Kitabı oku: «Dachschaden», sayfa 3
Die Gier nach Operationen
„Die Neurochirurgie ist ein Mikrokosmos“, hat einer der Oberärzte einmal gesagt, „hier sind Leute, die woanders niemals existieren könnten.“ Er hatte absolut recht. Die Neurochirurgie erinnert an den Knast. Die Ärzte definieren sich rein über die Neurochirurgie und über ihre Position innerhalb der Anstalt. Sie ähneln langjährigen Haftinsassen, die im Knast eine gewisse Position erreicht haben, aber außerhalb der schwedischen Gardinen komplett scheitern. Versuchen Sie niemals, einem typischen Neurochirurgen etwas von Ihrem letzten Urlaub an der Cote d’Azur, von einem Rockkonzert, das Sie besucht haben, oder womöglich sogar von einem Ihrer Kinder zu erzählen. Er würde völlig verstört weglaufen. Denn das ist die Welt außerhalb der „Gefängnisanstalt“, in der Neurochirurgen nichts sind.
Daher verbringen Neurochirurgen auch sehr gerne einen Großteil ihrer Freizeit an der Klinik. Denn hier sind sie jemand, hier haben sie eine definierte Position. Aber das hat auch noch ganz andere Gründe. Sie haben eine ständige, und durchaus nicht unbegründete Sorge, jemand könnte ihre Patienten wegoperieren, während sie gerade nicht da sind. Es kommt immer wieder vor, dass zum Beispiel am Wochenende von den diensthabenden Ärzten vorgetäuscht wird, ein Patient habe sich neurologisch verschlechtert. Was bedeuten kann, seine Sprachstörung ist schlechter geworden, oder eine Lähmung ist schlechter geworden, oder eine Sensibilitätsstörung hat zugenommen. Wie ausgeprägt das neurologische Defizit vorher wirklich war und um wie viel es sich verschlechtert hat, ist dann im Nachhinein schwer zu rekonstruieren. Auf jeden Fall ist es ein guter Grund, eine Operation vorzuziehen, also zum Beispiel eine für Montag schon am Wochenende durchzuführen. Der geplante Operateur schaut dann natürlich am Montag in der Früh dumm aus der Wäsche, wenn ein anderer ihm den schönen Fall weggeschnappt hat. Und wenn der Tumor einmal heraußen ist, ist es zu spät. Pech gehabt, c’est la vie. Ein gehässiges Grinsen in der Morgenbesprechung am Montag können die Kollegen dann nur mit größter Mühe zurückhalten.
Das ganze System ist geprägt von einer irren Gier nach den richtig spannenden Operationen. Das große Problem der Neurochirurgen besteht ja darin, dass nur 0,1 Prozent der Menschen einen Gehirntumor entwickeln. Wenn sie die Quote nach oben verändern könnten, wodurch auch immer, dann würden sie es garantiert tun.
Doch so müssen die Neurochirurgen um ihre Fälle kämpfen. Wenn in der Früh die Patienten in der Ambulanz warten, dann reservieren sie sich schon mal die spannendsten Fälle, wenn sie die Befugnis dazu haben. Denn keiner hat Lust auf den hundertsten Bandscheibenvorfall. Bandscheibenoperationen sind nämlich eigentlich das tägliche Brot für Neurochirurgen. Die Patienten haben infolge ihrer Bandscheibenprobleme neurologische Symptome, die in Arme und Beine ausstrahlen, sie haben Sensibilitätsstörungen und manchmal auch Lähmungserscheinungen. Aber Bandscheiben-OPs sind absolut nicht spannend. Und keiner will einen Patienten noch einmal aufschneiden, an dem schon ein Kollege herumgemacht und ihn womöglich verpfuscht hat.
Besonders beliebt ist hingegen zum Beispiel das kleine Akustikusneurinom. Das ist ein gutartiger Tumor, der vom Gehörnerv ausgeht. Behandelt gehört er, obwohl er gutartig ist, weil er sonst langsam weiterwächst und Schwierigkeiten machen kann, wenn er zu groß wird. Solange das Akustikusneurinom klein ist, reicht eine einmalige Bestrahlung im sogenannten Gammaknife. Die Patienten werden dazu einen Tag vorher aufgenommen und gehen am nächsten Tag nach der Bestrahlung nachhause. Das ist natürlich hundertmal angenehmer für sie. Und wer läßt sich schon gerne freiwillig die Birne aufschneiden?
„You will never be the same, when the air hits your brain”, hat schon Vertosick geschrieben. Eine Operation ist natürlich immer viel riskanter, in diesem Fall auch aufgrund der Nähe des Tumors zum Gesichtsnerv. Denn das Problem besteht darin, dass genau dort auch der Nervus facialis verläuft, der für die Muskeln und die Sensibilität des Gesichts zuständig ist.
Ich war wegen ungehörigen Betragens wieder einmal in die Ambulanz strafversetzt worden und sah dort einen Patienten mit einem weniger als ein Zentimeter kleinen Akustikusneurinom. Da es so eindeutig ein Fall für das Gamma Knife war, schickte ich den Patienten gleich an die richtige Stelle, wo er auch sofort für eine Bestrahlung vorgemerkt wurde.
Na, grüß Gott, wie die mich am nächsten Tag in der Morgenbesprechung hinrichteten, das können Sie nur erahnen. Die Erschießungskommandos der französischen Revolution waren dagegen eine Kindergartengruppe. Denn einen Patienten, der eine wunderschöne Operation versprechen könnte, gleich zur Bestrahlung zu schicken, das ist Hochverrat an der Neurochirurgie. Obwohl es die richtige Therapie war und jeder Neurochirurg, der selbst so einen Tumor hat, sich natürlich im Gamma Knife und nirgendwo anders behandeln lassen würde.
Die Assistenten wurden seither angehalten, alle Akustikusneurinome den Oberärzten zuzuteilen. Die können sich dann selbst überlegen, ob sie den Patienten gut beraten oder ihre Operationsliste ordentlich auffetten wollen.
Einmal arbeitete ich an einer anderen Abteilung mit einem Oberarzt zusammen, der so gut wie nur auf die Operation von zwei Handnerven, den Nervus medianus und den Nervus ulnaris spezialisiert war. Das bedeutete unter dem Strich, dass er sein bisheriges Berufsleben lang kaum einen Schädel von innen gesehen und vor allem die Tennisarme überarbeiteter Sekretärinnen operiert hatte. Das allein wäre noch kein Problem gewesen. Doch er wurde Chef der Abteilung, und da sind bei ihm dann anscheinend alle Sicherungen durchgeknallt. Denn obwohl er diesen Eingriff bisher nur assistiert und nie selbständig durchgeführt hatte, krallte er sich gleich das nächstbeste Akustikusneurinom. Als Leiter der Abteilung stand ihm ja nun alles zu, dachte er sich.
Erst hinterher, als die Katastrophe schon geschehen und nicht mehr gut zu machen war, stellte sich heraus, wie er es angegangen war. Was war genau passiert? So wie wir uns heute auf youtube ansehen, wie man zum Beispiel ein Türschloss tauscht oder einen Bilderrahmen vergoldet, hatte er sich einfach die Operation auf einem Video angeschaut. Er hatte sich aus dem Büro eines erfahrenen Kollegen eine Videokassette mit einem Mitschnitt genau der gleichen Operation besorgt. In seiner Hybris hatte er offenbar gemeint, dass dies eine jahrelange Ausbildung, dutzende Assistenzen bei vergleichbaren Operationen, ein paar erste Versuche mit Anweisung eines Experten und die jahrelange Lektüre von Fallbeispielen locker ersetzen würde. Noch dazu war er so bescheuert, dass er das Video nicht ordentlich dorthin zurückstellte, woher er es genommen hatte. Es lag noch am nächsten Tag für alle sichtbar auf dem Tisch der Morgenbesprechung. Die Gier nach einer spannenden Operation hatte wieder einmal über jegliche Vernunft gesiegt. Daher wusste dann auch innerhalb unserer Abteilung jeder, worin seine einzige Vorbereitung auf die schwierige Operation eines Akustikusneurinoms bestanden hatte
Der Arzt entfernte das Akustikusneurinom perfekt, doch er nahm den Gesichtsnerv gleich mit heraus. Das Ergebnis war natürlich ein Desaster. Der rechte Mundwinkel der jungen Frau hing von da an. Sie konnte mit dieser Seite nicht mehr lächeln und reden. Ihr Speichel rann aus dem Mundwinkel, und das Essen fiel ihr aus dem Mund. Das rechte Augenlid schloss sich nicht mehr, doch dafür bewegte sich das rechte Auge noch mit dem linken mit und verdrehte sich gespenstisch nach oben, wenn sich das linke Lid schloss. Sie hätte die Hauptrolle in der „Addams Family” spielen können, es war einfach nur furchtbar. Sie war für den Rest ihres Lebens schlimm entstellt.
Ich verfolgte den Fall mit, weil ich damals noch neu war und nicht glauben konnte, was geschah. Ich bekam mit, dass die Frau in psychische Probleme schlitterte und sich deshalb behandeln lassen musste. Ihre Ehe ging kaputt und sie begann zu saufen. Kein Wunder. Die Menschen reagierten bei ihrem Anblick mit Entsetzen. Sie kam daher wie ein böses Omen, und dass sie einmal hübsch gewesen war, änderte nicht das Geringste daran. Sie war dermaßen entstellt, dass sie sich selbst nicht mehr im nüchternen Zustand ansehen wollte.
Wenn sie in die Ambulanz zur Nachkontrolle kam, verzog sich der Chefarzt natürlich, und einer der Assistenzärzte musste sie anlügen und irgendeinen Mist darüber erzählen, dass der Nerv eventuell noch beleidigt sei und sich wieder erholen würde. Schließlich hieß es dann: „Sie brauchen zu keiner Kontrolle mehr kommen, nur wenn sich etwas verschlechtert”, was so viel bedeutet wie: „Schleich dich, wir wollen uns an deine Komplikation nicht mehr erinnern!”
Zuerst wunderte ich mich, dass sie nicht klagte. Nach dem Lege artis der neurochirurgischen Medizin wäre das ein Fall gewesen, mit dem sie vor Gericht durchaus eine Chance gehabt hätte. Sie hätte das Krankenhaus verklagen können, was für den behandelnden Arzt keine Folgen gehabt hätte. Sie hätte sich dreißigtausend bis vierzigtausend Euro Schadensatz holen können, immer noch eine vergleichsweise lächerliche Summe, aber sie hätte zumindest einen Psychologen davon bezahlen können.
Doch dafür hätte der Fehler im Operationsbericht stehen müssen. Tat er aber nicht. Niemand klärte die Frau je darüber auf, was bei ihrer Operation passiert war. Niemand stellte ihr je die Diagnose, dass sie die rechte Gesichtshälfte nie wieder bewegen und spüren können würde.
Wie es wirklich um sie stand, sollte sie mit der Zeit selbst herausfinden. Das nahm Druck von dem Arzt, der ihren Zustand zu verantworten hatte. Im besten Fall hatte sie am Schluss das Gefühl, dass es Schicksal war. Was für sie auch noch besser war, als das Wissen, von einem größenwahnsinnigen Spezialisten für periphere Nerven verpfuscht worden zu sein.
An einer anderen Abteilung gab es einen kleinen, fetten Neurochirurgen, der spezialisiert war auf Schmerzpatienten, das heißt auf den Einbau von Schmerzpumpen unter die Haut. Die anderen beiden Oberärzte operierten an dieser Abteilung gemeinsam mit dem Chefarzt die größeren Sachen, die Tumore und Aneurysmen. Der kleine, fette Blonde war ein widerlicher Typ. Er hatte nur zwei unterschiedliche weiße T-Shirts mit lächerlichen Aufdrucken, und die trug er tagelang. Seine Klinikschuhe mussten sicher zwanzig Jahre alt sein, so abgefuckt sahen die aus. Und jede fucking Faser dieser Schuhe musste mit Schweiß getränkt sein, denn diese Schuhe stanken unbeschreiblich. Das ganze Ambulanzzimmer, in dem er sich befand, war unzumutbar. War er nicht da, gingen die anderen Ärzte mit den Patienten eher in das fensterlose Zimmer, als sich in sein Zimmer zu setzen. Die Patienten hätten ja sonst geglaubt, der Arzt, mit dem sie gerade sprachen, würde so stinken.
Bei einem Chefarztwechsel gingen auch die beiden anderen Oberärzte weg, und der picklige Widerling war plötzlich stellvertretender Chefarzt. Wäre ja fast die Geschichte von Aschenputtel, das immer im Hintergrund war und plötzlich im Rampenlicht steht, aber sorry, dieser Typ war von der Konstitution her höchstens Quasimodo.
Kurz nachdem er also Kronprinz geworden war, kam eine etwa achtzigjährige Frau mit einem großen, langsam wachsenden Tumor an unsere Ambulanz. Sie war beim Hühnerfüttern ausgerutscht, und bei Verdacht auf Gehirnerschütterung wurde zur Sicherheit ein CT gemacht. Da sah man dann den Tumor. Sie hatte absolut keine Beschwerden durch den Tumor, es war also ein reiner Zufallsbefund.
Ich kann mich noch sehr gut an die Patientin erinnern, sie war eine richtig nette Omi, ein freundlicher Mensch mit viel Lebenserfahrung, einem guten Herzen und freundlichen Augen im faltigen Gesicht. Eine Großmutter, wie man sie sich wünscht. So eine, die uns, auch wenn wir längst dem Kindesalter entwachsen ist, am Sonntag immer noch einen Apfelstrudel mit warmer Vanillesauce macht.
Ein ehrlicher Art hätte ihr angesichts ihrer Diagnose gesagt: „Sie sind achtzig und haben den Tumor seit zwanzig oder fünfundzwanzig Jahren. Wir kontrollieren ihn halbjährlich und schauen, wie schnell er weiterwächst. Eine Operation birgt unkalkulierbare Risiken. Tun Sie sich das nicht an. Genießen Sie Ihr Leben, operieren können wir dann notfalls noch immer.“
Doch so läuft das nicht. Denn der Schmerzpumpenspezialist, der frisch gebackene Shootingstar war ja jetzt stellvertretender Chefarzt und komplett hypertrophiert. Nur kurz zur Erklärung, Hypertrophie ist der Zustand, wenn eine normalgroße Zelle sich aufbläst und vergrößert. Die Zellstruktur bleibt aber gleich. Deshalb verwenden wir das Wort oft für Wichtigtuer, die sich aufblasen und aufspielen sich aber von der eigentlichen Struktur her nicht verändert haben, so wie die Zelle.
Als er die Patientin in der Ambulanz sah, leckte er Blut im wahrsten Sinne des Wortes. Er witterte seine große Chance auf einen ordentlichen Tumor. Die Patientin kam umgehend auf das OP-Programm. Die alte Dame erfuhr, was das für sie bedeutete, natürlich nicht in einer Form, die sie verstehen hätte können.
Es war, wie gesagt, ein sehr großer Tumor. Wenn schon Operation, so hätte es vermutlich gereicht, ein Stück davon abzutragen, weil der Tumor ja gutartig war. Doch der Schmerzpumpen-Spezialist sah das anders, jetzt wo er endlich einmal die Möglichkeit zum Operieren hatte. Zwölf Stunden lang stand er im Operationssaal, von acht Uhr morgens bis acht Uhr abends. Er schaffte es zwar tatsächlich, den ganzen Tumor zu entfernen. Das CT-Bild war wunderbar. Das komplette Tumorgewebe war weg. Die alte Dame war jetzt allerdings halbseitig gelähmt und würde den Rest ihres Lebens im Pflegeheim verbringen. Da ihre Kinder beide berufstätig waren, musste sie ihren kleinen Bauernhof mit den Hühnern verkaufen. Es ist einfach scheiße gelaufen, würde man sagen. Und natürlich verzog sich der stinkende Neurochirurg dann ganz schön schnell, als es um die Nachbetreuung der Patientin ging. Die fiel mir zu. „Es hätte auch schlimmer kommen können“, sagte ich zu ihr.
Ihr Lächeln war etwas leerer als vor der Operation, und sie antwortete nicht, aber ich hatte das Gefühl, dass sie ziemlich genau spürte, was geschehen war. Sie war in die Hände des falschen Arztes geraten. Dieser Arzt hatte nicht im Sinne ihres Wohls gehandelt, sondern sie als Trägerin einer interessanten Krankheit betrachtet. Schlimmer hätte es also in Wirklichkeit nicht kommen können. Ich hatte sie angelogen.
Lizenz zum Töten
Mein Chef hatte bei dem Bewerbungsgespräch, von dem ich berichtet habe, nicht einmal übertrieben. Die Assistenzärzte kriegen im Zuge ihrer Ausbildung in den meisten europäischen neurochirurgischen Abteilungen tatsächlich nur von einem kleinen Teil des Faches etwas mit, in dem sie bald als Fachärzte wirken sollen. Anders ausgedrückt, ihre Ausbildung ist grottenschlecht.
Auch ich und die Assistenzärzte meiner Generation erlernten während unserer Ausbildung nur sehr wenige Eingriffe richtig gut. Die Oberärzte machten gerne ein Geheimnis daraus, und wir Assistenzärzte litten unter ständigem Operationsentzug.
In einigen EU-Ländern, wie etwa Deutschland, gibt es eine Art Logbuch für Neurochirurgen in Ausbildung. Dort sind die Operationen einzutragen, die Assistenzärzte durchführen. Die Art der Operationen und die Reihenfolge sind mehr oder weniger genau festgelegt. Das kann ein kleiner Vorteil sein, wobei es immer noch auf die Handhabung des Logbuches ankommt.
In Ländern wie Österreich gibt es zwar auch ein Logbuch, das wird aber nie von irgendjemandem angesehen oder kontrolliert und hat demnach so viel Bedeutung, wie wenn sie Tagebuch schreiben. Gar keine. Und wo es nicht einmal dieses Logbuch gibt, geht für Assistenzärzte, wenn sie Pech haben, gar nichts. Hier ist die Chance besonders groß, dass ein Assistenzarzt seine sechsjährige Ausbildungszeit hinter sich bringt, ohne einen einzigen Schädel geöffnet zu haben.
Vor kurzem erzählte mir ein Kollege von seiner laufenden Ausbildung und klagte dabei über seine mangelnden Möglichkeiten, Praxiserfahrungen zu sammeln. „Bei uns ist klar geregelt, wer Tumore operieren darf“, sagte er. „Das sind von den zehn Assistenzärzten nur zwei, sonst niemand. Beide sind keine Könner. Der eine ist der Sohn des Leiters der Internistischen Abteilung, der andere hat sich beim Oberarzt jahrelang angedient, indem er ihm als ärztlicher EDV-Spezialist alle Operationen elektronisch vorbereitet hat. Die anderen haben keine Chance.”
Ich wusste genau, was er meinte. Ich hatte während meiner Ausbildung auch darunter gelitten, im Prinzip die gleichen Dinge zu tun, wie früher als Krankenschwester. Dafür hätte ich dann eigentlich nicht studieren müssen, hatte ich oft genug gedacht. Wenn ich damit argumentiert hatte, dass es für das System ja auch teuer ist, wenn Menschen mit einem Ärztegehalt die Tätigkeiten von Krankenschwestern verrichteten, dann hatten sie mich ausgelacht. Das war ihnen doch egal.
Auch ich gehörte einmal zu den jungen Assistenzärzten, die Essen holen mussten, während im OP gerade ein Schädel-Hirn-Trauma lag und ich alles getan hätte, um bei der Operation zumindest assistieren zu dürfen. Doch wir bestellten stattdessen Sushi und Pizza, oder ich fuhr mit meinem Wagen zu McDrive und holte die Burger für die Abteilung.
Was für mich auf die Dauer dann auch noch kostspielig war. Denn die hohen Herren nahmen das Essen und hielten sich nicht lange damit auf, meine Ausgaben zurückzuerstatten. Das schien irgendwie unter ihrer Würde zu sein. Ich lernte, mich zu revanchieren. Ich stellte ihnen ihre Sushis auf die vorgeheizte Kaffeemaschine, während sie noch im OP zu tun und keine Zeit zum Essen hatten. Auf der Intensivstation stand nämlich eine Mega-Kaffeemaschine in der Größe der Kaffeemaschinen auf den italienischen Raststätten. Ein langes Riesen-Ding, das natürlich ordentlich Hitze abgab und die Kaffeetassen, die darauf standen, wärmte. Nach einigen Stunden, wenn die Neurochirurgen hungrig von der Operation kamen, womöglich ganz dramatisch noch in OP-Kleidung, war der rohe Fisch dann so richtig lecker. Insgeheim habe ich natürlich immer gehofft, sie verbringen mit einer Lebensmittelvergiftung die restliche Nacht am Klo. Sollten sie nur das große Kotzen und die Scheißerei bekommen, diese widerlichen Schnorrer.
Wir Assistenzärzte wollten einfach nichts anderes, als unter sorgsamer Anleitung das Operieren lernen, dafür wäre die Ausbildung auch da gewesen. Die Chirurgie ist ein Handwerk, das Sie erlernen müssen, nicht mehr. Und wenn Sie nicht in den OP kommen und nichts machen können, außer Essen bestellen, Stationsarbeit und Listen tippen, erlernen Sie es nicht. Wir wollten nichts anderes, als eine normale Arbeit, mit einer guten, bodenständigen chirurgischen Basisausbildung. Das war ja wohl nicht zu viel verlangt.
Ich brauchte ja auch ein bisschen Sicherheit. Ich hatte meine Kinder in Kindergärten und in Schulen mit Nachmittagsbetreuung, ich war gut etabliert, die Kinder hatten viele Freunde. Nachdem es keine Pragmatisierung mehr gab, hieß das, dass ich alle vier Jahre zittern musste, ausgetauscht zu werden. Da kann man es sich nicht einmal leisten, ein Leasingauto zu nehmen. Ich habe deshalb auch versucht, eine Ausbildung einzufordern, weil es erstens normal sein sollte, auf einer Ausbildungsstelle ausgebildet zu werden, und zweitens damit ich mich im Falle einer Nicht-Verlängerung auch weiterbewerben hätte können. Denn die Leute erfuhren oft erst zwei Wochen vor Vertragende, dass sie nun doch nicht verlängert wurden. Und wie peinlich stehen Sie dann da, wenn Sie eventuell seit Jahren in Facharzt-Ausblidung sind und sich auf dem Stand eines Erstsemestrigen befinden? In Österreich und Deutschland wissen ja die gesamten neurochirurgischen Abteilungen über den Zustand der Ausbildung Bescheid, sie diskutieren das ja sogar öffentlich auf den Kongressen und Fortbildungen.
Ich frage mich retrospektiv, wie die nur alle darauf kommen konnten, dass ich die Böse bin? Die Nestbeschmutzererin? Nur weil ich immer wieder mit Nachdruck einforderte, dass ich etwas lernen möchte?
Schließlich kann kein Mensch ein guter Hirnchirurg werden, indem er zum Beispiel hunderte Arztbriefe nachdiktiert, weil die Chirurgen, die einen Eingriff durchgeführt haben, sich die Zeit dafür nicht nehmen wollten. Genau das machte damals aber einen großen Teil unserer Arbeit aus. Wir waren quasi wie Friseure, die während ihrer ganzen Ausbildung nichts anderes machen, als Haare zusammenkehren oder Haare waschen, und die kaum die Schere in die Hand bekommen. Und dann wurde noch herumgestänkert, dass die Haare falsch eingeschäumt sind.
Ich hatte damals, als junge Ärztin, dabei auch noch das Gefühl, etwas Falsches und Unehrliches zu tun und gegen so etwas wie die Würde meines Berufsstandes zu verstoßen. Denn wir diktierten tage- und nächtelang die Geschichten von Patienten nach, die wir nie selbst gesehen hatten, und deren Operationen teils Jahre zurücklagen, weshalb unsere Berichte zu großen Teilen nur Fiktion sein konnten. Sie würden dann trotzdem als Grundlage für allfällige spätere Behandlungen dienen.
Wir hatten immer die Hoffnung, dass es besser würde, wenn wir uns anstrengten, alles akzeptierten und alle Aufgaben erfüllten. Uns wurde immer gesagt: „Wenn du dann Facharzt bist, wird alles besser”. Bloß wurde es nie besser. Bis zum Schluss dieser fucking Ausbildung wurde es nie besser.
An dieser Stelle möchte ich mich für meinen Spruch und meine Ausdrucksweise entschuldigen. Meine Deutschprofessorin hätte mir wahrscheinlich am Ende des Buchs „Straßenjargon“ mit drei Rufzeichen dazugeschrieben. Wundern Sie sich bitte nicht, und seien Sie nicht schockiert. Aber ich komme nun einmal aus einem chirurgischen Fach, und da geht es schließlich zu wie in einer Werkstätte. Die Neurochirurgen mögen nach außen hin sehr kultiviert und fein tun, im OP merkt man nichts mehr davon. Es fliegen zwar keine Instrumente, wie in anderen chirurgischen Fächern, aber die verbalen Beleidigungen sind keinesfalls harmloser.
Manchmal bleibt es ja nicht einmal nur bei verbalen Beleidigungen. Ich war einmal gerade wieder in der Ambulanz, als eine Ambulanzschwester ganz aufgeregt berichtete: ”Da drüben im Chefsekretariat spielt es sich voll ab! Die Polizei ist da, weil die Sekretärinnen eine Schlägerei haben!” Schlägerei hatten sie zwar keine, aber im Streit wer denn nun einen Operationsbericht schreiben muss, sind sie sich in die Haare greaten, haben herumgeplärrt, sich geschubst und haben sich dann letztendlich gegenseitig angespuckt. Sie lesen richtig, Sekretärinnen an der Neurochirurgie spucken sich an. Auch das kann vorkommen. Ein Patient, der sich einen Brief abholen wollte, hatte das Drama mitbekommen und hat völlig verstört die Polizei gerufen. Also nur soviel zu verbalen und körperlichen Attacken.
Bei den wissenschaftlichen Artikeln, die wir verfasst haben, haben wir außerdem gelernt, dass es, wenn die Information zum Leser rüberkommen soll, nur um eines geht. Nämlich, dass der Text möglichst einfach und prägnant verfasst ist. Ich werde Sie deshalb auch nicht mit irgendwelchen verschachtelten Satz-Konstrukten langweilen. Das Buch ist so geschrieben, wie wir miteinander reden. Einfach, direkt, aggressiv.
Aber ich schweife ab, zurück nun zur neurochirurgischen Ausbildung. Die Wahrheit ist, ein Facharzt-Diplom nach einer Ausbildung, wie sie an sehr vielen neurochirurgischen Abteilungen Praxis ist, ist nicht mehr, als eine Lizenz zum Töten. Im Prinzip kann sich ein Neurochirurg nach so einer Ausbildung nirgends bewerben. Viele Neurochirurgen sehen das zum Glück ein. Sie brechen entweder schon während der Ausbildung ab oder machen nach dem Facharztdiplom noch eine zweite Ausbildung, werden Orthopäden, Neurologen, Radiologen, Anästhesisten oder Psychiater. Manche steigen komplett aus dem System aus und züchten Hunde oder vermieten Boote. Andere arbeiten als praktischer Arzt. Doch viele sehen es nicht ein. Wenn ihre Persönlichkeitsstörung groß genug ist, nehmen sie ihr Diplom als Chance, es endlich zu tun. Einen Schädel zu öffnen. Das Schicksal von jemand anderem in die Hand zu nehmen. Gott zu spielen. Mit so viel Erfahrung, wie ein Formel-1-Fahrer hätte, der schon mal ein Buch übers Autofahren gelesen hat, aber selbst höchstens mal in einem mitgefahren ist.
Die Oberärzte wissen das, bloß ist es ihnen egal. Im Dienst an ihrem eigenen Ego vermasseln sie gerne dem Nachwuchs den Berufszugang und enthalten dem System qualifiziertes Personal für die Zukunft vor. Sie wollen glänzen, und hinter ihnen die Sintflut. Je weniger gut ausgebildetes, fähiges Personal sich rund um sie versammelt, desto heller strahlen sie in ihrer eigenen Selbstwahrnehmung.
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