaft kommen also, wie schon beschrieben, die Ansprüche hinzu, die wir an unsere Lebensführung und uns selbst stellen – und das nicht zuletzt unter dem Eindruck der gigantischen Bildwelten der modernen Medien, mit denen wir tagtäglich konfrontiert sind: Großflächige Werbebanner, TV-Spots und Anzeigen konkurrieren um unsere Aufmerksamkeit. Werbung triggert unsere Wünsche und Sehnsüchte. Im Spannungsfeld Ernährung – Schönheit – Gesundheit senden viele Kampagnen doppelte Botschaften: Sie beschwören Bilder von Genuss, Gemeinschaftsgefühl, einem reichhaltigen Leben mit einzigartigen Momenten herauf – aber zumeist nur in Verbindung mit Schönheit, Schlankheit, Fitness und Jugendlichkeit. Dies wird wiederum mit Anerkennung, Erfolg und Begehrtsein verknüpft.

Genieße, aber lass dich keinesfalls gehen – dieser Appell nistet sich in den Köpfen ein und verstärkt den Wunsch nach Selbstoptimierung. Vieles, was Einzug in unseren Alltag genommen hat, wird dabei nicht mehr hinterfragt: riesige Reklametafeln mit extrem schlanken Teenagern, die Bikinis für erwachsene Frauen vorführen. Stars, die behaupten, ihr Aussehen sei lediglich auf gute Gene und viel Wasser trinken zurückzuführen. Castingshows mit dünnen Schülerinnen, die angetrieben werden, ihre Körper noch weiter zu optimieren – und dabei ihre „Personality“ zu bewahren. In jeder Lebenslage sollen wir leistungsfähig, attraktiv und fit sein – wer kann da auf Dauer schon mithalten?

Wie sich mediale Darstellungen auf Essstörungen auswirkten, untersuchte eine Studie von Maya Götz, Caroline Mendel und dem Bundesfachverband Essstörungen. Bei der Befragung von Menschen, die aktuell wegen einer Essstörung behandelt wurden, gaben 27 Prozent an, die Darstellung von dünnen Models auf Plakaten oder Großleinwänden hätte sehr starken Einfluss auf ihre Essstörung gehabt, weitere rund 42 Prozent empfanden „etwas“ Einfluss. Bei Bildern in Modemagazinen sahen 22 Prozent einen sehr starken, weitere 39 Prozent etwas Einfluss.99

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