Kitabı oku: «Die geteilte Seele»

Yazı tipi:


Dr. Shird Schindler

Dr. Iris Zachenhofer:

Die geteilte Seele

Alle Rechte vorbehalten

© 2019 edition a, Wien

www.edition-a.at

Cover: Isabella Starowicz

Satz: Lucas Reisigl

ISBN 978-3-99001-358-8

E-Book-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

INHALT

Eine Mädelsparty und andere Katastrophen

Christopher und die anderen

Sophie

Valeria

Bono

Der Kosmos, der uns ausmacht

Der Trainer

Ein Experiment am Spielfeld

Komplexe Rezepte für komplexe Menschen

… ein kleines Spiel.

Die sieben »Changes«

Ein Sieg und ein Kleid

Schlussbemerkung

EINE MÄDELSPARTY UND ANDERE KATASTROPHEN

Die Sonne schien bereits verdächtig hell in mein Schlafzimmer. Ganz entfernt erinnerte ich mich, den Handywecker ausgeschaltet zu haben, mein Kopf dröhnte und vorsichtig griff ich nach dem Telefon, um mich zeitlich etwas zu orientieren. 8.20 Uhr. Ich schreckte hoch, denn, du meine Güte, ich sollte schon seit zwanzig Minuten in der Morgenbesprechung im Krankenhaus sitzen. Soweit das in meinem verkaterten Zustand möglich war, sprang ich auf, suchte ein paar Kleidungsstücke zusammen und lief ins Bad. Das Frühstück würde heute wohl ausfallen müssen, aber vielleicht konnte ich unterwegs einen Coffee to go organisieren.

Während ich im Wohnzimmer eilig meine Stiefel anzog, musste ich dennoch schmunzeln, als ich die Schachteln sah, die neuen Kleider, die darin gekommen waren, meine komplette über das Wohnzimmer verteilte Garderobe und die leeren Weinflaschen. Ich hatte den Abend, an dem meine beiden kleinen Töchter, die noch bei mir daheim lebten, bei einer Freundin übernachteten, wirklich gründlich genützt.

Drei meiner besten Freundinnen waren da gewesen. Wir hatten Spaghetti gegessen und dazu eine Menge Rotwein getrunken. Dann hatten wir abwechselnd meine online bestellten neuen Kleider angezogen, sie mit meinen alten Teilen kombiniert, und schließlich meinen gesamten Kleiderschrank ausgeräumt und durchprobiert. Es war einfach nur genial gewesen.

Als kein Wein mehr da gewesen war, hatten wir uns über den letzten verfügbaren Alkohol, eine halbe Flasche lauwarmen Campari hergemacht, was wohl meine Kopfschmerzen erklärte. Ich hatte nur eine vage Ahnung, wann alle gegangen waren, aber es musste lange nach zwei Uhr gewesen sein.

Mist, jetzt erinnerte ich mich auch noch dunkel daran, dass irgendwann eins der Mädels ihr Handy an die Boxen angesteckt hatte und wir mitten in der Nacht in meinen neuen französischen Kleidern Cancan getanzt hatten – was trotz der Dämpfung durch den geerbten Perserteppich auf meinem Wohnzimmerboden ziemlichen Krach gemacht haben dürfte, denn wir waren gut in Form gewesen. Die Mieter unter mir waren leider recht kleinlich, was Lärm betraf, das würde mir also bestimmt wieder einen bösen Brief von der Hausverwaltung einbringen.

Dabei hätte es eigentlich ein gemütlicher Abend werden sollen, eine Art Ausklang, nachdem ich nach dem fulminanten Ende meiner letzten Beziehung bereits mit verschiedenen Freundinnen in Bars und Nachtclubs meine neu gewonnene Freiheit gefeiert hatte. Doch es hatte einfach zu viel zu besprechen und anzuprobieren gegeben, und die Stunden waren vergangen wie im Flug.

Schlafen kann ich noch, wenn ich tot bin, hatte ich mir gedacht, als ich zum Spaß ein neues Cocktailkleid gemeinsam mit meinen ebenfalls neuen Stiefeletten probierte und den Mädels zeigte. Damit hatte alles angefangen. Nun hatte ich keine Ahnung, wie ich heute den Tag überstehen sollte, aber sei’s drum, wir hatten richtig Spaß gehabt, das war die Hauptsache.

Am Weg zum Bus spülte ich eilig zwei Aspirin mit einem Cappuccino hinunter. Meine Motivation, ins Krankenhaus zu fahren, hielt sich in Grenzen. Denn ich war weder körperlich noch mental auf der Höhe, wobei es bei meinem Job vor allem auf Letzteres ankam.

Es gab Momente, in denen mein Job mich erfüllte, aber es gab auch Momente wie diese, in denen ich mit ihm haderte. Welcher halbwegs normale Mensch arbeitet schon freiwillig auf der Psychiatrie? Waren meine Studienkollegen, die sich für Psychiatrie interessiert hatten, nicht schon immer eigenartige Typen gewesen, die mit dieser fachlichen Spezialisierung wohl eher Lösungen für ihre eigenen Probleme gesucht hatten? Das fragte ich mich einmal mehr, als ich den leeren Kaffeebecher in den Abfalleimer warf und meine Kopfhörer aufsetzte.

Während ich im Bus meine Mails checkte, bekam ich eine SMS von meinem Ex-Freund, der die Tatsache zu ignorieren schien, dass er jetzt mein Ex-Freund war. Er lud mich zu einer Vernissage am Abend ein.

Was dachte er sich eigentlich? Immerhin hatte er mich durch seine ständigen Nörgeleien so weit gebracht, vor Wut meinen Laptop aus dem Fenster zu werfen. »Verschwinde aus meinem Leben!«, hatte ich dazu gebrüllt, und natürlich Theo, meinen jetzigen Ex-Freund, und nicht den Laptop gemeint. Das war ja wohl mehr als eindeutig gewesen.

Ich hatte genug von ihm und all den anderen Fröschen, die ich schon geküsst hatte. Zuerst waren sie alle richtig süß, aber irgendwann wollten sie mir ständig das Leben erklären, mir ihre Vorstellungen überstülpen, mich verändern und mich kontrollieren. Wer brauchte sowas? Es war wirklich höchste Zeit für den Richtigen. Schließlich konnte es nicht zu viel verlangt sein, endlich einmal ein bisschen Glamour und Spaß zu haben.

Theo war der Schlimmste von allen. Ständig nannte er mich eine Chaotin und verlangte so unnötige Dinge von mir, wie die Dateien auf meinem Laptop zu ordnen oder meine 6.500 ungelesenen E-Mails zu löschen. Wenn ihn derlei so störte, hätte er das ja, als kleinen Liebesbeweis für mich, selbst erledigen können.

Als ich seine SMS noch einmal las, hätte ich vor Wut am liebsten auch gleich mein Handy gekillt. Nur würde nach den vielen neuen Kleidern mit der nächsten Kreditkartenabrechnung mein ohnehin überzogenes Bankkonto wieder eine Weile gesperrt sein. Jetzt auch noch ein Handy kaufen zu müssen wäre sicher nicht gerade optimal gewesen.

Das Krankenhaus, vor dem ich jetzt aus dem Bus stieg, war mir im Moment auch kein großer Trost. Eben noch war ich Neurochirurgin gewesen, ein Job mit Strapazen, die jede Art von Spaß und Glamour im Keim erstickten. Dazu war es auch noch eine Männerwelt, in der ich jeden Tag aufs Neue gegen deren Tendenz, mich als überambitionierte Krankenschwester abzustempeln, kämpfen musste.

Da hatte sich die Psychiatrie mit ihren neuen Herausforderungen als Zufluchtsstätte angeboten. Ein bisschen mit Patienten über das Leben reden, statt nächtelang Schädel aufsägen und Gehirne operieren, bei Besprechungen im Kreise verständnisvoller Psychiater-Kollegen sitzen, nicht mehr unter karrieregeilen Machos. Das hatte sich doch gut angehört.

Erst vier Wochen nach meinem Wechsel hatte ich darüber nachzudenken angefangen, was ich hier eigentlich sollte. Während meines Studiums war die Psychiatrie kein Thema für mich gewesen, außer wenn ich mit Studienkollegen darüber gescherzt hatte, dass dort die Patienten kaum von den Ärzten zu unterscheiden waren, und dass der Durchgeknallteste von allen mit hoher Wahrscheinlichkeit der Chef war.

Nun musste ich auch erkennen, dass der Job keineswegs so gemütlich wie erwartet war. Die Patienten forderten Aufmerksamkeit, die Diagnosen verlangten Verantwortungsbewusstsein und die Materie war komplex und bot weniger eindeutige Symptome als zum Beispiel ein Blutgerinnsel im Gehirn.

Immerhin gefährdete ich nicht gleich das Leben eines Menschen, wenn ich einmal unausgeschlafen zur Arbeit kam, und außerdem war ja nichts fix. Ich konnte auch wieder etwas Neues anfangen. Das hatte ich oft genug getan. Vieles interessierte mich. Ich hatte die Möglichkeiten noch nicht sondiert, aber mir war klar, was ich wollte: möglichst jeden Tag etwas Spannendes und Neues erleben.

Als ich die Ambulanz betrat, der ich seit einigen Tagen zugeteilt war, hätte ich mich am liebsten leise wieder davongeschlichen. Denn der Wartesaal war bereits knallvoll und das Pflegepersonal war von meiner knappen Stunde Verspätung ziemlich genervt.

Ersatz hatten sie zwischenzeitlich natürlich keinen gefunden. Schließlich hatten sie mich ja auch wegen Personalmangels in die Ambulanz versetzt, nach dem Motto: besser eine Anfängerin dort als gar kein Arzt. An und für sich wäre ich der Bettenstation zugeteilt gewesen, wo es ruhiger zuging. Bloß half mir das jetzt auch nichts.

Obwohl schon dicke Luft herrschte, brauchte ich zunächst noch eine Stärkung, um einigermaßen in die Gänge zu kommen. Auf die paar Minuten würde es nun auch nicht mehr ankommen, fand ich. Einer der Pfleger rettete mich mit einer Tasse Zimt-Kardamom-Kaffee, den er mit einer italienischen Espressomaschine auf der Herdplatte in der Ambulanzküche braute, und der selbst Tote zum Leben erweckt hätte. Angeblich hatten wegen dieses Kaffees schon Studenten überlegt, sich an unserer Abteilung zu bewerben.

Als ich mit meinen brandneuen Stiefeletten und den dazu passenden neuen Craft Jeans, einem echten Schnäppchen, mein Ambulanzzimmer erreichte, fand ich auf dem Tisch kaum noch Platz für die Tasse. Das Geschirr der vergangenen Tage türmte sich dort in mehreren Reihen zwischen Stapeln alter Blutbefunde, gelesenen, aber nicht eingeordneten neuropsychologischen Befunden, Schulungsunterlagen und Ankündigungen von Vorträgen und Tagungen, die mich gar nicht interessierten.

Ich schob das Chaos etwas beiseite und rief meinen Patienten auf. Als die Tür aufging, hob ich den Blick: »Was kann ich für Sie tun?«

Als ich drei Stunden später zwischen zwei Patienten rasch meine E-Mails checkte, las ich mit Entsetzen, dass eine Pariser Firma meinen Parka, den ich dort bestellt hatte, statt zu mir nach Wien nach Saudi-Arabien geschickt hatte. Ich war schlagartig den Tränen nahe und wunderte mich nicht einmal darüber. Ich kannte mich so schon seit einigen Tagen.

Denn, auch wenn ich das meinen Freundinnen so nicht gestanden hatte, waren die vergangenen Wochen für mich doch einigermaßen deprimierend gewesen. Wieder hatte mich eine Beziehung enttäuscht. Wieder musste ich mich von einem Freund trennen. Wieder musste ich von neuem nach der großen Liebe suchen. Das lastete vielleicht sogar schwerer auf meinem Gemüt, als ich es mir selbst eingestehen wollte.

Diese kleinen Belohnungen aus dem Internet waren da Balsam für die Seele, und umso bitterer fühlte es sich an, wenn ich unversehens auch dabei eine Enttäuschung erlitt. Doch wie es aussah, hatte ich bei der Bestellung des Parkas vor ein paar Tagen im Bus statt »Autriche« irrtümlich »Arabe Saudie« angeklickt.

Ich hatte allerdings keine Zeit, deshalb in Tränen auszubrechen, denn das Telefon läutete. Die koordinierende Krankenschwester informierte mich, dass draußen mehr als zwanzig Patientinnen und Patienten warteten. Ich ahnte, dass ich zum Teil selbst schuld daran war. Ich hatte wohl wieder einmal Termine, die ich per SMS ausgemacht hatte, nicht in meinen Kalender eingetragen, weshalb jetzt mehrere Patienten zur gleichen Uhrzeit bestellt waren. Optimal war das natürlich nicht.

Jetzt steckte auch noch eine übergenaue Fachärztin namens Therese ihren Kopf zur Tür herein. Therese beschwerte sich, dass meine weißen Mäntel und meine Bücher quer über die Abteilung verteilt herumlagen und forderte mich auf, endlich Ordnung in meine Sachen zu bringen. Therese ging auf mich los, seit ich hier war, doch heute schien es diese übergenaue Spinnerin ganz besonders auf mich abgesehen zu haben. Hatte die nichts Besseres zu tun, als harmlose Quereinsteigerinnen mit kleinkariertem Quatsch zu quälen?

Meine nächste Patientin war eine junge, depressive Frau, die ihre Probleme seit geraumer Zeit im Alkohol ertränkte. Sie erzählte mir lang und breit, dass sie an nichts mehr Freude habe, und wie trost- und sinnlos ihr Leben wäre.

Ich hatte Schwierigkeiten, ihr zu folgen, denn sie redete leise und monoton, sodass meine Gedanken immer wieder abdrifteten. Mir fielen Dinge ein, die ich noch erledigen musste. Was ich heute zum Essen einkaufen könnte und wie gut es mir im Großen und Ganzen dann doch gelang, meine eigene düstere Stimmung mit Onlineshopping zu bekämpfen.

Inzwischen erzählte die Frau, dass sie früher Sport gemacht hatte und sich nun nicht mehr dazu aufraffen konnte. Mir fiel ein, dass ich aus dem gleichen Grund meinen letzten Surfkurs geschmissen hatte. Vielleicht sollte ich einen neuen buchen. Würde sie es merken, wenn ich rasch die aktuellen Angebote der Surfschule checkte?

Am Ende des Gesprächs wusste ich nicht genau, wie ich mit ihr umgehen sollte. Brauchte sie Medikamente? Das war immerhin eine weitreichende Entscheidung für sie. Ich schickte sie ins Wartezimmer zurück und rief Shird, den Ambulanzoberarzt, an, um zur Sicherheit seine Meinung dazu einzuholen.

Während ich auf Shird wartete, checkte ich die Surfkurse und bekam mit, dass meine E-Mail wegen meines Parkas zurückgekommen war, und dass inzwischen DHL dessen Auslieferung in Saudi-Arabien übernommen hatte, an welche Adresse auch immer. Während ein besonders ungeduldiger Patient schon an die Tür der Ambulanz klopfte, kam von der anderen Seite Shird herein, doch ehe ich ihm für sein rasches Auftauchen danken konnte, läutete mein Telefon. »Ich hebe besser ab, vielleicht ist es wichtig«, sagte ich hektisch.

Shird machte es sich auf dem Patientensessel bequem, während mir der Schweiß ausbrach. »Kindergarten Laudongasse«, flötete die freundliche Stimme, »die kleine Franzi wartet darauf, abgeholt zu werden. Ihre Mama sagte mir, Sie würden heute kommen.«

»Oh du meine Güte«, sagte ich, »ist das heute? Das kann unmöglich heute sein.«

Gleichzeitig erinnerte ich mich daran, dass ich meiner Schwester versprochen hatte, ihre Tochter abzuholen und mit ihr in den Zirkus zu gehen. Die Tickets in der besten Loge hatten mich ein Vermögen gekostet, aber ich liebte den Zirkus selbst, und einmal mit meiner kleinen Nichte Franzi hinzugehen hatte ich mir spaßig vorgestellt. Aber doch nicht heute!

Hektisch blätterte ich im Kalender, aus dem Post-its und Rechnungen fielen, aber es gab keinen Zweifel: Tatsächlich war heute Zirkustag. Ich stammelte ins Telefon, dass ich schon unterwegs sei, und wandte mich dann an Shird, der mich lächelnd beobachtete. »Ich muss sofort meine Nichte abholen und davor noch unsere Tickets für den Zirkus in diesem Chaos hier finden. Draußen warten noch drei Patienten auf mich, die ich irrtümlich gleichzeitig bestellt habe, ich bin müde, hungrig und ein mit schwarzen Palmen und Leoparden bestickter Parka, der mich irgendwie retten hätte können, wird gerade nach Saudi-Arabien statt zu mir nach Hause geschickt. Keine Ahnung warum, aber mein Leben entgleist gerade vollkommen!«

Während abermals ein ungeduldiges Klopfen an der Tür ertönte, fiel Shirds Blick auf meinen überquellenden Kalender, die Berge an Unterlagen und das leere Geschirr. Gelassen und freundlich, wie es seine Art war, sagte er schließlich: »Du kannst deine Probleme lösen, indem du dich mit Christopher anfreundest.«

»Wer bitte ist Christopher?«, fragte ich.

CHRISTOPHER UND DIE ANDEREN

Am nächsten Morgen im Bus fühlte ich mich unbehaglich. »Wir müssen reden«, hatte Shird noch gesagt, ehe ich zu Franzi aufgebrochen war. Ein Satz, der wegen meines stets latent schlechten Gewissens bei mir schon immer unangenehme Erwartungen ausgelöst hatte.

Und wer war dieser Christopher?

Das hatte mir Shird nicht mehr verraten. Er war doch hoffentlich nicht wieder einer dieser Gurus, die Ordnung ins Leben zu bringen versprachen. Shird hatte keine Ahnung, wie viele Bücher solcher Gurus ich in meinem Leben schon geschenkt bekommen hatte, von wohlmeinenden oder genervten Freundinnen, Ex-Freunden, Arbeitskollegen und Verwandten.

Denn im Prinzip waren schon immer alle gegen mich gewesen. Unter den Menschen, die mich etwas näher kennengelernt hatten, gab es kaum welche, die mich nicht chaotisch oder zumindest schlampig gefunden hätten, und die das nicht irgendwann auch mehr oder weniger freundlich angemerkt hätten.

Ich hatte diese Ratgeber tatsächlich alle gelesen. Von »Magic Cleaning«, über »Minimalismus« bis »Simplify your life« kannte ich sie alle. Ich kannte ihre Powertipps, wie ich durch Aufräumen und Entrümpeln mit weniger leben und dabei Zeit und Geld sparen konnte, wie ich meinen Konsum kontrollieren und dabei gelassener und entspannter, freier und glücklicher werden konnte.

Fast wie eine Sekte kam mir diese Aufräumfraktion inzwischen vor, die ewiges Glück durch Ordnung versprach. Bloß hatte sie mir nie wirklich geholfen. Ich verstand zwar die Botschaft und fand sie theoretisch auch richtig, aber letztendlich schien sie mir für Streber und penible Listenschreiber gemacht zu sein, nicht für mich. Ich war einfach die Falsche dafür.

Unseren Ambulanzoberarzt Shird mochte ich eigentlich. Er war kompetent und gut darin, sein Wissen weiterzugeben. Dabei war er nie überheblich, sondern einfühlsam und verständnisvoll. Keine menschliche Schwäche schien ihm fremd zu sein, und er schien alle Schwächen weniger als Makel, sondern vielmehr als Macken zu betrachten, die Menschen immer auch zu etwas Besonderem machten.

Heute hatten wir miteinander Nachtdienst und wie immer bei solchen Gelegenheiten trafen wir einander vor der Dienstübergabe zum Mittagessen in der Kantine unseres Krankenhauses, die in dem geschichtsträchtigen Jugendstilgebäude am westlichen Rand Wiens eingerichtet war und mit Terrasse samt Blick auf Magnolien und Birken punktete.

Wir nahmen beide das Wiener Schnitzel, das hier jeden Tag auf der Speisekarte stand. »Wer ist dieser Christopher, den du gestern erwähnt hast?«, fragte ich Shird, als wir uns in die Sonne setzten. Ich fragte das weniger aus Interesse, sondern eher um ihm zuvorzukommen. Ich wollte diese Neuauflage eines Gesprächs, das ich schon oft genug geführt hatte, so rasch wie möglich hinter mich bringen.

Shird erzählte mir, dass er vor vielen Jahren als Assistenzarzt an der Wiener Universitätsklinik einen Neurologen namens Christopher kennengelernt hatte. Christopher war fachlich brillant. Er wusste immer alles bis ins letzte Detail, konnte bei seinen Patienten mehr Differentialdiagnosen aufzählen, als in den neurologischen Lehrbüchern standen, bemerkte die kleinste Lähmung des winzigsten Augenmuskels, kannte sämtliche Befunde seiner Patienten auswendig und spürte selbst in kilometerlangen EEG-Kurven noch eine auffällige Zacke auf.

Dieser Christopher suchte vor jeder Diagnose so lange und so genau nach Symptomen, bis er ganz sicher die richtige gefunden hatte, und er war dabei ein ruhiger, besonnener und verlässlicher Mensch, der immer von allem in feinsäuberlicher Schrift Tabellen führte. Das war ihm besonders wichtig. Wenn am Abend sein Tagesverlauf mit all seinen Ereignissen nicht in diverse Tabellen eingeflossen war, konnte er angeblich nicht schlafen.

Shird hatte Christopher bewundert und ihn für sich zu einem lebenslangen Vorbild gemacht. »Kommt dir dieser Typ Mensch aus deinem Studium bekannt vor?«, fragte er mich.

Ich dachte nach. Pflichtbewusst, zielstrebig, zuverlässig und eventuell etwas pedantisch, was für einen diagnostizierenden Arzt ja durchaus günstig war. »Christopher ist eine klassische zwanghafte Persönlichkeit«, antwortete ich. »Und mit dem soll ich mich jetzt anfreunden? Warum? Damit etwas von ihm auf mich überspringt? Worum geht es hier?«

»Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust«, antwortete Shird. »Kennst du dieses Zitat aus Goethes ,Faust‘? Darum geht es hier, bloß dass auch das nur die halbe Wahrheit ist. In Wirklichkeit wohnen vier Seelen in der Brust von jedem von uns. Jeder von uns birgt vier Persönlichkeiten in sich. Nicht irgendwelche Persönlichkeiten, sondern ganz bestimmte. Es sind bei jedem von uns die gleichen vier, bloß sind sie bei jedem unterschiedlich stark ausgeprägt. Kennst du den Psychologen und Psychoanalytiker Fritz Riemann? Er hat das bereits 1961 dokumentiert.«

»Riemann sagt mir natürlich etwas«, log ich. »Aber was hat das mit deinem Christopher zu tun?«

»Christopher steht für mich für eine dieser vier Persönlichkeiten, die wir in uns vereinen«, sagte er. »Für die zwanghafte, wie du ganz richtig bemerkt hast. Sie hat wie jede dieser Persönlichkeiten Vor- und Nachteile. Sie sorgt für Ordnung, aber sie kann auch pedantisch sein. Sie ist genau, aber sie kann auch übergenau sein. Ist die zwanghafte Persönlichkeit bei dir zu stark ausgeprägt, wirkst du pedantisch und übergenau. Ist sie zu schwach ausgeprägt, wirkst du wie eine Chaotin.

Ich würde sagen, wie der Fall bei dir liegt, ist ziemlich eindeutig. Würdest du dich mit dem Christopher in dir anfreunden und mehr von ihm zulassen, käme schnell Ordnung in dein Chaos.«

»Wow«, sagte ich. »Plötzlich Patientin.«

»Ach was«, sagte Shird. »Die vier Persönlichkeiten, die jeder von uns in sich vereint, sind bei den wenigsten von uns im Gleichgewicht. Denk nur an unsere Kolleginnen und Kollegen. Da fallen dir bestimmt welche ein, die eher zu viel Christopher haben.«

»Du meinst Therese, diese Spinnerin«, sagte ich. »Sie ist heute wieder wegen meiner Mäntel und Bücher auf mich losgegangen.«

Shird winkte ab. »Ich nenne keine Namen, aber es tut jedem von uns gut, am Gleichgewicht zwischen den vier Persönlichkeiten in uns zu arbeiten. Es ist immerhin eine Voraussetzung dafür, glücklich oder zumindest zufrieden leben zu können. Denke an ein vierköpfiges Team. Jeder der vier in diesem Team hat bestimmte Stärken und bietet in Krisensituationen bestimmte Lösungsmöglichkeiten an. Dominiert ein Mitglied des Teams oder fällt eines ganz aus, haben alle ein Problem.«

»Ehrlich gesagt habe ich noch nie von diesem Riemann gehört«, gab ich jetzt zu. »Aber deine Geschichte erklärt wirklich manches. Wo finde ich den Psychiater, der den Christopher in mir mit meinen anderen drei Persönlichkeiten in Einklang bringt, damit ich nie wieder Patienten gleichzeitig bestelle und immer pünktlich bin, wenn ich mit meiner Nichte in den Zirkus will?«

»Du brauchst keinen Psychiater«, sagte Shird. »Das Schöne an der Sache ist, dass die vier Teile unserer Seele beziehungsweise die Verhältnisse zwischen ihnen unser Leben lang wandelbar bleiben. Wir haben jederzeit die Möglichkeit, schwächere Anteile zu stärken und dominante etwas in den Hintergrund zu drängen, und wir können das selbst.«

»Ich bin also kein hoffnungsloser Fall?«

Als ich Shird lächeln sah, fragte ich mich, wie oft er diese Geschichte wohl schon Patienten erzählt hatte. Aber egal, dachte ich. War ich eben die mit dem unterentwickelten Christopher.

»Du bist weder ein hoffnungsloser noch ein schlimmer Fall«, sagte er.

Während Shird für uns Apfelstrudel und zwei Espressi holte, fiel mir ein, dass auch ich einen ziemlich lupenreinen Christopher kannte. Ich hatte ihn vor einigen Monaten kennengelernt, nachdem mir ein Freund, angesichts des Chaos in meinen Finanzen, den Steuerberater seines Vertrauens empfohlen hatte. In dessen Kanzlei war ich mit einer Reisetasche voller Ordner und Zettel aufgekreuzt.

Als in seinem Besprechungszimmer mit den säuberlich geordneten Büchern und Ordnern der Inhalt meiner Tasche auf einen großen, leeren Glastisch gequollen war, war mir mein Chaos richtig peinlich gewesen. Um die Peinlichkeit noch zu steigern, begleiteten ein paar Federn, Tannenzapfen und Gräser vom letzten Waldspaziergang mit Franzi, meiner jüngsten Tochter und meinem Hund die Unterlagen.

Ich kam mir erbärmlich wie eine Obdachlose vor, die bei einer Polizeikontrolle ihr Hab und Gut auf dem Gehsteig ausbreiten muss. Der Steuerberater schenkte mir ein Lächeln, in dem kein Vorwurf lag, sondern nur ehrlich empfundenes Mitleid, und nach anderthalb Stunden mit ihm hatte ich die beruhigende Gewissheit, dass selbst mein Chaos zu bändigen war.

Er gab mir das Gefühl, dass ich, wenn ich nur wollte, wie eine dieser Frauen aus amerikanischen Fernsehserien werden konnte, die in einem schlichten Kleid und mit perfekter Frisur an einem Schreibtisch saßen, auf dem nur drei gespitzte Bleistifte lagen, nicht wie auf meinem eine undurchdringliche Dokumentation der Vielfalt des Lebens. Die daheim einen Schrank voller nach Farben geschlichteter und nach Lavendel duftender Wäsche hatten, nicht wie ich einen immerzu voll behängten Wäscheständer, den auch noch ständig mein für die Wohnung viel zu großer Hund umwarf. Die sich Anfang der Woche überlegten, was sie kochen würden, die nicht wie ich regelmäßig hungrig zum Supermarkt liefen, um sich Baguette, Ziegenkäse und Rotwein zu holen.

Bloß, wollte ich so sein? Nein. Und jetzt fragte ich mich auch, was diesen Frauen aus den amerikanischen Serien oder meinem Steuerberater dafür wohl fehlte. Spontane Besäufnisse mit Freunden gab es in ihrem Leben wohl eher nicht, womit ihnen meiner Meinung nach etwas sehr Wesentliches fehlte.

Beim Nachtisch sprachen Shird und ich weiter über die geteilte Seele. Riemann hatte in den 1960er-Jahren offenbar viel Aufmerksamkeit für seine Forschung erhalten, dennoch fanden wir beide, dass die Psychologie das Thema stiefmütterlich behandelte und es im öffentlichen Bewusstsein zu wenig präsent war.

»Vielleicht liegt es an den wissenschaftlichen Bezeichnungen der vier Persönlichkeiten, die wir in uns vereinen«, sagte Shird. »Neben der zwanghaften gibt es noch die schizoide, die depressive und die hysteriforme. Damit kann sich niemand identifizieren.«

»Es klingt tatsächlich nicht besonders sexy«, sagte ich. »Es klingt, als hätten die vier Persönlichkeiten in uns nur schlechte Seiten, was ja nicht der Fall zu sein scheint.«

Shird nickte. »Ich tue mir bei meinen Patienten immer leichter, wenn ich von dem Christopher in ihnen statt von ihren zwanghaften Persönlichkeitsanteilen spreche«, sagte er.

Wusste ich es doch. Plötzlich Patientin. Aber egal. »Hast du für die anderen drei auch neue Namen gefunden?«, fragte ich.

»Ich arbeite daran. Es sollten neutrale Namen wie eben ,Christopher‘ sein.«

Es war tatsächlich ziemlich unfair von Riemann und Konsorten gewesen, den vier Persönlichkeiten, die miteinander unser Wesen ausmachten, so abschreckende Namen zu geben. Denn jede davon hatte definitiv auch positive Seiten.

Der Typ Christopher konnte nicht nur ein fantastischer Steuerberater sein. Mit ihm war zum Beispiel auch das Reisen angenehm. Er kümmerte sich um Planung, Flugzeiten und Buchungen. Er fertigte dabei auch gleich Kopien von Reisepässen, Kredit- und Bankomatkarten sowie den Kontaktdaten an.

Wer auf einem Flug mit einem Begleiter des Typs Christopher ein Gepäckstück verlor, konnte sicher sein, dass sich Christopher bis zum Zuständigen der betreffenden Fluglinie vorkämpfen und das Gepäckstück auch noch in die versteckteste Bambushütte auf der entlegensten Insel nachliefern lassen würde.

Christopher steht für Ordnung, Genauigkeit, Planung.

Hartnäckigkeit war überhaupt eine Stärke des Typs Christopher. Ich musste sie sogar meiner ungeliebten Kollegin Therese zubilligen. »Ich habe jetzt einen Termin beim Chef«, hatte ich sie einmal zu einer Krankenschwester sagen gehört, »und ich werde erst vom Sessel aufstehen, wenn ich alles erreicht habe, das ich erreichen will. Soll es meinetwegen zwei Stunden oder noch länger dauern. Das ist dann sein Pech.«

Die Schattenseiten, die der Typ Christopher neben dem Hang zur Pedanterie hat, sind allerdings auch bemerkenswert. So kann sein Bedürfnis, Projekte abzuschließen, zu einer regelrechten Verbissenheit führen. Für ihn ist es unbegreiflich, wie jemand lesen, dösen oder Musik hören kann, wenn noch Dinge zu erledigen oder zu ordnen wären. Er bringt Arbeiten zu Ende, gnadenlos, egal um welche Uhrzeit und wie es seinen Mitmenschen dabei geht.

Ich kannte das von Theo, meinem Ex-Freund, der eindeutig einen starken inneren Christopher hatte. Er wollte auch dann noch die Vorhangstange montieren, wenn ich nach einem Nachtdienst vor Müdigkeit schon doppelt sah und fast von der Leiter fiel.

Dabei läuft der Typ Christopher auch noch ständig Gefahr, sich in unwichtigen Details zu verlieren und sich in Nebenschauplätze zu verbeißen. Es ist dann, als stünde er direkt vor einem großen impressionistischen Gemälde und als starre er immer nur einen einzigen Punkt an, statt ein paar Meter zurückzutreten und entspannt das ganze Bild zu betrachten.

Jetzt fiel mir eine ganze Reihe von Menschen mit ausgeprägtem inneren Christopher ein. Eine Oberärztin an der Neurochirurgie zum Beispiel, eine frühere Kollegin von mir. Sie war für das Erstellen der Dienstpläne verantwortlich. Dabei verrannte sie sich regelmäßig mit ihrem Perfektionswahn und saß nächtelang an Korrekturen und Verbesserungen. Ihre Dienstpläne waren immer voller überflüssiger Details in rot, blau, grün und gelb.

Oder eine andere Ärztin, mit einem ebenfalls stark ausgeprägten inneren Christopher. Eine Krankenschwester rief sie einmal wegen eines Notfalls an, wegen eines epileptischen Anfalls. Die Ärztin meinte, sie könne nicht gleich kommen, denn sie müsse erst noch die Laborbefunde fertig ordnen. Zum Glück war gerade ein anderer Arzt vor Ort und konnte sich um den Patienten kümmern. Die Ärztin kreuzte erst auf, als der epileptische Anfall längst vorbei war.

Auch das Bedürfnis des Typs Christopher, alles genau zu planen, kann sich zu einer Schattenseite entwickeln. Mein Theo, zum Beispiel, wäre niemals zu einer Straßenbahnhaltestelle gegangen, ohne die nächsten fünf Abfahrtszeiten zu kennen. Wollte ich unterwegs dahin bei einem Straßenmusiker oder vor einem Schaufenster stehenbleiben, löste das bei ihm ein geradezu körperliches Unbehagen aus, so wie ihn überhaupt Dinge, die nicht nach seinen Plänen liefen, ungemein stressten.

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