Kitabı oku: «Von Menschen»

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Von Menschen

Kastanien

Glaskörper

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Von Menschen

Copyright © 2018 Iris Antonia Kogler

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch in Auszügen - nicht ohne die Genehmigung des Autors/der Autorin wiedergegeben werden.

Lektorat: Sabine Rahn

Umschlagbild: Christine Bietz / Iris Antonia Kogler

Iris Antonia Kogler

c/o Barbara´s Autorenservice

Tüttendorfer Weg 3

24214 Gettorf

Kontakt: irisantoniakogler@gmx.de

Für R.

Kastanien

1.

Als der Alte noch mehr Worte hatte, strichen sie die Bank in einem dunklen Ton und stellten sie vor das Haus. „Die ist noch von damals“, hatte der Alte gesagt, sich darauf gesetzt, seinen Gehstock angelehnt und seine letzte Zeit begonnen. Zwei Jahre später splitterte das Rot ab und fiel in kleinen Farbblättern herunter, so wie nach und nach auch die Klarheit aus dem Gesicht des Alten fiel. Immer wieder in kleinen Stückchen, vor allem aus den Augen. Sie sahen es nie sofort, aber irgendwann fiel ihnen auf, dass wieder eine Stelle poröser, glanzloser oder leer geworden war. Noch einmal wollte seine Enkelin Kate die Bank nicht streichen, denn sie fand, das wäre unwürdig.

Sie hat die alten Fotos auf die Bank neben ihn gelegt, weil sie seinen Schrank ausgeräumt hat. Im Erdgeschoss wird es leichter sein mit ihm, aber er wird bleiben, hier auf diesem Hof, wo er hingehört.

Die Kleine rennt herum und sammelt Kastanien wie das Sterntalermädchen, so dass ihr Kleid dreckig wird. Sie findet eine besonders große, ihre Konzentration verändert sich und die gesammelten Früchte fallen auf den Boden zurück. „Upa soll die aufmachen“, sagt sie und rollt die Kastanie auf dem Knie des Alten herum. Sie nennt ihn Upa, weil das Wort „Ur-Opa“ zu lang ist. Sie schaut in sein Gesicht hinauf und hält ihm die Kastanie vor die Augen.

Andrea kommt und setzt sich neben ihren Vater auf die Bank. „Was hast du da Schönes?“, will sie von der Kleinen wissen. „Die können wir essen.“

„Aufmachen“, wiederholt die Kleine und legt dem Alten die Kastanie in die Hand. Andrea schaut die Fotos durch. „Schau mal, da ist Mama.“

Einfach nur, um das Bild zu vervollständigen, setzt sich Kate mit auf die Bank. Vier Generationen vor dem Wohnhaus des alten Hofes. Manchmal denkt Kate darüber nach, was der Alte in seinen Erinnerungen sieht, wenn er über den Hof blickt. Er hatte ihn damals übernommen und mit dem Wiederaufbau angefangen, gleich in der Zeit danach. Drei Kühe und ein Schwein zur Versorgung, ein paar Hühner noch dazu. Dort, wo heute das Restaurant ist, hatte er eine Werkstatt aufgemacht und reparierte alles, was man ihm brachte. Früher gab es einen riesigen, schwarzen Hund auf dem Hof. Der war schon da gewesen, war von irgendwoher gekommen und der Alte hatte ihn gelassen, obwohl es ein Monster war. „Bissig bis aufs Blut“, erzählte ihr mal ein alter Freund des Großvaters aus dem Dorf. „Da konntest du nicht ran.“ Es gibt ein Foto von ihm, das Andrea dem Alten jetzt zeigt. Vor dem Hauseingang liegend, ruhig, aber zu allem bereit, mit einer kleinen Kinderrassel zwischen den Zähnen. Ein seltsames Bild. Was immer der Alte an dem Hund fand, er behielt ihn und begrub ihn am Ende auf der Wiese hinter der Kastanie.

2.

Er geht den Feldweg entlang, direkt neben dem kleinen Bach. Die Landstraße will er meiden, denn er will niemandem begegnen, der in die entgegengesetzte Richtung läuft. Er kann sie sehen, wie sie mit Ihren Koffern und Bündeln unterwegs sind, zu Fuß, mit Handkarren, einem Pferd oder auch mit dem Fahrrad. Aber dennoch kann er nicht vermeiden, auch auf diesem abgelegenen Feldweg Menschen zu begegnen. Eines Abends ist es eine sechsköpfige Familie, die sich am Waldrand ausruht. Der verwundete Mann grüßt ihn, und als er aufsteht, tut er sich schwer.

„Es wird bestimmt besser mit der Zeit“, sagt er zu dem Verwundeten und nickt in Richtung Bein. „Nein, mich hat es schon vor zwei Jahren erwischt, da wird nichts mehr besser“, antwortet der und sieht das Gewehr, an dem zwei Eichhörnchen hängen. Noch ein Grund, warum er niemandem begegnen will. Er kann nicht hartherzig sein. Er gibt die Eichhörnchen der Familie und schlägt sich in den Wald. Es dauert, aber nach einiger Zeit schießt er einen Fasan und auf dem Rückweg noch ein weiteres Eichhörnchen. Es ist nicht viel, aber immerhin kommt er mit einer Beute zurück. Die Kinder werfen die Federn des Fasans in die Luft und tanzen. Später sind alle still und essen jedes noch so winzige Stückchen, während der Schein des kleinen Feuers sie wärmt in dieser kühlen Nacht im August. Die Mutter legt die Knochengerippe und Sehnen in einen Topf.

„Das zweite Mal jetzt schon“, sagt der Verwundete. „Wieder alles zurücklassen. Beim letzten Mal gab es Busse, jetzt gehen wir ein Stück zu Fuß, weil es zu wenig davon gibt. Die kommen nicht bis in unser Dorf. Wollen Sie wirklich in die Rote Zone?“, fragt er und fügt noch hinzu: „In der Stadt ist es sicherer als hier, Sie können mit uns kommen, meine Schwester hat sicher Platz für einen Soldaten.“

Am nächsten Morgen verlässt er die Familie, steckt aber den Zettel mit der Adresse in der Stadt ein und nimmt auch etwas von der dünnen Brühe mit. Das Dorf ist augenscheinlich leer, doch er wartet oben auf dem Hügel und beobachtet. Als es dunkel wird, geht er hinab, leise, wie er es als Soldat gelernt hat. Er hört die Grillen zirpen und einen Hund. Dann entdeckt er vereinzelt stille Lichter hinter den Fenstern. Er ist nicht alleine, das Dorf ist nicht ganz verlassen. Er geht die Straße entlang zum Hof, eine Katze läuft ihm über den Weg, und er bleibt ruhig stehen, als er aus der Dunkelheit seinen Namen hört. „Martin?“ Aus der Nacht tritt ein Mann. „Martin?“

Es ist selbstgebrannt und es ist schlecht, aber es ist das Beste, was er seit langem getrunken hat. Sie sitzen da, bei Kerzenschein, und er erfährt, dass sein Bruder gefallen ist. Also ist er nun allein. Er will wissen, wie viele im Dorf geblieben sind und was mit dem Hof ist. Dieses Mal hatten sich viele Bewohner geweigert, die Rote Zone erneut zu verlassen und sind geblieben. Also wird auch er bleiben. Es ist Heimat.

3.

Kate sieht aus dem Fenster der Küche zu ihrem Großvater. Sie hört ihre Mutter im Nebenzimmer und fragt, was sie suche. Die Medikamente. Was sollen die noch bringen, denkt Kate, wischt sich die Hände ab, geht zu Andrea und gibt ihr die Medikamente. Andrea füllt ein Glas am Wasserhahn und geht hinaus zum Alten. Als sie zurückkommt, sagt sie: „Ich weiß, sie werden ihm nicht mehr helfen, aber es beruhigt mich irgendwie, dass er sie noch einfach so nimmt.“

„Die sollen auch nicht mehr helfen, Mama, nur noch erleichtern.“

Am Abend bringen sie den Alten ins Haus. Als Andrea ihm die Strickjacke ausziehen will, öffnet er die Hand nicht.

„Was hast du da Schönes in deiner Hand, Papa?“, fragt sie und lächelt. Da öffnet der Alte die Hand. Die Klarheit seiner Stimme erschreckt sie, als er sagt: „Eine Kastanie.“

„Papa, wo bist du den ganzen Tag, wenn du da draußen sitzt?“

„Hier, ich bin hier.“

4.

Am nächsten Morgen geht Martin zum Hof. Gestern Abend war er müde, und weil man ihm ein Bett angeboten hatte und er schon lange nicht mehr so satt gewesen war, war er geblieben.

Der Hof liegt am Ende des Dorfes in Richtung Stadt. Sein Vater war Soldat gewesen wie er, aber seine Mutter wurde nicht vom Krieg geholt, sondern von einer Krankheit, die sich durch sie hindurch gefressen hatte. Der Hof steht seit drei Jahren leer, der Schlüssel ist unter einer Wurzel des Kastanienbaumes versteckt. Er betritt das Haus, und nicht nur der Staub dreier Jahre legt sich auf sein Gesicht, sondern auch der Staub des Krieges. Plötzlich ist er unendlich müde und weiß nicht, wohin mit sich. Er kann nicht in die Zukunft sehen, obwohl er das doch wollte, und in der Vergangenheit ist der Krieg. Er prüft, ob noch Wasser aus den Leitungen kommt, füllt eine Schüssel, weil er kein Glas findet, und setzt sich auf einen Stuhl an den Küchentisch. Er überlegt, ob er sich eine Kugel in den Kopf jagen soll und bewegt sich nicht, als er das Knurren hinter sich hört. Er denkt auch nicht daran, an sein Gewehr zu gelangen, das er an den Türrahmen gelehnt hat. „Pass auf den schwarzen Köter auf, der sich da eingenistet hat, der ist bissig bis aufs Blut“, war er heute Morgen noch gewarnt worden. Deswegen hatte sich niemand auf den leer stehenden Hof gewagt. Der Köter kommt in sein Blickfeld, Staub tanzt um sein Fell. Hässliches Vieh, denkt Martin und zieht an seinem Pullover, so dass seine Kehle frei liegt.

„Hier, bring mein Leben zu Ende“, sagt er, doch als das riesige Tier ihn einfach nur weiter ansieht, greift er langsam nach der Schüssel. Er stellt sie neben sich auf den Boden und bleibt sitzen. „Das ist mein Hof, aber du kannst bleiben.“

Weil er nun nicht mehr alleine ist, beginnt er mit dem Aufräumen. Er findet eine Bank und stellt sie vor das Haus. Es gibt nicht viel in dieser Zeit, aber das Wenige, das er organisieren kann, reicht ihm und dem Köter. Er hört, was in der Welt geschieht und in Deutschland, wenn abends das Radio läuft, während er in der Küche kleine Kartoffeln schält. Er hört zu, um zu wissen, von was er sich fernhält. Eines Morgens im März fliegen die Nachrichten aus einem Flugzeug vom Himmel mitten in seinen Hof, mit einer schönen Frau auf der dritten Seite, die er sich in die Küche hängt.

Es ist Herbst, als er den alten Traktor zum Laufen bringt, der Motor ist laut und so hört er nicht das Knurren des Köters, sondern sieht ihn nur, wie er die Zähne zeigt und in Position geht. Drei britische Wagen halten im Hof, acht Soldaten steigen aus und schauen sich um. Martin sieht den Köter an und plötzlich sieht er nicht das hässliche Vieh in ihm, sondern einen Freund. „Sitz“, sagt er und der Hund gehorcht. Einer der britischen Soldaten kommt auf ihn zu. Sein Gesicht ist freundlich, aber da steht hinter ihm ein anderer, dessen Grinsen gefällt Martin nicht. Er beobachtet ihn, ohne weiter hinzusehen, und aus dem Augenwinkel sieht er, wie der Soldat auf den Hund schaut und seine Waffe zieht, als dieser die Zähne zeigt. Der vordere Soldat will wissen, ob er hier alleine lebe und was er mache. Martin sieht auf das Auto des Soldaten und sagt: „Klingt nicht gut, der Motor. Ich repariere das.“

Ein halbes Jahr später hat er eine Werkstatt eröffnet. Er macht gute Geschäfte, legal und illegal, er kommt mit den Besatzern zurecht. Nur der eine Soldat, der gefällt ihm immer noch nicht. Die Bewohner der Dörfer sind zurückgekommen, nach und nach, meistens zu Fuß, weil das ganze Land still steht. Eines Abends geht er in ein Lokal und als er auf dem Heimweg ist, hört er ein Geräusch, dem er nachgeht. Der grinsende Soldat knöpft sich seine Hose zu und entdeckt Martin. „Du machst gute Geschäfte mit uns. Hoffen wir, dass es so bleibt“, sagt er und geht. Martin hilft der Frau beim Aufstehen und schaut zur Seite, als sie sich die Kleider richtet. Er fühlt einen Schmerz in sich, und das verwirrt ihn, fühlt er doch schon lange nichts mehr. Und da ist diese Hitze, die sich in seinem Magen bildet. „Ich kann mich um ihn kümmern“, sagt er in seiner schroffen Art. Die Frau legt den Finger auf ihre Lippen und verschwindet verletzt in die Nacht. Als Martin nach Hause kommt, erzählt er dem Hund, er habe eine Frau kennengelernt. In der Nacht hört er einen Schuss und findet ihn im Hof. Ob Hund oder Kamerad, er hat Übung darin, Blut zu stoppen, legt seinen Freund auf den Küchentisch und holt die Kugel aus ihm heraus.

Martin weiß, dass es die Soldaten öfter tun. Es vergehen wenige Wochen, da klopft es am späten Abend an seiner Türe. Die Frau steht da und sieht ihn an. „Ich brauche einen Ehemann.“

Es ist eine stille Hochzeit. Sie kommt von einem Hof und bringt ein wenig Vieh mit in die Ehe. Luise ist eine gute Frau, denn seit er sie hat, ist er nicht mehr so schweigsam und schwierig. Die Erinnerungen an den Krieg werden leiser und er hat angefangen, etwas aufzubauen. Sie verlieren nie ein Wort über das Geschehene, weil sie es so will.

Eines Tages ist er im Haus und ruft nach ihr, doch sie antwortet nicht, und so geht er nachsehen. Der Soldat mit seinem Grinsen steht vor dem Haus und will, dass er einen Fotoapparat repariert. Er blickt an Martin vorbei und sieht das Kind, das eine Kinderrassel bekommen hat, und Luise, die auf der Bank sitzt und Kastanien schält. Er nimmt eine und schiebt sie sich in den Mund. „Hübsches Kind“, sagt er.

Luise weiß sofort Bescheid und springt mit dem Kind vom Tisch weg. Martin schlägt dem Briten die gusseiserne Pfanne über den Schädel und bindet ihm, während er noch ohnmächtig ist, einen Strick um den Hals. Er schleift ihn unter die Kastanie, wirft den Strick über den Ast und holt einen Stuhl, auf den er den Soldaten zieht. Dann geht er in das Haus, holt einen weiteren Stuhl, setzt sich vor den Soldaten und macht sich an die Reparatur des Fotoapparats, denn er repariert alles, was man ihm gibt. Der Hund beobachtet ruhig, was geschieht. Er trägt die Rassel im Maul, die er unter dem Tisch gefunden hat.

„Funktioniert wieder“, sagt Martin, als der Brite erwacht, und drückt auf den Auslöser, im Visier den vor dem Hauseingang liegenden Hund.

„Du wirst sterben, Deutscher! Deine Frau war übrigens die Beste. Drei Frauen hab ich erwischt, deine hat am meisten Spaß gemacht.“

„Drei? Drei Frauen, und du hast auf meinen Hund geschossen.“ Martin geht zum Haus und holt vier Kastanien, die er dem Soldaten in den Mund presst. Dann beginnt er, das Seil weiter über den Ast zu ziehen, bis nur noch die Fußspitzen des Briten den Stuhl berühren und die Luft knapp wird. Er holt ein zweites Seil, bindet es an den Stuhl und ruft den Hund, dem er ein Halsband anlegt.

Luise kommt mit dem Kind aus dem Haus. Sie haben sich hübsch gemacht.

„Unser Kind wird heute getauft“, sagt Martin und sie verlassen den Hof.

Es wird eine halbe Stunde dauern. Eine halbe Stunde lang wird der Hund den Soldaten anschauen, ruhig und dunkel, wie es seine Art ist. Dann wird er aufstehen und gehen, den Stuhl mit sich ziehen und am Eingang des Hofes auf Martin warten, der in der Nacht im Wald ein Loch graben wird.

5.

Kate sieht aus dem Fenster hinüber zu ihrem Großvater. Heute scheint es ihm gut zu gehen. Andrea setzt sich zu ihm und folgt seinem Blick zum Kastanienbaum.

„Geht es dir gut, Papa?“

Der Alte nickt. „Ja, es geht mir gut.“

„Kate will eine Schaukel für die Kleine an die Kastanie hängen. Kannst du dich erinnern, dass sie als Kind eine Schaukel da hängen hatte?“

Da plötzlich lächelt der Alte. „Ist ein guter Baum. Hing schon viel dran.“

„Daran kannst du dich erinnern?“ Andrea lacht. „Seltsam.“

Später am Tag wird Kate die Familie zusammenrufen, sie werden die Hände des Alten berühren, seine Wangen, und es wird gut sein, weil er heute einen klaren Tag hatte.

Bald werden sie für die Kleine eine Schaukel aufhängen und Andrea und Kate werden ihr zusehen, während sie auf der Bank sitzen und die Kastanien fallen.

Glaskörper

Er hatte gewartet, Jahr um Jahr. Es gab immer einen Grund für jede Entscheidung, die er traf, und für jede, die er nicht traf. Erst war es die Wissenschaft, die es ihm nicht ermöglichte, später das Gesetz, das es ihm nicht erlaubte, und dann, als er es tat, weil es das Gesetz und die Wissenschaft endlich zuließen, da hörte die Welt nicht zu. Sie hörte nicht zu, weil seine Tat geheim war, und er sprach nie darüber, weil er das Geheimnis schützen wollte vor eben jener Welt, die von nichts wusste. Dann, nach fünfzehn Jahren, gab es eine Änderung.

„Ist das überhaupt erlaubt?“, fragte Lina, drehte sich auf dem Drehstuhl hin und her und betrachtete die Kamera, den großen Bildschirm und den Schreibtisch, an dem Dr. Santos saß. „Immerhin bin ich deine Tochter. Darf man die eigene Tochter als Versuchskaninchen benutzen? Ich könnte davon einen ernsthaften Schaden bekommen. Also, worum geht es?“

„Danke, Thomas“, sagte Dr. Santos zu seinem Mitarbeiter, der die Kamera richtig eingestellt hatte und nun den Raum verließ. Santos setzte sich vor Lina. „Sehen wir es als ein kleines Experiment. Ich möchte, dass du mir dein bisheriges Leben schilderst.“

„Wozu? Du kennst mein Leben, Diego, du hast mich adoptiert.“

„Trotzdem.“

„Also gut. Soll ich in die Kamera schauen? Also: Ich wurde geboren am siebzehnten Mai achtundsiebzig. Ich hatte einen Tumor an der Wirbelsäule, der erst nach mehreren Jahren durch eine bis heute sensationelle Operation entfernt werden konnte, nämlich von einem gewissen Dr. Diego Santos, der mich später bei sich aufnahm und adoptierte. Ich bin Studentin der Astrophysik, bin seit ein paar Wochen fröhlicher Single und spiele richtig gut Volleyball. Ich habe Freunde und ich habe das Glück, von einem Mann und seiner Frau adoptiert worden zu sein, die mir ein unglaublich gutes Leben ermöglichen konnten.“ Lina sah Santos an. „Gut so?“

„Kannst du dich an dein Leben vor der Operation erinnern?“

„Nein. Wie alt war ich da? Drei? Nein, daran kann ich mich nicht erinnern. Ich kann mich auch nicht an meine Eltern erinnern. Ich sehe noch das Krankenhaus, in dem ich damals nach der Operation lange bleiben musste, und ich kann mich erinnern, wie ich das erste Mal mein Zimmer bei euch gesehen habe.“

Santos sah Lina an. Sie kannte ihn nun schon seit so vielen Jahren und hatte immer eine Vaterfigur in ihm gesehen. Nun war er dreiundachtzig Jahre, ein alter Mann, ein Spezialist der Kardiologie, der immer noch weiter forschte in seinem eigenen Institut, von der Fachwelt vergessen, seit fünf Jahren verwitwet und verschlossen. Denn niemand schien sich für das zu interessieren, was er erforschte. Irgendeine Grundlagenforschung, die ins Leere lief, eine Idee, die nur in seinem Kopf Fuß gefasst hatte und vielleicht noch in den Köpfen von seinem Assistenten Thomas und zweier weiterer Mitarbeiter.

„Diego, was tust du eigentlich den ganzen Tag hier in deinem Institut? Es sieht aus wie ein Gefängnis, eine geheime Militärbasis oder sonst was. Du warst einmal der talentierteste Kardiologe der Welt. Warum hast du das aufgegeben?“

Diego stand auf und ging zu seinem Schreibtisch. Er tippte etwas auf dem Tablet, verharrte und sah Lina an. Dann ließ er die Jalousien herunterfahren und setzte sich in seinen Stuhl.

„Du weißt, dass mein Spezialgebiet die Kryonik ist, und dass sich hier in meinem Institut sechshundertdreiundvierzig Patienten befinden, alle im Kälteschlaf.“

„Ja, ich weiß.“ Lina drehte sich auf dem Stuhl hin und her.

„Aber du weißt nicht, dass wir in den letzten Jahren sechsundfünfzig Menschen aus ihrem Kälteschlaf aufgeweckt haben.“

Lina starrte Diego an und wusste nicht, wen sie vor sich sehen sollte. Die Vaterfigur oder den Wissenschaftler. „Sechsundfünfzig Menschen? Aber wie? Ist es denn möglich? Habt ihr einen Durchbruch geschafft? Was ist mit dem Gesetz? Das Gesetz verbietet es, Menschen aufzuwecken.“

Santos schaute auf seine Hände. „Die Regierung hat vor zehn Jahren unserem Antrag stattgegeben und uns erlaubt, Patienten aus dem Kälteschlaf zu holen. Aber es hat nicht so funktioniert, wie wir es uns erhofft hatten. Von den sechsundfünfzig Patienten konnten wir vierunddreißig wiederbeleben, aber ein Großteil von ihnen starb schon in den ersten Stunden oder Tagen. Die, die länger lebten, kamen nicht mit dem zurecht, was mit ihnen geschehen war. Sie erwachten viele Jahre oder Jahrzehnte, nachdem man sie in den Kälteschlaf gebracht hatte, und sie wussten nicht, wer sie waren. Denn das, was sie einmal gewesen waren, war gestorben, bevor sie in den Schlaf gingen. Sie lebten und waren doch vor Jahrzehnten gestorben. Die Regierung hat nach zehn Jahren das gesamte Kryonikprogramm gestoppt. Wir dürfen keine weiteren Menschen mehr aus dem Kälteschlaf holen.“

Lina atmete tief durch. „Was heißt das, ihr dürft keine Menschen mehr aufwecken? Was passiert mit denen, die noch hier sind?“

„Es gibt noch eine einzige Möglichkeit. Die Raumstation. Aber dafür muss ich die Ethikkommission überzeugen, dass es doch möglich ist.“ Santos stand auf, nahm das Tablet und reichte es Lina. Dann ging er hinaus. Lina sah auf den Bildschirm, auf dem ein Film ablief, den Santos für sie gestartet hatte.

Lina ging hinaus auf das Dach. Auf einem der großen Abluftrohre saß Thomas mit einer Bierflasche in der Hand neben einem ganzen Kasten Bier. Er sah sie an und nickte ihr zu. Nah an der Dachkante saß Santos auf einem alten Stuhl und sah über die Wüste. Lina wusste nicht, wohin mit sich, sie wollte wieder gehen, aber sie wollte auch hier im Licht des Sonnenuntergangs bleiben. Sie wollte allein sein und hatte gleichzeitig Angst davor, zu verschwinden, wenn sie gehen würde. Sie setzte sich an die Dachkante, ließ die Beine hinunter hängen und war still. Sie hörte, wie Thomas eine Bierflasche öffnete und sah zu ihm hinüber. Er hielt ihr die Flasche entgegen und brachte sie ihr, als sie die Hand ausstreckte. Sie trank das kühle Bier, blickte über die Wüste und in den Himmel hinauf. Um diese Uhrzeit konnte man die Raumstation gut sehen, wie sie da oben schwebte, groß und ruhig.

„Ich habe über all die Jahre hinweg nie den richtigen Moment gefunden, mit dir darüber zu sprechen. Und auch jetzt wusste ich nicht, wie ich es dir sagen soll, deshalb habe ich dir den Film gezeigt“, sagte Santos.

„Ich bin also ein Experiment?“, fragte sie. „Ich bin nicht die Einzige?“

„Du bist die Erste. Du warst nach all den Jahren die Patientin von allen, bei der es am ehesten möglich schien. Viele andere Patienten mussten wir aufgeben, bevor wir sie überhaupt wiederbeleben konnten. Die ersten vier Patienten konnten wir nicht wiederbeleben, aber du, du hast angefangen zu atmen. Weil wir nicht wussten, was mit dir geschehen würde, wie du dich entwickeln würdest, haben wir fünfzehn Jahre lang gewartet und dich beobachtet. Danach hat uns die Regierung erlaubt, weitere Patienten aus dem Schlaf zu holen. Es waren die sechsundfünfzig.“

„Und was willst du nun von mir? Dass ich als Vorzeigepatientin deine Forschung unterstütze? Seht her, sie lebt, sie ist normal, sie studiert sogar? Wie viele gibt es?“

„Es haben neun Menschen bis heute überlebt. Sie leben unter ständiger Beobachtung. Manche von ihnen leben ein einigermaßen normales Leben, aber es ist schwierig.“

Lina stand auf und ging zu Santos herüber. „Wenn du wusstest, dass die Menschen damit nicht umgehen können, warum hast du es mir jetzt gesagt?“

Santos sah zu ihr hinauf, mit einem Schmerz in seinen Augen. „Ich will sie retten. Die restlichen von ihnen. Ich will sie auf die Raumstation bringen. Ich bin nicht bereit, sie aufzugeben, ich will sie aus dem Schlaf befreien. Du bist der Beweis, dass es möglich ist.“

Das „Falling down“ hatte schon vor zwei Stunden den Einlass gestoppt. Lina ging an der Schlange am Eingang entlang und stellte sich auf die andere Straßenseite. Bei einem Chinesen kaufte sie einen Fleischspieß, den sie aß, während der Regen an den zweihundertelf Stockwerken des Hochhauses herunter rann. Sie sah sich die riesigen Werbebildschirme an und ging dann um das Gebäude herum zum Hintereingang, lief die langen Gänge entlang zu den Garderoben und zog sich um. Sie war heute für das Foyer, den „Ankunftsraum“ eingeteilt, der Bar, hinter der sie gerne arbeitete. Hier kam das Partyvolk an, purzelte aus dem Aufzug heraus, nachdem es mit irrsinniger Geschwindigkeit und bei lauter Musik die zweihundertelf Stockwerke herunter gerast war. Auf fünf Stockwerken befand sich der Club, das „Falling down“, darüber waren Restaurants und Einkaufspassagen und, je höher das Stockwerk lag, die exklusiven Immobilienbüros, Rechtsanwaltskanzleien und Privatärzte. Ganz oben, vom zweihundertneunten bis zweihundertelften Stock, hatte das „Falling Down“ fünf Tanzebenen, drei ruhigere Bars, ein Restaurant und den VIP-Bereich.

Lina war eigen. Ihre Kolleginnen nannten sie „unsere Naturschönheit“, und sie meinten es ernst. Lina war nicht sonderlich groß und auch nicht richtig dünn. Ihr Gesicht sah jung aus, unverbraucht und, da sie sich nicht schminkte, natürlich. Sie zog enge Kleider an, denn es brachte Trinkgeld. Auf Angebote ging sie nicht ein. Fast fünf Jahre lang war sie liiert gewesen, aber das war seit einigen Wochen vorbei. Wie immer wies sie die Einladungen ab, freundlich, aber bestimmt. Der Aufzug kam an, die vor Geschwindigkeit, Adrenalin und Alkohol trunkene Menge strömte lärmend heraus. Aber Lina hörte sie nicht. Sie hörte Santos und sie hörte die Stimmen, die von dem Bildschirm zu ihr gesprochen hatten.

Erst als jemand ihren Namen rief, sah sie das Blut in ihrer Hand, das aus einem Schnitt in der Handfläche herauslief. Beim Spülen der Gläser musste sie ein Glas zerschlagen haben. Sie wickelte ein Handtuch darum und setzte sich etwas abseits hin, beobachtete den Aufzug und die tobende Menge, die lange Schlange vor dem Gebäude und den Regen. Als sie an das Fenster ging, versuchte sie, in den Himmel zu blicken, aber da war kein Platz für Himmel.

„Kann ich Ihnen helfen?“ Neben Lina war ein Mann aufgetaucht. Eine Stimme wie rauchiges Holz, die fragte: „Sind Sie verletzt?“

Lina war nie die Frau für eine Nacht gewesen. Sie war beständig, stetig, geradeaus. Der Mann holte ein frisches Tuch und umwickelte ihre Hand damit. Dann bestellte er etwas Starkes, dessen Schwere wärmte, und Lina beantwortete alle Fragen, die er ihr stellte, mit „Ja“. Als er sie nach Hause fuhr, stieg er mit aus dem Wagen, legte ihr sein Jackett um die Schultern, brachte sie durch den Innenhof des Appartementkomplexes zu ihrer Haustür, legte die Hände an die Mauer und umschloss Lina, ohne sie zu berühren.

Sie sagte „Ja“.

In ihrer Wohnung zog er sie aus, nicht langsam, nicht schnell, sondern effizient, ruhig, gekonnt. Es gab weder einen Grund zu einer überhitzten Eile noch zu romantisierenden, an Langweile grenzenden Zärtlichkeit. Es wurde kein neues Land entdeckt, sondern gegeben und genommen, so, wie es gut war. Als er ihr das Tuch von der Hand nahm und ihre Wunde wusch, fragte er nicht nach ihren Narben. Er hatte es nicht am Anfang getan und er tat er jetzt nicht.

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