Kitabı oku: «Novembertod», sayfa 2
Von Unverth strich über die Zeitung, als wolle er sie glätten. Kappe beobachtete die stumpfen, weichen Hände mit dem Siegelring, die immer wieder über die Überschrift fuhren: Der Kaiser hat abgedankt. Thronverzicht des Kronprinzen. Ebert wird Reichskanzler. Von Unverth sah auf. Sein Kaiser-Wilhelm-Schnurrbart zitterte. Kappe hoffte, er würde endlich anfangen zu reden. Er ließ ungeduldig seinen Blick schweifen. Galgenberg stand mit undurchsichtigem Gesicht da. Von Canow saß in einem der mächtigen grünen Samtsessel und sah besorgt aus. Kniehase hatte etwas Eilfertiges an sich. Kappes Blick streifte den viereckigen hellen Fleck an der Wand hinter von Unverth. Der Kaiser hatte tatsächlich abgedankt. Zumin dest hier an der Wand, dachte Kappe und fragte sich, wie von Unverth wohl wirklich über die Ereignisse dachte.
«Meine Herren», sagte der Regierungsrat. «Die Ereignisse zwingen mich, Ihnen Folgendes mitzuteilen. Unser gegenwärtiger Polizeipräsident, Herr von Oppen, gibt sein Amt an Herrn Eichhorn ab. Unsere Abteilung wurde, wie Sie wissen, überprüft. Sie bleibt erhalten, und ich bleibe im Amt. Sie sehen: Gute Arbeit lohnt sich.» Von Unverth begann abzuschweifen. Kappe sah ungeduldig aus dem Fenster. Ein Schwarm von armseligen Gestalten kam aus dem Gebäude und wurde von Frauen und Kindern freudig begrüßt. Kappe fühlte ein wenig Genugtuung. Das mussten die politischen Gefangenen sein.
«Kommissar Kappe, Sie interessieren sich wohl nicht für meine Ausführungen?» Von Unverth sah ihn unverwandt an. «Ich frage mich, ob Sie überhaupt bei der Sache sind. Was haben Sie eigentlich gemacht, während ich und Ihre Kollegen uns vor einem Revolutionskomitee rechtfertigen mussten?» Von Unverth sah nach draußen, wo die politischen Gefangenen immer noch auf die Straße strömten. Sein Schnurrbart zitterte wieder. «Sie haben die Politische Abteilung tatsächlich geschlossen.» Er schüttelte kaum merklich den Kopf und wandte sich wieder Kappe zu. «Nun? Sie haben doch nicht etwa mitdemonstriert?»
Kappe spürte die Blicke der anderen drei auf sich. Es war ihm klar, dass er von Unverth viele Fragen beantworten müsste, wenn er von seiner Suche nach Margarete erzählen würde. Fragen nach Margarete. Fragen nach seinem Umgang. Solange er nicht wusste, auf welcher politischen Seite der Regierungsrat stand, wollte er diese Fragen nicht beantworten. Also beschränkte er sich auf das Wesentliche. «Meine Frau ist auf der Straße zusammengebrochen. Ich musste sie ins Krankenhaus bringen. Sie ist hochschwanger.»
«Was ist eine der wichtigsten preußischen Tugenden, Kommissar Kappe?» Von Unverths Augen funkelten kalt.
Kappe schluckte. «Pflichterfüllung?»
«Na, ich sehe, bei Ihnen ist Hopfen und Malz noch nicht ver loren. Und im Fall einer hochschwangeren Ehefrau drücken wir mal ein Auge zu. Ich hoffe, es ist nichts Schlimmes.»
Kappe beobachtete verwundert, wie das kalte Funkeln in von Unverths Augen in Sekundenschnelle erlosch und einem jovialen Gesichtsausdruck wich. Fast, als wäre er zwei Personen, dachte Kappe. «Ich weiß es nicht, Herr Regierungsrat», sagte er. «Die Schwestern konnten mir nichts sagen.»
«Das wird schon, Herr Kappe. Hab das Vaterwerden selber fünfmal mitgemacht. Aber vergessen Sie vor lauter Sorgen nicht, dass das kriminelle Element nicht schläft.» Von Unverth sah in die Runde. «Das gilt für Sie alle. Wir sind hier, um gegen das Verbrechen zu kämpfen. Ganz gleich, welchem Herrn wir dienen müssen. Wir werden mit dem neuen Regime so gut wie möglich zusammenarbeiten. Tun Sie also Ihr Bestes, selbst wenn es vielleicht schwerfällt. Besprechung beendet, meine Herren.»
Die vier gingen schnell nach draußen. «Richten Sie Ihrer Frau gute Besserung aus», sagte von Canow, bevor er in seinem Büro verschwand.
Kniehase nickte. «Von mir auch.» Er verabschiedete sich in sein Labor. Zum Schluss liefen nur noch Galgenberg und Kappe den Flur zu ihrem Büro entlang. Kappe überlegte fieberhaft, unter welchem Vorwand er seine Suche nach Margarete wiederaufnehmen könnte. Er sah seinen Kollegen, der schweigend und mit verschlossenem Gesicht neben ihm her ging, von der Seite an. Ich könnte genauso gut auch nicht da sein, dachte Kappe. «Ich werde noch mal nach meiner Frau sehen», sagte er.
Galgenberg zuckte mit den Achseln. «Wenn Sie meinen, dass das hilft.»
«Ich denke schon.» Kappe hatte nicht vor, zum Krankenhaus Bethanien zu gehen. Er würde Margarete suchen.
Unter den Linden und am Brandenburger Tor blühten die roten Fahnen. Die Straßen waren schwarz von Menschen. Schaulustige hingen wie dicke Krähen in den kahlen Bäumen. Offene Lastautos kurvten durch die Massen, besetzt mit Soldaten, die rote Armbinden trugen. Auf manchen stand Soldatenrat. Kinder wuselten herum. Kappe schien es, als sei ganz Berlin auf den Beinen. Er driftete durch das revolutionäre Gedränge, immer auf der Suche nach Margarete, und fühlte sich dabei wie ein Fremder.
Die meisten Menschen schienen zum Reichstag zu streben. Kappe arbeitete sich bis zu dem klotzigen Gebäude vor, vor dem die Menschen wie Ameisen wimmelten. Abordnungen betraten den Reichstag, andere verließen ihn wieder. Plötzlich wurden Arme gereckt und Hüte geschwenkt. Kappe sah an der Fassade hoch, die sich klobig und grau in den Himmel reckte. Ein Fenster war aufgegangen, und ein schmaler älterer Herr, den Kappe an seinem Knebelbart als Philipp Scheidemann erkannte, lehnte sich weit hinaus und begann zu sprechen. Kappe verstand die Satzfetzen «Einig und stark» und «Es lebe das Neue, es lebe die Deutsche Republik». Die Menge jubelte. Beifall brandete auf.
Kappe wurde von einem sonderbaren Gefühl ergriffen. Das Kaiserreich und damit alles, was er bis dahin gekannt hatte, war wirklich und wahrhaftig untergegangen. Aber statt Wehmut spürte er vorsichtige Neugierde. Margarete fiel ihm wieder ein, und er lief weiter durch die Menge. Es wurde heftig diskutiert. Wer nicht verstanden hatte, was Scheidemann gesagt hatte, dem wurde es in einer Art Stiller Post weitergegeben. Immer wieder fand er sich in Menschenknäueln wieder, in deren Mitte rotwangige Zeitungsjungen den Vorwärts verkauften. Auch hier wurde den Jungen die Zeitung nur so aus den Händen gerissen. Kappe hastete weiter.
Am Abend hatte Kappe die ganze Stadt durchkämmt. Erschöpft lief er nun durch die schwach erleuchteten Straßen von Kreuzberg. Natürlich hatte er die ganze Zeit gewusst, dass die Chance, Margarete in dem Trubel zu finden, kleiner gewesen war als ein Sechser in der Kaiserlichen Lotterie. Ehemals Kaiserlichen Lotterie, fügte er für sich hinzu. Trotzdem - es war ihm bisher immer gelungen, die Nadel im Heuhaufen doch noch zu finden. Er fragte bei Margarete Klumps Zimmerwirtin nach. Die hatte sie seit heute Morgen auch nicht gesehen. Als sie ihn in eine erregte Diskussion über das, was sie «die Zustände» nannte, verwickeln wollte, ließ er sie einfach stehen.
Rastlos lief er die Oranienstraße hinunter. Ihm war kalt. Kurz hinter dem Oranienplatz fiel Licht aus einer Speisewirtschaft auf die Straße. Das «Max und Moritz». Kappe war plötzlich nach einem Schluck Bier. Er öffnete die Tür. Lärm und der Geruch von Alkohol und Tabak schlugen ihm entgegen.
Der Eigentümer hatte sich persönlich die Einwilligung von Wilhelm Busch geholt, sein Lokal nach den beiden Buschschen Übeltätern zu benennen. Der Schriftsteller hatte die Genehmigung unter der Voraussetzung erteilt, dass es einmal die Woche Erbsensuppe gebe - was das «Max und Moritz» mittlerweile seit elf Jahren zu einer Institution in Kreuzberg machte. Das Lokal erstreckte sich über vier Stockwerke. In den ersten beiden waren die Speisesäle, im vierten die Büroräume und im dritten die hauseigene Fleischerei, die jetzt, in den Zeiten des Mangels, verwaist war. Auch die wöchentliche Erbsensuppe gab es schon lange nicht mehr.
Kappe wühlte sich durch die Menge bis zum Tresen. Im hinteren Saal gab es eine Versammlung. Als die Pendeltür aufschwang, sah er Margarete, die, eine Rede haltend, in diesem Augenblick aufsah und ihn entdeckte. Sie nickte ihm kurz zu und redete weiter.
Kappe hatte sich oft gefragt, was die Freundschaft zwischen Klara und Margarete ausmachte. Sie waren nicht lange Kolleginnen gewesen. Kurz nachdem Klara im Kaufhaus Hertzog angefangen hatte, wechselte Margarete zu Wertheim. Beide hatten sich erst vor zwei Jahren zufällig auf der Ritterstraße wiedergetroffen. Margarete hatte gerade die Nachricht bekommen, dass ihr Mann gefallen war. Klara hatte die todtraurige Margarete in ihre Wohnung geschleppt und sie vor eine Tasse heißen Ersatzkaffee gesetzt. Kappes mädchenhafte, manchmal durchaus kokette Klara, die sich für Filmdiven und Mode interessierte, und die nüchterne, politisch engagierte Margarete wurden dicke Freundinnen. Sie schienen auf geheimnisvolle Art aufeinander abzufärben: Klara interessierte sich plötzlich ein wenig für Politik, und Margarete verlor das Grimmige und begann wieder zu lachen.
Kappe kämpfte sich zu Margarete durch. Sie hatte ihre Rede beendet und passte ihn an der Pendeltür ab. Und dann war es, als ob eine Schleusentür geöffnet würde: Er redete und redete, erzählte ihr alles. Sie hörte zu. Stellte Fragen. Sie versprach, ihn gleich morgen früh um acht abzuholen und mit ihm ins Krankenhaus zu gehen. Dann musste sie sich wieder ihrer Versammlung widmen.
Kappe kam zurück in seine Wohnung. Die Öfen standen genauso da, wie er sie heute Morgen verlassen hatte. Die Ofenklappen waren offen, die Briketts nutzlos zu Aschekrümeln verbrannt. Auf dem Küchentisch standen zwei benutzte Kaffeetassen. Kappe schien es, als wäre dieser Morgen ein ganzes Jahrhundert her. Er legte sich in sein feuchtkaltes Bett und schlief einen faden Schlaf.
Nur wenige Kilometer entfernt saßen drei Männer vor einem Kaminfeuer. Der Hass und die Verachtung, mit denen sie über den vergangenen Tag sprachen, füllten den Raum wie ein giftiges Gas. Während sie auf einen vierten warteten, heckten sie einen teuflischen Plan aus. Der Plan war perfekt.
«Und wenn er nicht mitmachen will?», fragte einer der drei. Der Mann, der neben ihm saß, nahm den Schürhaken und schürte das Feuer. «Dann machen wir es ohne ihn», sagte er. An seinem Gesichtsausdruck war abzulesen, dass dies ein Todesurteil bedeutete. Ein weiteres Todesurteil.
Das Feuer loderte auf und tauchte die drei in glühendes Licht.
Sonntag, 10. November1918
DER BAU DES ZIRKUS BUSCH wölbte sich in die herabsinkende Dämmerung. Es sah aus, als würde diese die bunten Farben, in denen das Gebäude gestrichen war, seine Türmchen und Dächlein, die dem Rundbau der Manege vorgelagert waren, wegsaugen und nichts als trübes Grau hinterlassen. Auf dem spitzen Giebel des Hauptportals breitete der Metalladler seine schwarzen Flügel aus und starrte reglos auf die Menschenmassen, die sich unter ihm durch den Eingang schoben. Kappe fühlte sich klein und hilflos. Margarete wurde abgedrängt und stolperte. Sie wäre von den Nachfolgenden niedergetrampelt worden, wenn nicht Trampe und ein Postkartenhändler im abgeschabten Anzug ihr aufgeholfen hätten. Der Mann trug ein Drahtgestell vor dem Bauch, in dem Postkarten mit verschiedenen Motiven steckten.
«Danke, Genossen!» Margarete lächelte.
Der Postkartenhändler lächelte zurück. «Revolutionspostkarte, die Dame?», fragte er. «Glänzendes Souvenir, das. Nur 25 Pfennig.» Margarete kaufte ihm eine Karte ab. Dann wurde der Mann auch schon weitergestoßen und verschwand in der drängenden Masse, einem Meer aus fadenscheinigen Mänteln, zerschlissenen Anzugjacken und geflickten Uniformen. Fast alle trugen eine rote Armbinde.
Margarete zeigte ihre Postkarte: Vor dem Brandenburger Tor stand ein offener Mannschaftswagen, auf dem grinsende Soldaten eine Fahne schwenkten. Zivilisten standen um sie herum und bestaunten sie. Eine krakelige Aufschrift erklärte: Die Freiheitsbewegung in Berlin. Straßenszene am 9. November 1918. «Die bring ich Klara mit», sagte Margarete.
«Dass die heute schon auf dem Markt sind! Das war doch erst gestern.» Trampe staunte.
Kappe, dem der Schreck des vorangegangenen Morgens noch in den Knochen steckte, fragte sich, wie Margarete und Trampe inmitten dieser dicht an dicht drängenden und schiebenden Menschen, deren Geruch nach billigen Buchenlaubzigaretten, Hunger, Schweiß und Aufregung ihm plötzlich so intensiv vorkam, dass er sofort an Klaras geschärften Geruchssinn denken musste, so entspannt sein konnten. Das Alte war zerstört, und es war unsicher, was jetzt kommen sollte. Kappe, der nun sogar das brackige Wasser der nur wenige Meter entfernt fließenden Spree zu riechen glaubte, machte sich Sorgen um die Zukunft. Vor allem aber machte er sich Sorgen um Klara.
Am Morgen war er mit Margarete ins Krankenhaus gegangen. Schwester Hedwig hatte ihnen beiden mit müdem Blick die Diagnose verkündet. Klara hatte eine Schwangerschaftsvergiftung. Sie würde im Krankenhaus bleiben und dort auch entbinden müssen. Die Schwester hatte die beiden in das Krankenzimmer geführt, in dem noch elf andere Frauen lagen. Klara war ein Häufchen Elend. Sie wollte nicht im Krankenhaus bleiben. Aber sie war zu schwach, um sich durchzusetzen. Blass und klein hatte sie in ihrem Krankenhausbett gelegen. Kappe war sie vorgekommen wie eine rätselhaft aufgeschwollene Puppe. Während er vor Sorge und Nervosität ganz stumm gewesen war, hatte Margarete geplappert wie ein Wasserfall. Es war ihr tatsächlich gelungen, ein kleines Lächeln auf Klaras Gesicht zu zaubern. Kappe war ihr in diesem Moment unglaublich dankbar gewesen. Dann war Klara eingeschlafen, und Schwester Hedwig hatte sie aus dem Zimmer geholt. Kappe, der dienstfrei hatte, war nichts anderes übriggeblieben, als nach Hause zu gehen. Ins Büro, wo er wahrscheinlich auf Galgenberg getroffen wäre, hätten ihn keine zehn Pferde gebracht. Margarete hatte noch zu einer Sitzung gemusst und sich verabschiedet.
Kappe hatte schlechtgelaunt in der ungeheizten Wohnung gesessen, an Klara und das Kind gedacht. Er hatte sich Vorwürfe gemacht, sich zu viel um sein eigenes Wohlergehen gesorgt zu haben, wenn er, statt auf den Schleichhandel zu gehen, um Lebensmittel und Kohle zu erstehen, Klara vertröstet hatte. Seine Angst, als Beamter von den Kollegen des Kriegswucheramtes erwischt zu werden, war zu groß gewesen. Sogar wenn Klara selbst losgezogen war, hatte er ihr Vorhaltungen gemacht. Sein schlechtes Gewissen war wie ein übelwollender Verwandter, der ihm alle seine kleinen und großen Verfehlungen ins Ohr zischte. Er war sich lächerlich und kleinlich vorgekommen. Gerade als er sich in Selbstvorwürfen zu verlieren drohte, hatten Margarete und Trampe geklingelt und ihn mit fürsorglicher Gewalt gezwungen, sie zum Zirkus Busch zu begleiten, wo der Rat der Volksbeauftragten gewählt werden sollte. Beide trugen rote Armbinden, auf denen das Wort Arbeiterrat aufgedruckt war.
Die Sonne schien, und Kappe war mit ihnen durch ein brodelndes Kreuzberg bis zum Bahnhof Jannowitzbrücke gelaufen, die Straßen vollgestopft mit Arbeitern, die ebenfalls zum Zirkus Busch wollten. Die drei hatten sich in die S-Bahn gesetzt und waren bis zum Bahnhof Börse gefahren. In der S-Bahn hatte Margarete mit Trampe Streit darüber angefangen, dass die Mehrheitssozialisten die Revolution im Keim ersticken wollten. Kappe hatte fast den Eindruck, dass sie das absichtlich tat, um ihn abzulenken.
«Kein Bruderkampf», hatte sie verächtlich gesagt. «Als ob es darum ginge. Euer Ebert will doch nur das alte Reich mit neuem Etikett. Ich wette, der hätte am liebsten noch den Kaiser zurückgeholt.»
Trampe hatte wütend etwas vom Bolschewismus gezischt.
«Aber davon redet doch niemand. Die meisten Arbeiterräte sind doch von euch!» Margarete wandte sich an Kappe. «Kappe, wie siehst du die Sache?»
Kappe war froh, dass der Zug in diesem Moment in den Bahnhof Börse einfuhr und er um eine Antwort herumkam. Er hatte das Gefühl, zwischen allen Stühlen zu sitzen, und hoffte, nach der Veranstaltung im Zirkus Busch klarer zu sehen. «Ich denke, ich muss mir erst mal anhören, was die da drinnen zu sagen haben.»
«Aber du musst doch eine Meinung haben.» Margarete schaute Kappe herausfordernd an.
«Lass mal gut sein, Margarete. Der Mann hat gerade andere Sorgen.» Trampe legte seinen Arm um Kappes Schulter.
Margarete ließ nicht locker. «Trotzdem ist das wichtig. Er muss doch wissen, in welcher Welt sein Kind aufwachsen soll.»
«Wenn ich’s weiß, sag ich’s dir.»
Margarete lächelte. «Ich werd dich dran erinnern.» Trampe schüttelte den Kopf. «Frauen.»
«Na, du kennst doch Margarete. Es wäre unheimlich, wenn sie mich nicht dran erinnert», sagte Kappe.
Margarete lachte. Er sah ihr in die Augen. Und als ihr bernsteinfarbener Blick ihn traf, hielt er für einen winzigen Moment die Luft an. Im selben Augenblick wurden sie in den Strom von Arbeitern und Soldaten gesogen, der unablässig zum Zirkus Busch floss. Als sie schließlich durch die Eingangstür hindurchgedrückt wurden, kreisten Kappes Gedanken schon wieder um Klara und das Kind. Sie schoben sich am Restaurant und der Konditorei vorbei. Der Mann neben Kappe, ein Soldat in einer Uniform, bei der der linke Ärmel bis zur Schulter leer und mit einer rostigen Sicherheitsnadel im Rücken festgesteckt war, löschte seine Pfeife. Andere zogen das letzte Mal tief an ihren Zigaretten, bevor sie sie ausdrückten. Qualmwolken hingen in der Luft. Der Lagerfeuergeruch der Buchenlaubzigaretten holte Kappe aus seinen Gedanken.
«Großartige Erfindung unserer Obersten Heeresleitung», sagte er zu Trampe.
Trampe nickte. «Die Soldaten haben sie im Feld massakriert, und die Armen mit ihrer Ersatzware. Aber das ist ja jetzt glücklicherweise vorbei.»
«Aber nur, wenn wir jetzt alles richtig machen. Ich trau eben diesem Ebert nicht», sagte Margarete.
Trampe verzog das Gesicht. «Aber ihr mit eurem Liebknecht.»
Kappe befürchtete, zwischen beiden schlichten zu müssen, sah aber, dass Margarete und Trampe plötzlich wie angewurzelt stehen blieben. Das gewaltige Rund der Zirkusarena öffnete sich, die Sitzreihen steil aufragend wie eine Schlucht, Menschen dicht an dicht, die unteren Ränge feldgrau von Soldaten und auf den oberen die Arbeiter. Ein Gewirr aus Tausenden von Stimmen fing sich an der Zirkuskuppel. Die Atmosphäre war elektrisch.
«Dass es so viele sind!» Margarete standen Tränen in den Augen.
«Ganz, ganz groß», sagte Trampe ehrfürchtig.
Auch Kappe war beeindruckt. «Unglaubliche Organisation!»
«Ham sie hier Jepäck zu stehen, oder warum jehtet ni’ weiter?», quengelte eine Frau hinter ihnen.
«Weiter, Genossen! Nicht gleich im Eingang der Revolution stehen bleiben», rief ein Mann. Irgendwer schubste Kappe. Die drei wurden unerbittlich die Treppen zu den oberen Rängen hochgeschoben. Im Gewühl entdeckte Margarete eine Kollegin. Die Frau winkte und begann sofort, ihre Sitznachbarn umzusortieren und zusammenrücken zu lassen, damit Margarete und ihre beiden Begleiter sich neben sie setzen konnten. Kappe und Trampe folgten Margarete, stiegen über Beine, drückten sich an den Sitzenden vorbei und quetschten sich neben die Frau. Sie war klein und rundlich. Kappe fielen ihr sehr roter Mund und ihre gesunde Gesichtsfarbe auf. Er wunderte sich, wie frisch sie im Gegensatz zu ihnen allen aussah.
«Darf ich euch vorstellen: Luise Görtz, Beauftragte von Wertheim. Luise hat übrigens auch mal bei Hertzog gearbeitet. Luise, das sind meine Freunde Hermann Kappe und Theodor Trampe.» Kappe schüttelte Luises Hand.
«Kappe? Sind Sie nicht der, der damals unse’ Klara jeheiratet hat? Wat waren Sie noch mal? Kriminaler?»
Kappe nickte.
«Schöne Freunde hast du. Fehlt nur noch, dass dein Trampe Mehrheitssozialist ist.» Luise griff nach Trampes Hand.
Nach der ersten Schrecksekunde fing Trampe an zu lachen.
«Kein Wunder, dass Margarete und Sie befreundet sind!»
«Sei vorsichtig, was du sagst, Trampe», sagte Margarete.
«Hast recht, Luise. Ist zwar nicht mein Trampe, aber Mehrheitssozialist ist er trotzdem.»
«Und Arbeiterrat bei DeTeWe.» Trampe war hörbar stolz.
«Na, ick sage immer, jeder nach seiner Fasson. Mensch, kiekt ma, da vorne geht’s gleich los!»
Kappe sah in die Manege, wo ein Podium und Tische aufgebaut waren, an denen mehrere Männer in Anzügen saßen. Kappe glaubte, Ebert, Liebknecht und Barth zu erkennen. Einige der Männer waren in Gespräche vertieft, andere wandten sich den Rücken zu. Einer trat ans Podium und schlug eine Glocke an. Und obwohl Kappe den Glockenschlag kaum hören konnte, erstarb wie auf Kommando jegliches Geräusch. Kappe sah sich um. Die Ränge waren schwarz von Menschen. Alle Blicke waren gebannt auf das Podium gerichtet. Luise starrte durch ein Opernglas nach vorne. Nach ein paar scheinbar einleitenden Worten gab der Mann das Podium für einen anderen frei. Luise stieß Kappe in die Seite und drückte ihm das Opernglas in die Hand. Ihr Mund formte das Wort «Ebert». Kappe schaute durch das Glas, und sein Blick verfing sich zunächst in den Reihen der Soldaten, die so diszipliniert dasaßen, als wären sie gefroren. Sein Blick tastete sich weiter zum Podium. Im Opernglas erschien ein dunkelhaariger vierschrötiger Mann, dessen Kopf fast halslos auf dem tonnenförmigen Oberkörper aufsaß. Das Gesicht beherrschte ein dunkler Schnurrbart, ergänzt durch einen Kinnbart in der Form eines Kommas. Ebert sah genauso aus, wie Kappe ihn von den Zeitungsphotos her kannte. Seine Körpersprache war behäbig. Kappe konnte die Worte «Einigung der sozialistischen Parteien» von seinen Lippen lesen. Er setzte das Opernglas ab und sah, dass Trampe sich, das Gesicht vor Konzentration verzogen, die Hände an die Ohren hielt, um besser zu hören. Kappe gab das Opernglas an ihn weiter.
Ebert redete noch eine ganze Weile. Plötzlich brandete in den unteren Rängen Applaus auf. Die Rede war beendet. Der Applaus pflanzte sich fort bis in die letzten Ränge. Ein anderer Mann erklomm das Podium. Kappe erkannte das schmale Gesicht mit dem gewaltigen Schnurrbart. Es war Haase, der Vorsitzende der Unabhängigen. Nun teilten sich Margarete und Luise das Opernglas. Beide waren angespannt, und diejenige, die hindurchsah, erklärte der anderen, was sich in der Manege abspielte. Obwohl die Akustik im Zirkus eigentlich gut war, waren die Stimmen zu schwach, um bis in alle Ränge zu dringen. Kappe konnte wie die meisten anderen weder die Reden verstehen noch genau sehen, was passierte. Seine Blicke wanderten über die gefüllten Ränge bis hin zur Kaiserloge. Die roten Samtvorhänge waren zugezogen. «Für dich ist die Vorstellung ein für alle Mal vorbei», dachte Kappe wütend. «Du gehst einfach nach Holland, und wir müssen sehen, wie wir aus dem Kladderadatsch wieder rauskommen.»
Vor anderthalb Jahren war er mit Klara hier gewesen, als die Pantomime Die versunkene Stadt uraufgeführt worden war. Hungrig und frierend waren sie durch den Schneematsch gestapft, und die fahle Februarsonne war ihnen genau so ausgelaugt vorgekommen wie sie selbst. Im Zirkus war es warm vor Menschen gewesen. Die beiden hatten das erste Mal seit Wochen nicht gefroren. Klara hatte aufgeregt Ausschau nach dem Kaiser gehalten, doch schon damals war die Loge leer gewesen. Aber auch ohne Kaiser war der Besuch ein Erlebnis gewesen. Klara und er hatten die kunstvoll aufgebaute Stadt Vineta, die Artisten und die dressierten Tiere bestaunt, die die Bewohner der Stadt darstellten, und waren überwältigt, als sintflutartige Wassermassen die Stadt samt Mann und Maus versenkten - Kappe las Klara später aus dem Programmheft vor, dass das künstliche Vineta in satten 30 000 Litern Spreewasser untergegangen war. Kappe musste lächeln, als er an Klara dachte. Sie hatte fast vergessen zu atmen. Als die Artisten nach einigen Augenblicken nicht auftauchten, hatte Kappe seine Taschenuhr herausholen müssen, und beide hatten mit ungläubigem Staunen gesehen, wie ganze sechs Minuten vergingen, bis Stadt, Menschen und Tiere wohlbe halten und unter dem Strahlen einer mächtigen Scheinwerfersonne wiederauftauchten - gerettet von der Wassernixe Elna, die dafür ihr Herz in die Flut geworfen hatte. Kappe und Klara hatten noch oft gemeinsam darüber gerätselt, wie Menschen und Tiere sechs Minuten lang unter Wasser bleiben konnten. Und obwohl Kappe das Stück mit seinem zuckrigen Symbolgehalt ziemlich aufdringlich fand, hatte er sich doch glänzend amüsiert.
Kappe schüttelte unbewusst den Kopf. Tatsächlich war er in den letzten Tagen Zeuge einer Art Wiederauferstehung geworden. Aber die hatte nichts mit einer guten Fee zu tun, die ihr Herz geopfert hatte. Im Gegenteil. Diese Wiederauferstehung war das Ergebnis von Kriegstreiberei und nationaler Überschätzung, die im Ruin geendet hatte. Und selbst wenn jetzt alles neu und besser wurde, fühlte sich Kappe doch wie jemand, der niedergeschlagen worden war und dem nichts anderes übrigblieb, als aufzustehen und weiterzulaufen.
Das Scheppern der Glocke riss ihn aus seinen Gedanken. Kappe schreckte hoch. Einer der Politiker hatte sie einem anderen ins Kreuz geschlagen, um ihn am Reden zu hindern. Die Zuschauer schrien durcheinander. «Einigkeit! Einigkeit!», brüllten die Soldaten in Sprechchören. Dann stürmten sie nach vorne, und die Manege verwandelte sich in ein Meer von grauen Uniformen. Schlägereien brachen los. Das Wort «Militärherrschaft» wurde durch die Reihen geraunt. Die Gesichter auf den Rängen waren ratlos, schockiert, hilflos. Kappe sah zu Trampe und Margarete, die heftig mit Luise und den anderen Sitznachbarn diskutierten. Die Glocke erklang noch einmal. Die Kontrahenten in der Manege ließen voneinander ab und zogen sich zu aufgeregten Beratungen zurück.
Dietrich Mazurat beobachtete das Durcheinander in der Manege und stieß verächtlich die Luft durch die Nase. Nichts anderes hatte er von dem Pöbel erwartet. Die fiebrigen, hilflosen Diskussionen um ihn herum - nichts als elende Naivität. Mazurat betrachtete die Diskutierenden. Rohe Gesichter, eingebrannter Schmutz, Elend. Mazurat hasste die Art von Menschen, die er hier sah. Dummes Volk, von gleichmacherischen Theorien aufgehetzt und verblödet. Trotzdem war er froh, dass er hierhergekommen war. Gestern, als ganz Berlin auf den Beinen gewesen war und Revolution gemacht hatte, war er in den Tempelhofer UFA-Studios gewesen, hatte gearbeitet und von alldem nichts mitbekommen. Das hatte ihn geärgert, denn er liebte es, informiert zu sein. Heute war er wie ein hungriges Tier auf der Jagd hierhergekommen. Er hatte drehfrei. Sogar seine Angst vor der Grippe hatte er niedergekämpft.
Mazurat strich sich mit seinen manikürten Händen die Haare glatt. Für ihn war der Zirkus Busch mit seinen tobenden, schreienden und diskutierenden Menschen ein mit menschlichen Forschungsobjekten prall gefülltes Bestiarium. Ganz nebenbei hielt er Ausschau nach bekannten Gesichtern. Man wusste nie, wozu man so eine Information brauchen konnte. Mazurat sah niemanden, den er kannte, beobachtete aber trotzdem alles, gleichzeitig fasziniert und abgestoßen. Er sammelte Gesichter, Kleider, Gesten. Knollennasen, Hängenasen, Spitznasen, wulstige Lippen, Tränensäcke - er saugte die Physiognomien in sich auf: den gedrungenen, blassen Blonden schräg vor ihm mit dem Schnauzbart und den wässrigblauen Augen, der aus jeder Pore Niedergeschlagenheit auszuschwitzen schien. Der Blonde diskutierte mit einer Bernsteinaugenschönheit, die jederzeit Schauspielerin hätte werden können, wenn sie nicht diese Ausstrahlung von kompromissloser Rechtschaffenheit gehabt hätte. Langweilig. Der Blonde sah wie ein Polizist aus. Mazurat fragte sich, was er hier wollte. Er beobachtete die kleine Verblühte neben der Schönen, deren dickliche Kinnpartie bereits zu hängen begann, was auch durch die pfundweise aufgetragene Schminke nicht kaschiert wurde. Wahrscheinlich war sie Verkäuferin. Oder der Mann, der neben ihm saß: ein kahlköpfiger Riese mit stumpfer Haut und schlechten Zähnen, der mit offenem Mund gebannt auf das Geschehen in der Manege starrte. Mazurat fand, dass er aussah wie ein Kind, das sich in einen Erwachsenenkörper verirrt hatte. Um den Ärmel seines kümmerlich geflickten Jacketts trug er die rote Armbinde. Die Ärmel waren notdürftig verlängert.
Der Kindriese drehte sich zu ihm um. «Janz schönet Durcheinanda, wa?» Mazurat nickte kurz und schaute dann demonstrativ in die andere Richtung. Aber der Kindriese ließ sich nicht abschütteln. «Für wen bist du hier, Jenosse?»
Mazurat schien es besser, dem Mann etwas vorzulügen. «Für die Filmkünstler.»
«Solidarität von die Künstler.» Er stand ergriffen auf und nahm Mazurats Hand. «Nie hätt icks jedacht, aba dit janze Volk steht zusammen.» Meyer pumpte Mazurats Hand. Dabei schob sich sein Ärmel weit über das Handgelenk zurück und gab einen schmutzigen Unterarm frei. «Jestatten, Paul Meyer, Borsigwerke.» Mazurat hatte das Gefühl, dass die Schwielen und der Dreck an der Hand des Mannes sich in seine Handflächen einbrannten. Hass flammte in ihm auf. Er atmete tief durch. «Da unten spielt die Musik.» Mit einem Blick auf die Manege bedeutete er Meyer, still zu sein.
Meyer sah ihn schuldbewusst an. «Recht haste. Dafür sind wa ja ooch hier, oder?» Er setzte sich und sah folgsam in Richtung Manege. Mazurat nickte. Die Soldaten hatten sich inzwischen wieder auf die Ränge verzogen. Nur Einzelne von ihnen diskutierten noch in Grüppchen mit den Politikern. Die meisten Politiker saßen bereits wieder an den Tischen. Schließlich kehrten alle wieder an ihre Plätze zurück. Im Saal wurde es ruhig.
Der Mann, der den anderen vorhin mit der Glocke angegriffen hatte, verkündete irgendetwas. Außer den unteren Rängen konnte auch jetzt niemand etwas verstehen. Die Neuigkeiten brauchten eine Zeit, um sich in einer Art Flüsterpropaganda durch die Ränge zu arbeiten. Schließlich raunte ihm Meyer etwas von einem Vollzugsrat der Arbeiter- und Soldatenräte zu und dass die Reichsregierung bestätigt sei und nun «Rat der Volksbeauftragten» heiße. Mazurat war das alles völlig egal. Dieser Blödsinn würde am nächsten Tag sowieso in den Zeitungen stehen. Er würde ihn nicht einmal zu Geld machen können. Er roch Meyers sauren Atem. Es widerte ihn an. Als alle im Saal aufstanden, um die Internationale zu singen, drängte er sich in Richtung Ausgang. Er durchquerte die Eingangshalle, die unter den fast dreitausend Stimmen vibrierte, und ging hinaus. Die Flügeltüren schlugen hinter ihm zu und kappten den Gesang. Das Schwappen von Wasser war zu hören - die Spree. Eine S-Bahn quietschte. Mazurat hielt im Lichtkegel der Eingangsbeleuchtung inne und schaute in das Schwarz, das die Stadt war. Dann betrachtete er im wächsernen Licht der Lampe etwas, das er in seiner Hand hielt. Es war ein Skalpell. Und die Armbinde, die er Meyer unbemerkt vom Arm geschnitten hatte. Er steckte sein Skalpell und das rote Stück Stoff in die Brusttasche seines maßgeschneiderten Anzuges. Dann strich er sein Haar nach hinten, setzte seinen Hut auf und verschwand in der Dunkelheit. Wind kam auf.