Kitabı oku: «Die geteilte Seele», sayfa 2
Der Typ Christopher versucht deshalb, seine Umgebung zu kontrollieren und seine Ansichten anderen aufzudrängen. Dementsprechend angespannt ist er, wenn sich jemand seiner Kontrolle entzieht. Er hat immer Angst, Chaos könnte entstehen.
Eine meiner besten Freundinnen hatte einen Mann geheiratet, dessen innerer Christopher ebenfalls dominant war. Er konzentrierte seinen Hang zum Ordnen und Zählen am liebsten auf seine Finanzen und war unglaublich geizig. Sogar im Urlaub rechnete er jeden Abend genau aus, wer wie viel Geld wofür ausgegeben hatte. Er vergaß dabei weder das Eis am Vormittag noch den Toiletteneintritt am Nachmittag. Allerdings kotzte er regelmäßig das Klo voll, weil er aus Sparsamkeit verdorbene Lebensmittel gegessen hatte.
Ich habe Tränen gelacht, als mir diese Freundin vom Ordnungswahn ihres Christopher-Mannes, der selbst im Schlafzimmer seinen Ausdruck fand, erzählte. »Zuerst von vorne, dann von hinten, dann von der Seite, immer nach Plan«, sagte sie. Sie hatte den Verdacht, dass er dabei auch einem genauen Zeitplan folgte und ständig auf die Uhr sah.
Ein Freund von mir bekam auf die Frage, warum sich seine Frau, die ebenfalls einen ausgeprägten inneren Christopher hatte, von ihm trennte, die Antwort: »Weil du, egal wie oft ich es dir sage, immer die Klopapierrolle verkehrt herum aufhängst. Ich halte das nicht mehr aus.«
In den Wohnungen des Typs Christopher ist nicht nur alles geometrisch angeordnet, sondern auch spiegelblank. Schuhe im Schuhregal sind nicht nur millimetergenau nebeneinander abgestellt, nach Farben, Absatzhöhe und Jahreszeiten sortiert, sondern auch auf Hochglanz poliert. In den Kleiderschränken sind oft sogar die Abstände zwischen den einzelnen Kleiderbügeln genau gleich.
Der Typ Christopher macht uns auch in vielerlei Situationen des Alltags das Leben schwer. Diese Menschen sind diejenigen, die als Beamte, Lehrer oder Vorgesetzte eisern an ihren Regeln und Grundsätzen festhalten und niemals ein Auge zudrücken. Sie sind die Busfahrer, die keine Sekunde warten, die Finanzbeamten, die sich auch noch den kleinsten Beleg vorlegen lassen, und die Verkäuferinnen, die hinter der um Punkt 18 Uhr verschlossenen Ladentür den Kopf schütteln, wenn wir dringend noch etwas brauchen.
In ihrer übermäßigen Korrektheit äußert sich auch, oft ohne dass es ihnen selbst bewusst ist, die Aggression von Menschen mit dominantem innerem Christopher. Sie kann bis ins Sadistische gehen und so zu einer Art von Machtausübung werden. Dementsprechend fühlt sich der Typ Christopher auch von Berufen angezogen, die ihm Macht verleihen. Er geht gerne zum Militär oder wird Polizist, Richter, Lehrer oder Staatsanwalt.
Die guten Eigenschaften des inneren Christopher: Er ist stabil, pflichtbewusst, belastbar, fleißig, zielstrebig, verantwortungsbewusst, zuverlässig und gewissenhaft.
Die schlechten Eigenschaften des inneren Christopher: Er ist pedantisch, starr, geizig, unflexibel, zwanghaft, engstirnig, kontrollierend und stur.
Shird musste wegen eines Notfalls in die Ambulanz zurück und ich ging inzwischen zur Dienstübergabe. Während ich unter den großen Tannenbäumen des Krankenhausparks zu unserem Pavillon schlenderte, fiel mir ein Interview mit Isabel Marant ein, das ich jüngst beim Friseur in der Vogue gelesen hatte.
Ich hatte die französische Designerin immer für ihren Stil, ihre Kreativität und ihr Leben bewundert. Unzählige Artikel hatte ich schon davor über sie gelesen, und wenn ihre Mode auch nie meine Preisklasse gewesen war, hatte ich doch stets versucht, ihren lässigen Stil zu imitieren.
Ich kannte Fotos der Ateliers von Isabel Marant, die voll mit Skizzen, Kleiderständern, Kleidungstücken, Stiften, Fotos, Büchern, Models und Accessoires waren. Sie hatten mich darin bestätigt, dass Kreativität nur im Chaos entstehen konnte. In jenem Interview erzählte sie allerdings, dass sie überaus strukturiert und geordnet sei, und dass sie gut rechnen und überhaupt gut mit Zahlen umgehen könne.
Ich war überrascht. Nichts von dem, wie ich mir Isabel Marant immer vorgestellt hatte, war danach noch gültig. Jetzt wurde mir klar, dass unter ihren vier Persönlichkeiten Christopher eine tragende Rolle spielte und in ihrem der Kreativität gewidmeten Leben für Ordnung sorgte. Vielleicht machte er damit ihre Erfolge sogar erst möglich.
Wenn Isabel Marant so einen starken Christopher hat, will ich auch einen, grübelte ich, vielleicht müsste ich mich wirklich mit ihm anfreunden, so wie es Shird vorgeschlagen hatte. Allerdings mit der netten Version von ihm. Der penible, kontrollierende und potenziell geizige Christopher fühlte sich für mich nach wie vor eher wie ein bösartiger Gehirntumor an.
Mit einem dominanten Christopher …
… haben wir einen ausgeprägten Wunsch nach Beständigkeit. Wir haben eine Sehnsucht nach Dauer, nach einer verlässlichen Wiederkehr des Gewohnten und Vertrauten.
Das ist an und für sich nichts Schlechtes, auch wenn es in einer dynamischen Welt wie unserer, mit ständigen Veränderungen, so scheinen mag. Dauer und Wiederkehr der gleichen Eindrücke sind schon in unserer Kindheit wichtig für die Entwicklung unseres Gedächtnisses und für unsere Orientierung in der Welt.
Beides gilt auch für uns als Erwachsene. Nur wenn wir so etwas wie Beständigkeit in uns selbst entwickeln, können wir mit den laufenden Veränderungen und dem Chaos des Lebendigen umgehen und es einordnen.
Wenn unser innerer Christopher aber zu dominant ist, dann ist unsere Sehnsucht nach Dauer und damit nach Sicherheit zu stark ausgeprägt. Wir haben dann Angst vor Veränderungen. Wir wollen dann immer alles beim Alten belassen und halten eisern an Gewohnheiten und Grundsätzen fest. Wir sind skeptisch gegenüber allem Neuen. Wir sind besonders vorsichtig und handeln vorausblickend.
Das macht uns dann einerseits zu genauen Planern, andererseits wollen wir aus Angst vor Veränderungen immer die Oberhand gewinnen. Wir wollen so viel wie möglich von unserer Umgebung kontrollieren und alles in Schemata und Regeln zwängen. Wir würden unseren Mitmenschen am liebsten vorschreiben, wie sie zu sein haben, statt uns darauf einzulassen, wie sie nun einmal sind.
Wir neigen mit einem dominanten inneren Christopher dazu, Selbstbeherrschung und Kontrolle zu idealisieren und unsere Aggressionen äußern sich häufig in übermäßiger Korrektheit oder pedantischer Ordentlichkeit. Durch unseren ständigen Drang, uns zusammennehmen zu müssen und unsere ständige Selbstkontrolle entwickeln wir mit einem dominanten Christopher auch besonders leicht hypochondrische Symptome.
In der Liebe kennen wir uns mit einem dominanten Christopher nicht wirklich aus, denn das Irrationale ist für uns beunruhigend. Wir versuchen, uns in einer Beziehung an Vereinbarungen zu halten, doch wirklich sicher fühlen wir uns nur, wenn wir diejenigen sind, die alle Entscheidungen treffen.
Von unseren Partnern verlangen wir, sich auf genau die Art von Beziehung einzulassen, die wir uns vorstellen. Gleichzeitig erleben wir Beziehungen oft als schicksalhaft und können uns gar nicht vorstellen, dass sie einmal enden könnten.
Mit einem besonders schwach ausgeprägten Christopher …
… haben wir Probleme damit, uns zu organisieren und eine gewisse Konstanz im Leben zu entwickeln und zu erhalten. Wir verlieren oft den Überblick, denn so wie unsere schnelllebige, sich ständig verändernde Welt Anpassungsfähigkeit und Flexibilität verlangt, verlangt sie auch die Fähigkeit, Ordnung und Stetigkeit zu bewahren. Mit einem schwach entwickelten Christopher überfordern uns diese ständigen Veränderungen schnell, Stress und Burnout sind nicht selten die Folge.
Partner und Freunde sind häufig die Leidtragenden. Allzu oft vergessen wir Geburtstage oder sagen ein Treffen im letzten Moment ab, weil wir den Überblick über unsere Termine und Verpflichtungen verloren haben. Insbesondere für den Partner ist es schwer, uns als verlässlich wahrzunehmen, worunter häufig einer der wichtigsten Bausteine einer Beziehung leidet, das Vertrauen.
Im Beruf kann es häufig zu Fehlern kommen, besonders in stressigeren Zeiten. Wir verlegen Akten, vergessen wichtige E-Mails und Termine, machen das, was im Volksmund als Schlampigkeitsfehler bezeichnet wird.
Mit einem schwachen Christopher leben wir häufig einfach in den Tag hinein, machen uns wenig Gedanken über Verpflichtungen gegenüber uns und anderen Menschen. Dies kann eine Zeit lang durchaus ein entspannter Zugang zum Leben sein, bis sich unsere Verpflichtungen so weit aufgetürmt haben, dass sie auf uns herabstürzen und uns zu erdrücken erscheinen.
Während vor mir die Bettenstation in Sichtweite kam, suchte ich Namen für die drei anderen Persönlichkeiten, die wir in uns vereinten. Sie sollten inspiriert von Menschen sein, die ich kannte, und bei denen die jeweilige Persönlichkeit klar dominant war.
Diese mit Christopher dann insgesamt vier Namen würden es mir leichter machen, mich mit den hinter ihnen stehenden Persönlichkeiten zu beschäftigen. Von einer quasi medizinischen, psychiatrischen Auseinandersetzung mit mir selbst, den Menschen in meiner Umgebung und meinen künftigen Patientinnen und Patienten würde das Ganze zu einem kleinen Spiel mit großer Wirkung werden.
Wie sollte ich die von der Wissenschaft so trocken und abfällig als »schizoid«, »depressiv« und »hysteriform« eingestuften Persönlichkeiten nennen?
SOPHIE
Der Dienst verlief zum Glück ruhig, weshalb ich mich schon am späten Nachmittag mit einer Gymnastikmatte aus dem Physiotherapieraum auf dem Flachdach unseres Pavillons in die Sonne legen konnte. Aus Sicherheitsgründen war es streng verboten, das Dach zu betreten, und ich musste dafür durch das Fenster unseres Dienstzimmers klettern, aber UV-Strahlung erhöht bekanntlich den Spiegel des Glückshormons Serotonin im Gehirn, was wiederum gut für meine Leistung im Job war. Ich fand das relevanter als pingelige Vorschriften.
Während ich überlegte, meine Sonnencreme und die mit Wasser gefüllte Sprühflasche aus dem Dienstzimmer zu holen, läutete mein Telefon. Eine ehemalige Kollegin von der Neurochirurgie, Sophie, war dran. Sie beschwerte sich, dass sie gerade Nachtdienst gehabt hätte und trotzdem den ganzen Tag in der Klinik bleiben musste, weil eine Patientin bei einer nächtlichen Operation verstorben war. »Konnte die nicht warten, bis sie in der Intensivstation liegt?«, schimpfte sie.
Auch wenn Sophie schrecklich empathielos war, hatte sie recht. Ich hatte es selbst oft genug erlebt. Tote am OP-Tisch machen Probleme. Für Neurochirurgen in unserem System war es besser, wenn sie erst nach einer Operation starben. Starben sie während der Operation, bedeutete das jede Menge Erhebungen und Bürokratie.
»Sie hatte wegen der Verletzungen von ihrem Autounfall sowieso keine Chance mehr«, sagte Sophie, »aber wir konnten sie natürlich nicht einfach liegen lassen. Du weißt ja, wie es ist. Jetzt habe ich sie alle am Hals, den Chef, den Anästhesie-Chef, den Gerichtsmediziner, und ich muss sinnlose Protokolle schreiben.«
Dass sie sich so gar keine Gedanken über diesen traurigen Fall und das Schicksal dieser armen Frau und ihrer Familie machte, wunderte mich nicht, denn so kannte ich Sophie. Sie war immer distanziert, immer unabhängig, und mir wurde klar, dass ihr Anruf ausgerechnet jetzt kein Zufall sein konnte. Ich schien ihn bei meiner Suche nach lupenreinen Vertretern der übrigen drei Persönlichkeiten, die es in uns zu vereinen gilt, magisch angezogen zu haben.
Als ich an der Neurochirurgie angefangen hatte, war Sophie bereits seit mehreren Jahren dort gewesen. Sie unterschied sich auf den ersten Blick wohltuend von den anderen Neurochirurgen. Die prügelten sich geradezu um interessante Gehirnoperationen, weil jede einzelne davon ihren Lebenslauf attraktiver machte. Doch Sophie konzentrierte sich vor allem auf Wirbelsäulenoperationen, einen unter Neurochirurgen eher unbeliebten, weniger prestigeträchtigen Bereich. »Brain is fine, but money is spine«, sagte sie gerne – »Gehirn ist nett, aber Geld bringt der Rücken.« Für sie war der Arztberuf auch keine großartige Berufung, sondern nur eine gute Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Was genau sie dabei machte, war ihr weniger wichtig, und je geringer ihr Aufwand war, desto besser.
Sophie mochte weder die narzisstischen Neurochirurgen, die sich über ihre Operationen definierten, noch die – nach ihren Worten – »aufopfernden Heuchler, die einzig für den Arztberuf leben«. »Am liebsten wäre es mir, ich könnte einfach nur vor mich hin operieren«, sagte sie einmal zu mir, »mich nur mit der Materie beschäftigen, ohne mit anderen Menschen zu tun zu haben und ohne mir das ständige Gequatsche von Kollegen, Krankenschwestern oder Patienten anhören zu müssen.«
An einfühlsamen Gesprächen mit Angehörigen nach Dienstschluss hatte sie erst recht kein Interesse. »Gefühlsduselei ist nicht mein Job«, sagte sie. »Was für einen Chirurgen will ein Patient? Einen, der ihn rational und gut operiert oder einen, der am offenen Schädel oder am offenen Rücken wegen der schlechten Diagnose zu plärren beginnt?«
Bei Patienten mit irreversiblen Hirnschädigungen, bei denen absehbar war, dass sie in der darauffolgenden Nacht sterben würden, schrieb sie bereits am Abend neben ihrer Pizza die Karten vor, die sie für die Pathologie an den Händen und den Zehen der Leiche befestigen würde. Nur den genauen Zeitpunkt des Todes ließ sie noch offen.
»Ich kann ihm sowieso nicht mehr helfen«, meinte sie einmal lapidar über einen jungen Mann, der in einer Kurve mit seinem Motorrad gestürzt und gegen eine Leitplanke geprallt war. »Warum soll ich diese Arbeit auch noch um drei Uhr morgens machen, wenn ich sie schon jetzt nebenbei erledigen kann?«
Sophie war dabei eine immer wieder überraschend gute Wissenschaftlerin, denn sie dachte analytisch und informierte sich laufend über neue Forschungsergebnisse. Sie hinterfragte und überprüfte alles und ließ sich nichts vormachen oder sich gar täuschen.
Es gab für sie nie einen Grund, Dinge auch weiterhin auf eine bestimmte Art zu machen, nur weil sie bisher so gemacht wurden. »Sie können gerne um 17 Uhr Visite machen«, hatte sie gleich in ihrem ersten Ausbildungsjahr dem leitenden Oberarzt der Station erklärt, »aber ohne mich. Denn pünktlich um 15.30 Uhr, wenn meine Dienstzeit endet, fahre ich aus der Tiefgarage.« Die Usance, dass wir Neurochirurgen trotzdem bis zur Visite blieben, ohne unseren Mehraufwand gegenüber irgendjemandem auch nur zu erwähnen, war ihr egal.
Sophie war ein Mensch, den fast alle wegen ihrer Stärke und Unabhängigkeit bewunderten, wobei viele auch Angst davor hatten, ihre unverblümte Meinung direkt ins Gesicht gesagt zu bekommen. Ihre Kommentare waren klar und kompromisslos. Besonders die Apparatschiks im System empfanden sie ob ihrer scharfen Beobachtungsgabe und ungefilterten Meinung als unangenehm.
»Hast du wirklich Medizin studiert, oder bist du einer dieser Spinner, die einen Arztmantel klauen und dann auf wichtig machen?«, hatte sie einmal einen der Neurochirurgen in der Morgenbesprechung vor allen anderen gefragt, nachdem er einem nierenkranken Patienten von zehn gängigen antiepileptischen Medikamenten genau jenes gegeben hatte, das die Niere am stärksten belastete. »So etwas macht doch nur ein Laie, der keine wirkliche Ahnung von Medikamenten hat. Kein richtiger Arzt hätte dieses Medikament bei einem nierenkranken Patienten verordnet.« Das alles sagte sie sachlich und frei von jeglicher Emotion.
Dass der betreffende Kollege sich später über sie beschwerte und beide schließlich zum Chef mussten, ließ sie kalt. Sich vor Schuldirektoren, Praktikumsleitern oder Vorgesetzten wegen Aussagen, die andere als frech empfanden, und wegen Betragens, das andere als ungehörig empfanden, verantworten zu müssen, war sie schließlich gewohnt.
Sophie war es dabei herzlich egal, was andere von ihr dachten. Sie sah sich als unabhängigen Menschen, der von niemandem etwas brauchte und niemandem Rechenschaft schuldig war. »Wenn der Chef glaubt, dass ich mich bei diesem Pfuscher entschuldige, wird er sich wundern«, hatte sie vor dem betreffenden Gespräch zu mir gesagt. »Der soll froh sein, dass er etwas von mir lernen kann.«
Sophie steht für Unabhängigkeit und Distanz.
Menschen ihres Typs arbeiten gerne selbstständig und unabhängig. So hatte Sophie kein Problem, als sie gleich an ihrem zweiten Arbeitstag allein in die neurochirurgische Ambulanz musste. Sie hatte ein Buch über das Fach dabei und machte sich in Ruhe ein Bild von den Patienten. Das war ihr lieber, als den Belehrungen eines Oberarztes lauschen und sich wie eine unselbstständige, hilflose Idiotin zu fühlen. »Ich brauche niemanden neben mir, der mir die Hand hält«, sagte sie einmal zu mir. »Wenn ich Hilfe nötig habe, dann frage ich danach.«
Der Typ Sophie, den die Wissenschaft veraltet und so wenig schmeichelhaft, dass es irreführend klingt, »schizoid« nennt, ist unbestechlich, lässt sich nicht blenden und viele empfinden ihn deshalb als lästig. »Ihre Ergebnisse können nicht stimmen«, hatte der Oberarzt einmal zu Sophie gesagt, nachdem sie Messungen an einem Hirntumor nach einer Strahlentherapie durchgeführt hatte. »Es ist unmöglich, dass ein Tumor nach der Bestrahlung größer ist als davor.«
Sophie hatte sich aber bereits mit der Sache befasst und war auf einen Beitrag in der renommierten neurochirurgischen Zeitschrift Neurosurgery gestoßen, deren Reviewern ebensolche Fälle auch schon aufgefallen waren, eine entsprechende Studie war zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht publiziert. Tumore, die nach der Bestrahlung anschwollen, gab es tatsächlich. Es hatte anscheinend jemanden wie Sophie gebraucht, damit dieses Wissen öffentlich gemacht werden konnte.
Der Typ Sophie ist somit sachlich, analytisch und bevorzugt Berufe, bei denen er möglichst wenig Kontakt mit anderen Menschen hat. Unter uns Ärzten sind es oft Wissenschaftler, Radiologen oder Chirurgen, die diesen Typ verkörpern. Ihre Schattenseiten fallen dort weniger ins Gewicht, auch wenn sie sich trotzdem bemerkbar machen: Kühle und Distanz. »Ich interessiere mich nicht für die Lebensgeschichte der Patienten, hatte Sophie einmal im Umkleideraum zu mir gesagt, »ich interessiere mich nur für die neurologische Symptomatik und die MRT-Bilder.« Im Grunde waren Patienten Arbeits- und allenfalls auch Übungsmaterial für sie.
In privaten Beziehungen fällt es dem Typ Sophie oft schwer, Nähe zuzulassen. Zu groß ist die Angst vor Bindung und der daraus resultierenden Abhängigkeit, welche sich für den Typ Sophie oft so anfühlt, als würde ihn der Partner überrennen. Er braucht viel Zeit für sich allein und viele Freiräume.
Mit jemandem zusammenzuziehen war für meine ehemalige Kollegin Sophie deshalb nie ein Thema gewesen. »Ich würde es niemals aushalten, wenn ständig jemand an mir kleben würde«, hatte sie einmal zu mir gesagt. »Was kommt denn dann als Nächstes? Gemeinsam in ein Einrichtungshaus fahren oder vielleicht sogar noch heiraten und sich damit komplett aufgeben? Ich könnte niemals die Frau von jemandem sein. Diese Symbiosen, dieses Miteinanderverschmelzen würde mir die Luft zum Atmen nehmen. Allein schon der Gedanke daran macht mich ganz krank.«
Der Typ Sophie fühlt sich frei und autonom und kann deshalb auch am besten von allen Menschen mit Einsamkeit umgehen. Schließlich ist es für ihn das Wichtigste, niemanden zu brauchen, von niemandem abhängig zu sein und alles allein zu schaffen.
An Gemeinschaft ist der Typ Sophie deshalb kaum interessiert und gängigen gesellschaftlichen Normen wie »Es ist üblich, dass …« steht er zynisch und ablehnend gegenüber. Er ist Einzelgänger, lebt zurückgezogen, verschanzt sich in seiner Freizeit oft tagelang zuhause und widmet sich am liebsten Büchern oder Musik.
Der Typ Sophie hat so auch eine gewisse Vorliebe für Anonymität. Er meidet kleine Buchgeschäfte, in denen ihn Verkäufer beobachten, um ihn im richtigen Moment anzusprechen. Da sind ihm große Filialen lieber, auch wenn er dort zehn Minuten lang einen Verkäufer suchen muss, wenn er dann doch einen braucht.
Als Arzt auf Kongressen oder Tagungen gehört der Typ Sophie zu denjenigen, die sich zu Mittag oder an den Abenden, wenn die anderen gemeinsam essen gehen oder etwas unternehmen, komplett zurückziehen. Denn meist versteht sich der Typ Sophie nur mit wenigen richtig gut und hat deshalb keine Lust auf große Runden. Es belastet ihn schon genug, bei solchen Gelegenheiten den ganzen Tag mit Kollegen verbringen zu müssen.
»Bei den Jahrestagungen der Neurochirurgen wäre es mir jedes Jahr das Liebste, ich könnte unsichtbar sein«, erzählte mir Sophie einmal. »Dann könnte ich mir in Ruhe die Vorträge anhören, ohne ständig Small Talk führen zu müssen. Dann könnte ich auch in Ruhe durchs Ausstellungsgelände gehen, ohne dass mich ständig Pharma-Vertreter anquatschen.«
Nach einem Kongress in München meinte sie: »Der beste Abend war der mit dem Abschiedsdinner. Da sind die ganzen neurochirurgischen Trotteln fein ausgegangen und ich konnte mich in aller Ruhe in ein gemütliches Wirtshaus setzen, ohne ständig eines dieser blöden Gesichter sehen zu müssen.«
Jemand hatte einmal von Sophie behauptet, sie würde Friseuren und Taxifahrern Trinkgeld fürs Schweigen geben. Ich konnte mir gut vorstellen, dass das stimmte.
Die guten Eigenschaften der inneren Sophie: Sie ist stark, unabhängig, direkt, realistisch, selbstständig, authentisch, hartnäckig und lässt sich nicht täuschen.
Die schlechten Eigenschaften der inneren Sophie: Sie ist distanziert, kühl, emotionslos, grob, unsensibel, wenig einfühlsam, abweisend und unnahbar.
Mit einer dominanten Sophie …
… haben wir den dringenden Wunsch, einmalige Einzelwesen und unverwechselbare Individuen zu sein. Wir versuchen, so unabhängig wie möglich zu sein und ja niemanden zu brauchen. Wir distanzieren uns gerne von unseren Mitmenschen, halten Abstand, vermeiden vertraute Nähe, haben Angst, uns zu öffnen, uns hinzugeben und sind misstrauisch und überaus rational. Nähe, Sympathie oder Zuneigung erleben wir leicht als Bedrohung.
Wir entwickeln das Bedürfnis, unverletzbar zu sein und unsere Gefühle kontrollieren zu müssen. Zu diesem Zweck legen wir uns eine Fassade zu, hinter die niemand mehr blicken kann. Von außen wirken wir distanziert, kühl und sachlich, aber allzu leicht auch schroff und seltsam. Kein Wunder, dass wir mit dieser Prägung leicht Singles bleiben.
Mit einer besonders schwach ausgeprägten Sophie in uns …
… haben wir Probleme damit, uns als unabhängig von anderen wahrzunehmen. Wir fühlen uns schnell einsam und sind am besten immer von vielen Menschen umgeben. Unsicherheit gegenüber unseren eigenen Gedanken und Überzeugungen führt dazu, dass wir uns stark an den Meinungen anderer orientieren.
In der Arbeit fragen wir häufig, wie genau eine bestimmte Tätigkeit gemacht werden sollte und ob wir auch alles richtig machen. Dies kann in anderen den Eindruck entstehen lassen, wir wären unsicher, unselbstständig oder sogar inkompetent.
In einer Beziehung zeigt sich ein ähnliches Muster. Wir haben es am liebsten, wenn unser Partner uns genau sagt, was wir machen sollen. Getrieben von unserer eigenen Unsicherheit und Unselbstständigkeit suchen wir die permanente Bestätigung des Partners und wären am liebsten zu jeder Zeit mit ihm zusammen.
Diese Faktoren können oft erdrückend für den Partner sein, da er das Gefühl haben kann, die Verantwortungs- und Entscheidungsgewalt auf seinen Schultern tragen zu müssen.
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.