Kitabı oku: «Einführung in die Public History», sayfa 5

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Bei der Kategorie Class scheint es unkomplizierter zuzugehen, wenngleich etwa immer noch der Mythos einer nivellierten Mittelstandsgesellschaft nach Helmut Schelsky oder das Reden von der vermeintlichen Gemütlichkeit im Rheinischen Kapitalismus allzu lebhafte Diskussionen über materielle Ungleichheiten in Vergangenheit und Gegenwart zu hemmen scheinen und die soziale Frage in der ‚alten Bundesrepublik‘ ja ohnehin bis in die 1970er Jahre als gelöst galt.45 Auf dem Tisch liegen jedoch immerhin zahlreiche diskussionswürdige Konzepte von Class, etwa das marxistische Klassenparadigma, die Bourdieusche Ausdifferenzierung in ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital oder der von Helmut Schelsky popularisierte Schichtungsbegriff.46 Nachhaltig wurde der Begriff der Klasse von Max Weber geprägt, der die „Klassenlage“ definierte als die

„Typische Chance […], welche aus Maß und Art der Verfügungsgewalt (oder des Fehlens solcher) über Güter und Leistungsqualifikationen und aus der gegebenen Art ihrer Verwertbarkeit für die Erzielung von Einkommen und Einkünften innerhalb einer gegebenen Wirtschaftsordnung folgt“47.

Zur Schärfung der Kategorie Gender kann produktiv eine Definition der australischen Geschlechterforscherin Raewyn Connell aufgegriffen werden:

„Gender is the structure of social relations that centres on the reproductive arena, and on the set of practices (governed by this structure) that bring reproductive distinctions between bodies into social processes. To put it informally, gender concerns the way human society deals with human bodies, and the many consequences of that ‚dealing‘ in our personal lives and our collective fate“48.

Gender wird Connell zufolge also „als eine Struktur sozialer Beziehungen“ angesehen und beschreibt die „Art und Weise, wie eine Gesellschaft dem Phänomen der biologischen Reproduktion sozialen und kulturellen Sinn verleiht“49. Eine solche Definition von Gender verzichtet darauf, eine einzige Differenzausprägung von Gender, nämlich jene von Mann und Frau, a priori als konstituierendes Element von Geschlecht zu begreifen. Connells Definition ist gerade deshalb zielführend, „weil sie geeignet ist, im globalen Diskurs alles das aufzunehmen, was in verschiedenen Weltteilen als essentiell empfunden wird, ohne selbst essentialistisch zu werden“50.

Warum handelt es sich bei diesem Bündel dreier Begriffe um Kategorien, also um „die grundlegendsten und allgemeinsten Begriffe einer Wissenschaft“, die als „Denkregister […] wesentliche Eigenschaften und Beziehungen“51 zusammenfassen? Race, Class und Gender geben Auskunft über grundlegend unterschiedliche Differenzierungsprozesse: Während racialisation einen Prozess beschreibt, der eine Gruppe von Menschen als die grundsätzlich ‚Anderen‘ markiert, als „eine diskrete und besondere, sich selbst reproduzierende Bevölkerung“52 entwirft, sie dauerhaft aus der ‚eigenen‘ Gruppe ausschließt und damit überhaupt erst die ‚eigene‘ Gesellschaft konstituiert, können Class und Gender als Differenzierungsmodi innerhalb einer Gesellschaft wirken: Class, indem es hier primär um die Verteilung von (im weitesten Sinne) ökonomisch relevanten Ressourcen geht, Gender, indem soziale Differenzierungen entlang einer Diskussion der Frage, wie die Gesellschaft ihre vermeintlich biologische Reproduktionsaufgabe erfüllt, entstehen.

Zentral ist nun aber, dass diese drei sozialen Kategorien nicht losgelöst voneinander wirken, sondern relational aufeinander bezogen sind, sich in sozialen Differenzierungsprozessen stets neu miteinander verweben und auf unterschiedlichen Herrschaftsebenen wirksam werden.

1.Auf einer „Makro- und Mesoebene von Sozialstrukturen“53 durchkreuzen soziale Kategorien gesellschaftliche Organisationen und Institutionen, also gesellschaftliche Phänomene wie Familie, Arbeitsmarkt, Staat, etc., ebenso Subsysteme des Staates wie Rechtssysteme.

2.Auf einer „Mikroebene sozial konstruierter Identitäten“54 kann sichtbar werden, wie sich Menschen über Kategorien wie Race, Class und Gender selbst entwerfen. Hier geht es also nicht um die Herrschafts-Makrobene einer übergeordneten Sozialstruktur, sondern darum, wie Individuen durch ihre Interaktionen ihre je individuellen Identitäten im Spannungsfeld von etabliertem Wissen zu Race, Class und Gender herstellen.

3.Schließlich kommt eine Ebene der symbolischen Repräsentationen hinzu. Gesellschaften sind durch gemeinsame Werte, kulturelle Ordnungen und Überzeugungen sinnhaft integriert. Es gibt in einer Gesellschaft „Bilder, Ideen, Gedanken, Vorstellungen oder Wissenselemente, welche Mitglieder einer Gruppe, Gemeinschaft oder Gesellschaft kollektiv teilen“55. Eben solche Bilder, Ideen, Gedanken, Vorstellungen oder Wissenselemente (zum Beispiel unser Alltagswissen zu Geschlecht oder die in Gesellschaften auftretenden Geschichtskulturen) kann man als symbolische Repräsentationen bezeichnen, in denen die Kategorien Race, Class und Gender wirksam sind.

Auch diese drei Ebenen, also die Herrschafts-Orte, an denen Race, Class und Gender wirken, dort also Vielfalt und Ungleichheiten herstellen und damit Lebenschancen verteilen, sind miteinander verzahnt und wirken interdependent aufeinander ein. Dabei richtet sich das Erkenntnisinteresse insbesondere auf die Schnittstellen sozialer Kategorien und Herrschaftsebenen, so zum Beispiel auf der Ebene der strukturellen Herrschaftsverhältnisse auf den Zusammenhang von Kapitalismus (hier wirkt Class) und Patriarchat (hier wirkt Gender) und welche Auswirkungen ein solcher Zusammenhang für die Genese kapitalistisch determinierter Geschlechtsidentitäten etwa ‚des Arbeiters‘, ‚der Hausfrau‘, ‚der Prostituierten‘ oder ‚des Strichjungen‘ haben kann. Auch ließe sich das Thema „Nation“ sowohl als Nationalstaat (also als strukturelles Herrschaftsverhältnis) wie auch als Prozess von nation building (also auf der Ebene der symbolischen Repräsentation und der Identitätsbildung) analysieren. Es ließe sich damit zeigen, wie das Konstrukt der Nation auf allen drei Herrschaftsebenen als machtvoller In- und Exklusionsmechanismus sowohl mit rassistischen, aber auch mit Gender-bezogenen und sozioökonomischen Kategorisierungen in der Geschichte hergestellt wurde und in der Gegenwart wird56.

Damit ist das Programm der Diversity und Intersectionality Studies im Prinzip benannt: Die Vielfalt sozialer Differenzierungen wird durch eine Wechselwirkung sozialer Kategorien (gegenwärtig gebräuchlich, etabliert und wohl auch kategorial verwendbar: Race, Class und Gender) beschrieben. Wie aus sozialen Differenzierungen soziale Ungleichheiten werden, wird an Schnittstellen, den intersections betrachtet, an denen sich Herrschaftsebenen (Makro- und Mesoebene, Identitäten, symbolische Repräsentationen) und soziale Kategorien kreuzen und hier den Blick freigeben für die Genese sozialer Ungleichheit. Auf diese Weise kann auch erkannt werden, wie es durch Wechselwirkungen sozialer Kategorien zu einer Potenzierung oder zu einer Abschwächung von sozialen Ungleichheiten kommen kann.

Was bedeuten diese Ausführungen für die Public History? Jede Präsentation von Geschichte in der Öffentlichkeit findet in einer heterogenen Gesellschaft statt, in der Partizipationsmöglichkeiten entlang sozialer Kategorien ausgehandelt werden. Institutionen der Public History als Bestandteil der Makro- und Mesoebene, Geschichtskultur als Modus der symbolischen Repräsentation sowie die (historischen) Identitäten von Rezipient*innen und auch von Produzent*innen von Geschichte in der Öffentlichkeit werden durch solche sozialen Kategorien permanent durchkreuzt, tragen unaufhörlich zu ihrer (Re-)Produktion bei und machen die Aushandlung von Geschichte in der Öffentlichkeit zu einer macht- und bedeutungsvollen Angelegenheit. Für die Professionalisierung von Public Historians bedeuten diese Ausführungen, dass eine Kenntnis solcher Machtstrukturen, wenn nicht unabdingbar, so doch zumindest äußerst hilfreich bei der Analyse der gesellschaftlichen Wirklichkeit erscheint, in der Geschichte öffentlich wird.

2.4Gesellschaftliche Dimensionen II: Inklusion 57

Diskussionen über die Bedeutung von Inklusion haben sich bisher zurecht prioritär auf die schulisch-vermittelnden Arbeitsfelder gerichtet, scheint hier doch auch eine tatsächliche Priorität zu liegen: Immerhin verpflichten sich die Unterzeichnerstaaten der Convention on the Rights of Persons with Disabilities vom 13. Dezember 2006, darunter die Bundesrepublik, zur Etablierung eines inclusive education system, in dem der gemeinsame Unterricht von Schüler*innen mit und ohne Behinderung der Regelfall zu sein hat. Es heißt: „Ausgehend vom Prinzip der Gleichberechtigung gewährleistet die UN-Behindertenrechtskonvention damit ein einbeziehendes (inklusives) Bildungssystem auf allen Ebenen und lebenslanges Lernen.“58

Es lohnt sich jedoch, auch den Blick darauf zu richten, vor welche Herausforderungen sich eine inklusive Erinnerungs- und Geschichtskultur gestellt sieht, die die Ansprüche von Inklusion ernst nimmt. Wenn auch völlig zurecht primär schulisch-pragmatische Arbeitsfelder der Geschichtsdidaktik in das Blickfeld von Inklusionsdebatten geraten, so fordert die bereits genannte UN-Konvention eben auch „die volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft und Einbeziehung in die Gesellschaft.“59

Insbesondere öffentliches Reden über Geschichte und öffentliche Erinnerungsrituale richten sich fast immer noch ausschließlich an nationalen Bedürfnissen aus, feiern und betrauern meist staatliche Zäsuren oder das Leben und Wirken von vermeintlich großen Männern. Damit stabilisieren sie das Nationale als hegemonialen Gedenkrahmen und wirken in modernen Wanderungsgesellschaften exkludierend. Historische Erfahrungen eines zumeist als sesshaft gedachten Nationalkörpers werden auf diese Weise zum Maßstab des Erinnerns. Hierzu lohnt sich der Blick auf eine Rede des ehemaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck, die das Staatsoberhaupt am 21. März 2015 im bedeutenden peruanischen Gedenkort Lugar de la Memoria in Lima gehalten hat und in der er über historische Erfahrungen der deutschen Nation nachdachte:

„Es geht mir darum, Ihnen zu zeigen: Unsere Erfahrung hat unsere Nation nicht kaputt gemacht, sondern gestärkt. Und ich wünsche mir einen weiteren Austausch zwischen Peru und Deutschland in diesen Fragen. Lassen Sie uns gemeinsam diskutieren, wie […] man es schafft, zuerst die Fakten und damit die Wahrheit auf den Tisch des Hauses zu bringen. Und dann auf der Ebene dieser Fakten einen manchmal schonungslosen, aber letztendlich doch befriedigenden Diskurs in Gang zu setzen.

Wir Deutsche wollen da an Ihre Seite treten. In genau derselben Weise, wie wir Ihnen zur Seite stehen, wenn es darum geht, Infrastruktur zu stärken oder die Staatlichkeit zu verbessern oder die Rechtsordnung sicherer zu machen. All das sind Ebenen der Begegnung, die ich für wichtig und schön halte. Aber es gibt auch eine Begegnung der gebrannten Kinder. Und wenn die bei ihrer wirklichen Wirklichkeit bleiben, dann gibt es Zukunft aus Wahrheit.“60

Betrachtet man diese Rede als einen Ausdruck von hegemonialer Erinnerungskultur (der Bundespräsident kann hier wohl zurecht als ihr wichtigster Repräsentant herangezogen werden), so lassen sich in diesem nur kurzen Textauszug ganz unterschiedliche Dinge beobachten: Zum einen scheint die Bundesrepublik in ihrer Gegenwart sehr zufrieden mit ihrer Art und Weise des Erinnerns zu sein, insbesondere wenn die eigene Geschichte erinnert wird. Diese eigene Geschichte wird hier noch immer als die Geschichte einer Nation, nicht als die Geschichte der widerspenstigen und eigen-sinnigen Menschen, die in dieser Nation gelitten und gehandelt haben, erzählt. Zudem scheint es ‚uns‘ in dieser Nation gelungen zu sein, aus der Geschichte gelernt zu haben, vor allem aus der Geschichte des Nationalsozialismus, und zwar auf positive Weise. Historische Erfahrung und Erinnern erscheinen hier zudem als machtvolle Ressourcen im politischen Diskurs – sie können sogar dabei helfen, Rechtsordnungen zu exportieren und wirtschaftlich vielversprechenden Infrastrukturprojekten einen kulturellen Kitt zu verleihen. Zudem verbirgt sich ein positivistisches Geschichtsverständnis hinter Aussagen dieser Art, es wird von „Wahrheit“ und „Fakten“ gesprochen, statt von Deutungen und vom Aushandeln. Historische Erfahrung als Erinnern an die eigene Geschichte, so schließlich die Quintessenz des Staatsoberhauptes, „hat unsere Nation nicht kaputt gemacht, sondern gestärkt.“

Von Inklusionsgedanken sind Äußerungen dieser Art kaum inspiriert. Wir können aber Ansätze und Ansprüche von Inklusion konstitutiv in Erinnerungs- und Geschichtskultur einfügen. Dabei soll ein weiter Inklusionsbegriff verwendet werden, der sich nicht ausschließlich auf die Kategorie der sogenannten körperlichen und geistigen Behinderung bezieht. Inklusion wird hier nach Andreas Hinz verstanden als ein

„allgemeinpädagogische[r] Ansatz, der auf der Basis von Bürgerrechten argumentiert, sich gegen jede gesellschaftliche Marginalisierung wendet und somit allen Menschen das gleiche volle Recht auf individuelle Entwicklung und soziale Teilhabe ungeachtet ihrer persönlichen Unterstützungsbedürfnisse zugesichert sehen will. […] damit wird dem Verständnis der Inklusion entsprechend jeder Mensch als selbstverständliches Mitglied der Gemeinschaft anerkannt.“61

Kersten Reich präzisiert vor dem Hintergrund eines solchen weiten Inklusionsbegriffes fünf

„Standards der Inklusion:

Ethnokulturelle Gerechtigkeit ausüben und Antirassismus stärken,

Geschlechtergerechtigkeit herstellen und Sexismus ausschließen,

Diversität in den sozialen Lebensformen zulassen und Diskriminierungen auch in den sexuellen Orientierungen verhindern,

Sozioökonomische Chancengleichheit erweitern,

Chancengleichheit von Menschen mit Behinderung herstellen“62

Das freilich ist eine Herausforderung – von allen Akteur*innen des Erinnerns für die akademische Geschichtswissenschaft vielleicht am allermeisten, denn das bedeutet:

1.Inklusive Erinnerungskultur zeigt auf, wer sich an wen erinnert und zu welchem politischen Zweck. Auf diese Weise wird Erinnerung als Mittel von Herrschaft sichtbar, Erinnerungskultur wird zu Herrschaftskritik.

2.Sie zeigt auf, wer beim Erinnern marginalisiert wird, oder noch genauer: wer vergessen wird – und deshalb in unserer so historisch überbordenden Gegenwartsgesellschaft gar nicht erst über die Ressource von Geschichte verfügen darf. Hier geht es um eine Sichtbarmachung des Vergessenen.

3.Sie fordert, dass die Teilhabe an Geschichte für alle möglich sein muss – weil Geschichte (gerade das zeigt die Rede von Joachim Gauck) zu einer mächtigen Ressource geworden ist, die als kultureller Kitt unser Machtgefüge absichert. Inklusive Erinnerungskultur fordert also Empowerment durch Erinnern und Geschichte für die Machtlosen.

Inklusive Geschichts- und Erinnerungskultur – bezieht man sich dabei auf die Begriffsarbeit aus Kapitel 1.3 – heißt dann in jedem Fall, dass es nicht nur darum gehen kann, alle auf ihre Weise in bisherige Geschichtserzählungen zu integrieren. Das wäre bloß eine integrative Geschichts- und Erinnerungskultur, die sich dem Ziel verschreibt, aus divided memories erfolgreich shared memories zu formen. Inklusive Erinnerungskultur würde sich hingegen dem Ziel verschreiben, eine Erinnerungslandschaft zuzulassen, in der auch conflicting memories ausgehandelt werden – und in ihrer Konflikthaftigkeit auch nebeneinander stehen bleiben dürfen. Eine inklusive Geschichts- und Erinnerungskultur fragt aber außerdem nach neuen Geschichten, mit denen sich Marginalisierte, also auch die viel zitierten Subalternen, einen Geltungsstatus als historische Subjekte erkämpfen können, und mit denen sie außerdem ihren sozialen Bewegungen und ihren Kollektiven (auch jenseits eines nationalen Referenzrahmens) die Wirkungsmacht als historische Institutionen zuweisen. Und sie fragt nicht nur nach solchen Geschichten, sie erzählt sie dann auch und bringt sie in den machtvollen Diskurs der Gesellschaft ein.

Konkrete Beispiele können das bisher Gesagte veranschaulichen – und zugleich die Grenzen einer inklusiven Erinnerungskultur aufzeigen.

2.4.1Beispiel 1: Der Genozid an den Armenier*innen zu Beginn des 20. Jahrhunderts

Zurecht wurde im Frühling und Sommer 2015 gefordert, dass sich ‚die Türkei‘ auch an den Genozid an den Armenier*innen zu erinnern habe. Vertreter*innen bundesdeutscher Politik hatten recht lange gebraucht, um in diesem Zusammenhang das Wort „Genozid“ in den Mund zu nehmen. Als das dann dennoch am 23. April 2015 von Seiten des Bundespräsidenten geschah, kommentierte die Journalistin Monika Wagner in der ARD-Tagesschau:

„Komisch ist nur eins: Wenn es um deutsche Kolonialvergangenheit geht, verhalten wir uns nicht anders als die Türkei. Da gab es doch zehn Jahre vor dem Massenmord an den Armeniern den Massenmord an den Herero. (…) Auf keinen Fall will die Bundesregierung das bis heute als Völkermord bezeichnen.“63

Während also das Reden über einen Genozid an den Armenier*innen allmählich zu einer konsensfähigen Formulierung in der bundesdeutschen Erinnerungskultur wird, bleibt das Reden über die deutschen Verbrechen an den Herero und Nama in den Jahren 1904 bis 1908 noch fast immer unerwähnt. Zwar unternahm die damalige Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Heidemarie Wieczorek-Zeul, bereits anlässlich einer einhundertjährigen Gedenkfeier den Versuch, „die Gewalttaten der deutschen Kolonialmacht in Erinnerung zu rufen“64. Und der Präsident des Deutschen Bundestages, Norbert Lammert, nannte 2015 immerhin das Massaker an den Herero einen „Völkermord“65. Äußerungen anderer führender staatlicher Repräsentanten sucht man jedoch vergeblich. Wenn das Gedenken an den Genozid an den Herero jedoch Teil einer inklusiven Erinnerungskultur wäre, könnten die vergessenen Opfer deutscher Kolonialpolitik zunächst sichtbar gemacht werden. Für die Nachfahren der Opfer böte eine solche Inklusion der Erinnerung tatsächlich die Möglichkeit von Empowerment – vor allem nur scheinbar banal materiell durch den Anspruch auf Entschädigungsleistungen. Aber auch darüber hinaus könnten die Nachfahren dieses Genozides, des ersten im 20. Jahrhunderts, von Geschichte als kultureller Ressource profitieren – und zu geschichtsmächtigen Subjekten in einer bundesdeutschen Erinnerungskultur werden. Es wäre dann in Museen und Schulbüchern die Geschichte eines Genozides mehr zu erzählen.

Herrschaftskritisch wäre eine solche inklusive Erinnerungskultur, indem die bundesdeutsche Gesellschaft konsequent daraufhin befragt werden könnte, was es mit gegenwärtigen Rassismen in unserer Gesellschaft zu tun hat, wenn der Genozid an den Herero verschwiegen oder sogar vergessen wird.

2.4.2Beispiel 2: Die Geschichte der Homosexualitäten

Im Juni des Jahres 2015 eröffneten das Deutsche Historische Museum und das Schwule Museum* die gemeinsame Ausstellung „Homosexualität_en“, die in den Ausstellungsräumen beider Häuser zu sehen war.

Das Plakat zur Ausstellung fand die Staatsministerin für Kultur, Monika Grütters, bei einem Presserundgang zur Ausstellung „verstörend.“66 Die Staatsministerin ergänzte:

„Diese Ausstellung ist ein schönes Beispiel dafür, dass Museen eben nicht nur Orte des Sammelns und Bewahrens sind, sondern mit ihrer Arbeit zur Verständigung darüber beitragen, wie wir leben wollen. Die Ausstellung ordnet die aktuelle Debatte über die rechtliche Gleichstellung Homosexueller in die historischen Zusammenhänge ein, die unter anderem von Diskriminierung und Stigmatisierung geprägt waren. Sie führt uns damit vor Augen: Die Vielfalt, die nur in Freiheit gedeihen kann, ist eine Bereicherung für uns alle! Das erleben wir gerade in einer Stadt wie Berlin, die ihre Lebensqualität und ihre Anziehungskraft nicht zuletzt ihrer Offenheit – der Liebe zum ‚leben und leben lassen‘ – verdankt.“67


Abb. 2: Plakat zur Ausstellung „Homosexualität_en“

Hier wird in der Interpretation der Ministerin der Versuch unternommen, die Geschichten des Handelns und Leidens homosexueller Menschen in die Meistererzählung einer erfolgsverwöhnten Bundesrepublik zu integrieren – geht es in Äußerungen wie dieser doch um ein Erinnern hin zu einer Gegenwart, die sich durch Vielfalt und Freiheit auszeichnet – hier wird eine beste aller gegenwärtigen Welten entworfen, geprägt durch „Vielfalt, die nur in Freiheit gedeihen kann“. Vielleicht zeigen diese Äußerungen von Monika Grütters sogar, dass es der Geschichte der Homosexualitäten mittlerweile gelungen ist, Teil einer integrativen Erinnerungskultur der Bundesrepublik zu werden, mit der es gelingen kann, das Erreicht-Haben gegenwärtiger Toleranzstandards als das erfolgreiche Ergebnis der bundesdeutschen Geschichte zu begreifen.

Kennzeichen einer inklusiven Erinnerungskultur könnte im Gegenzug sein, dass nicht nur an das Leid und die Verfolgung von Homosexuellen im Nationalsozialismus gedacht wird, sondern dass die Bundesrepublik sich auch endlich an diejenigen Homosexuellen erinnert, die sie selbst bis zum Jahr 1994 verfolgt, diskriminiert und marginalisiert hat. Während die doppelte Ausstellung im Deutschen Historischen Museum und im Schwulen Museum* dieses Thema zwar keineswegs verschweigt, spricht die Ministerin in ihrer Eröffnung nicht davon.

Genauso schweigt auch die Gedenktafel für die homosexuellen Opfer des Nationalsozialismus im Berliner Tiergarten zu diesem Thema. Hier heißt es:

„Lange Zeit blieben die homosexuellen Opfer des Nationalsozialismus aus der Gedenkkultur ausgeschlossen – in der Bundesrepublik wie in der DDR. Hier wie dort wurden Schwule weiter strafrechtlich verfolgt. In der Bundesrepublik Deutschland galt der § 175 unverändert bis 1969 fort. Aus seiner Geschichte heraus hat Deutschland eine besondere Verantwortung, Menschenrechtsverletzungen gegenüber Schwulen und Lesben entschieden entgegenzutreten. In vielen Teilen der Welt werden Menschen wegen ihrer sexuellen Identität heute noch verfolgt, ist homosexuelle Liebe strafbar und kann ein Kuss Gefahr bedeuten.“68

Hier unternimmt die Bundesrepublik als Verfasserin der Gedenktafel den Versuch, die confliciting memories an die Opfer aus eigener Verantwortung mindestens zu bagatellisieren, und in den Grundkonsens einer hegemonialen Erinnerungskultur zu integrieren. Unsichtbar und unbenannt bleiben hier also tatsächlich die Verfolgten des eigenen Systems, denen erst im Jahr 2017 formale Rehabilitation und materielle Entschädigung zugestanden wurden.

Literatur

Pandel, Hans-Jürgen: Historisches Erzählen. Narrativität im Geschichtsunterricht, Schwalbach/Ts. 2010.

Schörken, Rolf: Historische Imagination und Geschichtsdidaktik, Paderborn 1994.

Winker, Gabriele/Degele, Nina: Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten, Bielefeld 2009.

______________

1Bei dem folgenden Kapitel handelt es sich um modifizierte und übersetzte Ausschnitte aus: Lücke, Martin: The Change Approach for Combining History Learning and Human Rights Education, in: Lücke u. a., Change, 2016, S. 39–49.

2Zündorf, Zeitgeschichte und Public History.

3Sauer, Michael: Sinnbildung über Zeiterfahrung, in: Public History Weekly, 2 (2014) 4, URL: https://public-history-weekly.degruyter.com/2–2014–4/sinnbildung-ueber-zeiterfahrung/ (Aufruf 13.11.2017).

4Vgl. hierzu die Debatte im Online Journal Public History Weekly in Bezug auf den Artikel: Sauer, Sinnbildung über Zeiterfahrung.

5Vgl. Völkel, Bärbel: Handlungsorientierung im Geschichtsunterricht, 2. Aufl. Schwalbach/Ts. 2008.

6Zum Konzept des Eigen-Sinns vgl.: Lindenberger, Thomas: Eigen-Sinn, Herrschaft und kein Widerstand, Version 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 2.9.2014, URL: https://www.docupedia.de/zg/Eigensinn (Aufruf 13.11.2017). Zu Eigen-Sinn im Prozess historischen Lernens: Lücke, Martin: Inklusion und Geschichtsdidaktik, in: Riegert/Musenberg, Inklusiver Fachunterricht in der Sekundarstufe, 2015, S. 197–206.

7Arbeitsbereich Didaktik der Geschichte der Freien Universität Berlin.

8Dieses Kapitel ist in abgewandelter Form als Sieberkrob, Matthias/Lücke, Martin: Narrativität und sprachlich bildender Geschichtsunterricht – Wege zum generischen Geschichtslernen, in: Caspari/Jostes/Lütke (Hg.), Sprachen – Bilden – Chancen, 2017, S. 221–233 erschienen.

9Pandel, Hans-Jürgen: Historisches Erzählen. Narrativität im Geschichtsunterricht, Schwalbach/Ts. 2010, S. 39.

10Barricelli, Michele: Schüler erzählen Geschichte. Narrative Kompetenz im Geschichtsunterricht, Schwalbach/Ts. 2005, S. 19 f.

11Barricelli, Michele: Narrativität, in: Barricelli/Lücke, Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts, 2012, S. 255–280, hier S. 257.

12Vgl. Lehne, Adrian/Lücke, Martin: Teaching Queer History. Ein Queer History Month in Berlin, in: Invertito, 15 (2013), S. 205–208; Vgl. auch Dies.: Teaching Queer History. Ein Projekt zur Geschichte sexueller Vielfalt am Arbeitsbereich Didaktik der Geschichte, in: Zentrale Frauenbeauftragte der Freien Universität Berlin (Hg.), Wissenschaftlicher-Rundbrief 2 (2013), S. 11–14.

13Schörken, Rolf: Historische Imagination und Geschichtsdidaktik, Paderborn 1994.

14Vgl. Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, 3. Aufl. München 1990; Ricoeur, Paul: Zeit und Erzählung, 3 Bände, München 1988–1990.

15Schörken, Historische Imagination und Geschichtsdidaktik, S. 35.

16Pflüger, Christine: Historische Imagination, in: Mayer u. a., Wörterbuch Geschichtsdidaktik, 2006, S. 105.

17Bei diesem Kapitel handelt es sich um eine überarbeitete Version des Artikels: Lücke, Martin: Multiperspektivität, Kontroversität, Pluralität, in: Barricelli/Lücke, Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts, 2012, S. 281–288.

18Bergmann, Klaus: Multiperspektivität, in: Ders., Handbuch der Geschichtsdidaktik, 1979, S. 216–218, hier S. 216.

19Vgl. Bergmann, Klaus: Multiperspektivität. Geschichte selber denken, Schwalbach/Ts. 2000, S. 20–39.

20Vgl. ebd., S. 71–293.

21Bergmann, Klaus: Multiperspektivität, in: Mayer/Pandel/Schneider, Handbuch Methoden im Geschichtsunterricht, 2007, S. 65.

22Hierzu ausführlich z. B. Damisch, Hubert: Der Ursprung der Perspektive, München 2010.

23Bergmann, Klaus: Multiperspektivität, in: Bergmann u. a., Handbuch der Geschichtsdidaktik, 1997, S. 301–303, hier S. 301.

24Ausführlicher zu sozialen Sprecherpositionen Lücke, Martin: Multiperspektivität, Kontroversität, Pluralität, in: Barricelli/Lücke, Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts, 2012, S. 281–288, hier S. 286.

25Bergmann, Multiperspektivität, 2007, S. 65.

26Ebd., S. 65 f.

27Ebd., S. 66.

28Ebd.

29Bergmann, Multiperspektivität, 2000, S. 57 f.

30Ebd., S. 58.

31Ebd.

32Rüsen, Was ist Geschichtskultur?, S. 13.

33Bei diesem Kapitel handelt es sich um eine überarbeitete Version des Artikels: Lücke, Martin: Diversität und Intersektionalität als Konzepte der Geschichtsdidaktik, in: Barricelli/Lücke, Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts, 2012, S. 136–146.

34Mayer, Ulrich/Pandel, Hans-Jürgen: Kategorien der Geschichtsdidaktik, in: Bergmann u. a., Handbuch der Geschichtsdidaktik, 1979, S. 180–184, hier S. 182.

35Ebd.

36Lutz, Helma/Vivar, Maria T.H./Supik, Linda: Fokus Intersektionalität – Eine Einleitung, in: Dies., Fokus Intersektionalität, 2010, S. 9–31, hier S. 9.

37Smykalla, Sandra/Vinz, Dagmar: Geschlechterforschung und Gleichstellungspolitiken vor neuen theoretischen, methodologischen und politischen Herausforderungen, in: Dies., Intersektionalität zwischen Gender und Diversity, 2011, S. 10–18, hier S. 10.

38Winker, Gabriele/Degele, Nina: Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten, Bielefeld 2009, S. 7–8.

39Bergmann, Klaus: Gegenwartsbezug im Geschichtsunterricht, 2. Aufl. Schwalbach/Ts. 2008, S. 22.

40Klinger, Cornelia/Knapp, Gudrun-Axeli: Achsen der Ungleichheit – Achsen der Differenz: Verhältnisbestimmung von Klasse, Geschlecht, „Rasse“/Ethnizität, in: Dies./Sauer (Hg.), Achsen der Ungleichheit, 2007, S. 19–41, hier S. 21.

41Miles, Robert: Die Idee der „Rasse“ und Theorien über Rassismus: Überlegungen zur britischen Diskussion, in: Bielefeld, Das Eigene und das Fremde, 1998, S. 189–221, hier S. 209; Miles, Robert: Rassismus. Einführung in die Geschichte und Theorie eines Begriffs, Hamburg 1999, S. 93–103, zitiert nach Kerner, Ina: Differenzen und Macht. Zur Anatomie von Rassismus und Sexismus, Frankfurt/M. 2009, S. 51.

42Lutz/Vivar/Supik, Fokus Intersektionalität, S. 19.

43Ebd., S. 19 f.

44Ebd., S. 21.

45Vgl. Butterwegge, Christoph: Armut in einem reichen Land. Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird, Frankfurt/M. 2009, S. 225–234; Vgl. auch Reitzig, Jörg: Prekariat, soziale Verunsicherung und Vereinzelung – die Rückkehr der sozialen Frage, in: Lösch/Thimmel, Kritische Politische Bildung, 2010, S. 289–302, hier S. 289.

46Eine Übersicht über kanonische Texte zur Sozialstrukturanalyse, die sich an der Kategorie der Klasse abarbeiten, bieten Solga, Heike/Powell, Justin/Berger, Peter A. (Hg.): Soziale Ungleichheit. Klassische Texte zur Sozialstrukturanalyse, Frankfurt/M. 2009.

47Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1921/22, S. 233 ff.

48Connell, Raewyn: Gender, Cambridge 2002, S. 10.

49Lücke, Martin: Halbe Kraft voraus. Überlegungen während einer Suche nach dem Ort von Gender in der Geschichtsdidaktik, in: Barricelli/Becker/Heuer, Jede Gegenwart hat ihre Gründe, 2011, S. 214–226, hier S. 218 f.

50Hagemann-White, Carol: Intersektionalität als theoretische Herausforderung für die Geschlechterforschung, in: Smykalla/Vinz, Intersektionalität zwischen Gender und Diversity, 2011, S. 20–33, hier S. 31.

51Mayer/Pandel, Kategorien der Geschichtsdidaktik, S. 180 f.

52Kerner, Ina: Differenzen und Macht. Zur Anatomie von Rassismus und Sexismus, Frankfurt/M. 2009, S. 51.

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