Kitabı oku: «Lavanda», sayfa 4

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Ja, es gab wenige wahrhaftig leidtragende Menschen, welche an einer Krankheit litten und/oder durch Medikamente zunahmen. Für solche Menschen hegte sie sogar das bisschen Mitgefühl, welches sie noch ihr eigen nennen durfte.

Doch wie sagte ihr Hausarzt stets?

Ein jeder Mensch litt an einer Krankheit.

Selbst wenn es bloß lästige Schweißfüße waren. Jeder hatte sein Päckchen zu tragen. Darum brauchten Menschen nicht über Gewichtsprobleme zu jammern, wenn diese meistens erst gar nicht die Disziplin aufbrachten, um zu sagen: Nein, heute schlinge ich keinen Rieseneisbecher hinunter, heute verkneife ich mir meinen Kaffee mit Schlagsahne und leere keine ganze Chipspackung, sondern belasse es bei meiner Hauptspeise.

Du wirst schon sehen, spätestens mit dreißig wirst auch du dick!

Dies stellte die wunderbare Äußerung einer neidigen alternden mit ihrem Leben nicht zurechtkommenden Drecksfotze dar – geradewegs an eine achtzehnjährige Lavanda gerichtet.

Einige Jahre hatte Lavanda sich deshalb gesorgt und vermutet, dann erst recht von Männern und der Gesellschaft im Allgemeinen ignoriert oder belächelt zu werden.

Tja, meine Gute, dachte sie bissig. Nun bin ich jenseits der dreißig und noch immer schlank und wohlproportioniert wie zu meinem zwanzigsten Geburtstag.

Und pass erst einmal auf, hallte es ihr besserwisserisch durch den Verstand, wenn du dein erstes Kind bekommen hast.

Lavanda lächelte grimmig.

Wenn sich durchvögelnde Frauen unbedingt quengelnde, ressourcenfressende, egomanische Monster in diese ohnehin überbevölkerte Welt setzen wollten, durften sie sich über Hängebrüste, wabbelige Hintern und Bäuche, welche an aufgeschwemmte Holzpilze erinnerten, nicht beschweren. Besonders dann nicht, wenn Mütter in ihrer Schwangerschaft eifrig »für zwei« aßen. Nicht jeder besaß gute Veranlagung. Aber exakt diese half beim Abnehmen oder Gewichthalten enorm.

Wem beispielsweise die Veranlagung für ein Sixpack fehlte, konnte täglich hundert Kilometer rennen und Gewichte stemmen – Muskeln würden sich nicht entwickeln. Nicht zuletzt deshalb fand Lavanda es fürchterlich, was Werbung durch jahrzehntelange Suggestion angerichtet hatte: Frauen mussten schlank, mittelgroß und mit einem üppigen Vorbau glänzen, gänzlich enthaart und logischerweise schneeweiße Zähne besitzen. Natürlich aussehende Kunstnägel waren genauso wenig verkehrt wie eine ganzjährige gesunde Bräune und blondes, volles Haar. Und letztendlich durften Markenartikel niemals fehlen: Fendi-Sonnenbrillen, Dolce&Gabbana Handtaschen, Kleider von Versace oder Chanel – und teure Designerdüfte gleichnamiger Marken.

Das daraus irgendwann Mobbing gegen ›hässlichere‹ Menschen resultierte, war lediglich eine Frage der Zeit.

Jetzt, unzählige Selbstmorde später, wurde auf Political Correctness gesetzt, und alles, was abstoßend und dezidiert andersartig war, wurde in die Modebranche gezwängt. Ob Frauen mit Pigmentstörungen, Verkrüppelungen, immensem Übergewicht oder anderen Besonderheiten der Natur – alles war gern gesehen, und Toleranz wurde erwartet.

Was hingegen niemand bemerkte: Der normale Durchschnittsmensch wurde weiterhin in die Ecke gedrängt.

Normal war langweilig. Normal war öde. Normal war unbedeutend.

Eigenartigerweise wurde aber ein jeder sich etwas auffälliger kleidende Mensch schief angeblickt …

Die verschrobenen Ansichten der modernen Gesellschaft würde Lavanda niemals begreifen. Umso dankbarer war sie, die Buchhaltung und Fakturierung abarbeiten zu dürfen, erforderten diese Tätigkeiten nämlich größere Konzentration, womit ihre Gedanken zumindest für die nächsten drei Stunden etwas Ruhe gaben.

Etwas – da es ihr partout nicht gelingen wollte, diesen verdorbenen Geschmack der Nutzlosigkeit abzuschütteln oder überhaupt einen rechten Sinn in ihrem Leben zu entdecken.

Es wurde ihr zu viel.

Zu viel Hektik, zu viel Lärm, zu viel Verantwortung, zu viel Verpflichtung, zu viel Arbeit, zu viel Einsamkeit.

Wozu lebte sie?

Um zu arbeiten? Zu lernen? Schmerzen zu erdulden? Missverstanden und eiskalt ignoriert zu werden, sich blöde Sprüche anzuhören –

Ein das Büro betretender Kunde schob ihren inneren Disput zur Seite.

Es handelte sich um einen ausgesprochen attraktiven Kerl ihres Alter.

Ein wenig abgehetzt und ruhelos blickte er sich um.

Anscheinend hatte er sie noch nicht bemerkt.

Kein Wunder, bei den vielen verstaubten Geräten um sie herum und den sich hochtürmenden Papierstapeln …

Heute zumindest war ihr dieser chaotische und zumeist nervige Umstand zu etwas nütze. Dadurch war es ihr nämlich möglich, diesen Feschak etwas länger und genauer zu betrachten.

Was ihr zuallererst auffiel, war seine himmlische Frisur.

Zugegeben, ehe sie einem Kerl auf den Hintern blickte – was sie ohnehin nur äußerst selten tat –, waren ihr Gesicht und Haarpracht wichtiger. Was half ein knackiger Po, wenn die Vorderseite nicht ansprach?

Nun, in diesem Fall brachte des Mannes welliger bis gelockter, brünetter Undercut ihr Herz ungewollt auf Trab – wenn man den Schnitt derart bezeichnen durfte, fiel das Deckhaar doch relativ lang und füllig aus und die üblicherweise kürzer geschnittenen Stellen waren kaum zu erkennen.

Lag es an den angedeuteten Locken? Nach genauerem Betrachten schien der Stufenschnitt eigentlich gar nicht vorhanden zu sein. Das seitliche weniger dicht ausfallende Haar erweckte einen solchen jugendlich-frischen Eindruck des Friseurhandwerks. Stattdessen hatte der Kunde die für einen Mann mittellange Haarpracht offenbar bloß mit den Händen und minimalem Einsatz von Gel locker nach hinten gestreift.

Das Ergebnis: Eine luftige, schnell zu bewerkstelligende Frisur, welche diesem Kerl eine nahezu verboten sexy-verruchte Aura verpasste und Frauen höchstwahrscheinlich anzog wie … Fliegen vergammeltes Hühnerfleisch.

Sie fragte sich, wie sein Haar in der Sonne anmuten mochte. Wahrscheinlich schimmerte es bronzen- und kupferfarben – ähnlich wie das ihre. Ihr Deckhaar zeigte sich im strahlenden Licht golden bis Dunkelblond, die unteren Schichten warteten mit einem Kupferstich und Bronzentönen auf. Fatalerweise hatte sie im Laufe der letzten zehn Jahre beinahe zwei Drittel ihre Fülle einbüßen müssen.

Er hingegen zeigte exakt das Haarvolumen, welches sie einst besessen hatte: nicht zu füllig – wie ein dunkler Typ –, dafür reichlich feines Haar, welches sich fröhlich-verspielt manchmal mehr und manchmal weniger lockte.

Sie selbst besaß ebenfalls leicht lockiges Haar. Einige Jahre lang waren diese sogar sehr ausgeprägt, an anderen wiederum gänzlich verschwunden gewesen.

Einen ähnlichen Umstand vermutete sie in seinem Fall. Und erheblich mehr fragte sie sich, weshalb sie sich derart viele Gedanken um die Mähne eines wildfremden Mannes machte …

Offenbar haderte sie mit ihrem sich seit fünf Jahren schleichend ergrauenden und schütter werdenden Kopfschmuck.

Es waren vereinzelte schneeweiße Haare, welche sich da vermehrten. Allerdings wollte Lavanda diese nicht färben. Grundsätzlich wäre es ihr sogar recht zu ergrauen. Schneeweißes, langes Haar hatte seinen Reiz. In ihrem Fall jedoch hing dieser unausweichliche Alterungsprozess mit einer anderen, schmerzhaften Tatsache zusammen: zu ergrauen – und nach wie vor ungeküsst zu sein.

Des Öfteren hatte sie mit dem Gedanken gespielt, sich einen Escortservice zu bestellen – einen halbwegs ansehnlichen Typ mit Erfahrung und Einfühlungsvermögen, welcher mit ihr schlief und sie danach noch etwas in den Armen hielt … ihr für wenige Stunden ihren Freund vorspielte.

Sogar Mehrkosten würde sie dafür in Kauf nehmen.

Dann, wenn der Mann seinen Job getan hätte, würde sie sich in die Badewanne legen und sich die Pulsadern aufschneiden.

Sie verdrängte die Traurigkeit, verdrängte die Übelkeit, verdrängte die Tränen und konzentrierte sich auf das Jetzt.

»Guten Tag.«

Des Traumhaar-Verschnitt-Kerls Haupt schnellte in ihre Richtung – und ein heißkalter, beinahe nicht wahrnehmbarer Schauer huschte über Lavandas Haut.

Seine dunkelblauen Augen – waren sie dies eigentlich? Mit Sicherheit konnte sie es nicht sagen – muteten an, ihr bis ins Herz und in ihre schmerzende Seele zu blicken.

Einbildung, dachte sie über sich selbst erbost, alsbald sie bemerkte, wie dieser Beau ihr sympathisch wurde.

Das hatten wir bereits dreimal, ein viertes Mal können wir uns getrost sparen.

Sympathien zu erwecken, damit man sie ausnahm, damit man sie um den Finger wickelte, damit man sie letzten Endes wortlos stehenließ – sogar als Kunde!

Ihre Wut wuchs an, ihre zuvor aufkeimende minimale Positivität erstarb abrupt.

»Kann ich Ihnen helfen?«

Sie erhob sich, um im Zweifelsfall ohne Zeitverlust die richtige Bestellung herauszusuchen oder USB-Sticks oder andere Datenträger entgegenzunehmen.

»Verzeihung, wäre es –«

Weshalb hielt der Mann inne? Sie wusste es nicht. Und es interessierte sie nicht weiter. Sie wollte diesen Kerl bloß schnellstens loswerden. Vor allem, alsbald sie seines Outfits gewahr wurde.

Eine schwarze wertig aussehende Lederjacke ohne verspielten Firlefanz wie Buttons oder übertrieben schimmernde Druckknöpfe, darunter ein versnobtes weißes Hemd mit ausladendem verwegenem Kragen kombiniert mit einer eng geschnittenen schwarzen Jeans und schwarzen Schuhen.

Ergo: ein typischer Weiberaufreißer auf der Suche nach einem schnellen Fick. Jemand, welcher sich niemals für sie interessieren und wesentlich weniger anbaggern würde.

Jemand, welcher es nicht wert war, sympathisch gefunden zu werden.

Ein Mann – überflüssig und lästig wie Warzen.

»Holen Sie einen Druckauftrag ab?«

»Nein, ich wollte lediglich darum bitten, ob ich für eine halbe Stunde Ihren Parkplatz benützen dürfte.«

Nicht noch einer!

Seit Jahren baten Personen um kurzzeitiges Parken. Dabei besaß die Firma bloß vier Stellplätze, dementsprechend eng konnte es an geschäftigen Tagen werden.

Dennoch verstand Lavanda die niemals enden wollende Fragerei.

In Klagenfurt waren Parkplätze Mangelware. Und die neu gestalteten Kurzparkzonen? Diese hatten zwar das durch unzählige Pendler hervorgerufene Parkchaos eingedämmt, dafür musste nun weitaus tiefer in die Tasche gegriffen werden, um Erledigungen in der Innenstadt und im inneren Gürtel machen zu dürfen. Zudem war die Parkzeit auf vier Stunden begrenzt worden. Für eine Hauptstadt ein unmöglicher Zustand.

Und ebenso für sie! Denn nahezu jeden Tag musste sie fragenden Personen eine Absage erteilen. Manch einer von ihnen wurde dann ausfällig, andere straften sie mit angewiderten Blicken.

Lavanda gab dennoch nie nach. Das Gejammere Ihres Chefs, falls sie jemandem eine Parkerlaubnis erteilte, wog zu schwer und belastete tausendmal mehr als das schlechte Gewissen, einem Menschen in Not nicht geholfen zu haben.

»Es tut mir leid«, versetzte sie. »Das geht nicht.«

Überraschende ehrlich anmutende Hilflosigkeit legte sich über des Schnösels Miene. Er warf einen flüchtigen Blick auf seine – was auch sonst? – goldene dekadente Armbanduhr, und eine regelrechte Panik vermengt mit Aggression nahm seinen ebenmäßigen Gesichtskonturen, allen voran den sanft geschwungenen Augenbrauen, ihre Grazie.

»Es wäre lediglich für eine halbe Stunde. Ist es nicht irgendwie möglich?«

Der verstörte Ausdruck war nicht gespielt. Dieser Mann stand mächtig unter Zugzwang. Fatalerweise konnte sie ihm nicht aushelfen – obwohl sie es gerne getan hätte. Nicht aufgrund seines äußeren Erscheinungsbildes, nicht aufgrund dieser unsäglichen Sympathieentwicklung, sondern einzig ihrer neurotischen Hilfsbereitschaft wegen.

Seit jeher hatte sie Menschen helfen wollen – seit jeher hatten Menschen sie deshalb ausgenutzt.

Würde sie niemals daraus lernen? War es unmöglich, diesen Reflex auszuschalten?

Widerwillig schüttelte Lavanda den Kopf. »Tut mir leid.«

Ihr verfluchtes schlechtes Gewissen knotete ihr den Magen zusammen. Und des Typs wütendes wie flehendes Mienenspiel? Dieses war nicht eben unterstützend dabei, ihr eigenes Gefühlstohuwabohu zu bändigen.

Verdammte Scheiße!

Was wollte alle Welt eigentlich von ihr? Andauernd wurde sie um Hilfe gebeten! Und wer half ihr? Niemand! Kein verschissener Mensch!

»Es ist ein Notfall«, erwiderte er drängend, frustriert … restlos verzweifelt. »Normalerweise bitte ich nicht um einen Gratisparkplatz. Allerdings sind sämtliche kostenlose Abstellplätze belegt, und ich habe nicht genügend Kleingeld dabei, um ein Ticket zu ziehen. Hätte ich das Geld, würde ich nicht hier stehen und wie ein Bittsteller auf den Knien rumrutschen. Ich habe einen dringenden Termin um halb zwei in der Richtstraße. Ich schaffe es nicht mehr, falls ich nicht sofort losgehe.«

Lavanda blickte zur billigen Plastikuhr auf der von ihr rechts gelegenen dünnen Ytong-Mauer.

Es war fünfzehn Minuten nach eins.

Das schaffte er nie.

Die Richtstraße lag Minimum dreißig Gehminuten von der Druckerei entfernt.

Da sah sie bloß eine Möglichkeit …

Sie drehte sich um und schritt zurück zu ihrem Arbeitsplatz, an dessen linken Seite ein unauffälliger dunkelroter Kunststoffstuhl stand. Auf diesem verfrachtete Lavanda jeden Morgen ihre Handtasche. Ebendiese Handtasche war ihr Ziel. Lavanda öffnete sie, suchte etwas darin, und zog zwei Zwei-Euro-Münzen hervor, welche sie angesichts eigener Kleingeldnot stets als Reserve bei sich führte.

Sie trat zu dem Attraktivling und reichte ihm die Münzen. »Von uns aus zu Fuß bis zur Richtstraße? Sie würden niemals zeitig ankommen. Hier. Parken Sie in der groß angelegten Tiefgarage in der Anderluhstraße. Dann schaffen Sie es möglicherweise.«

Die Richtstraße zog sich durch die halbe nordseitig gelegene Innenstadt – was bedeutete, dass es sich vermutlich um einen Termin bei Gericht handelte. Nervosität wie Redefreude seinerseits sprachen dafür. Sein elegantes Äußeres sowie Mimik und Gestik, welche eher Ruhe und Zartheit ausstrahlten, tendierten dagegen auf eine verschlossene, wortkarge Person, was wiederum auf enormen Druck rückschloss – etwas, das Menschen zumeist durch Anklagen, Trennungen oder Testamentseröffnungen erfuhren.

Verwirrt blickte Letztgenannter auf das schimmernde Kleingeld. Er wirkte wie in Trance. Eine weitere unpässliche Reaktion für einen Mann seines Kalibers.

»Hier, nehmen Sie«, befahl sie drängender. »Ansonsten kommen Sie ernsthaft zu spät.«

Sein gedankenferner Augenausdruck verschwand, und an seine Stelle trat diese Lavanda aufwühlende verruchte Intensität. Kein Beäugen … ein Erforschen. Ein in sie Eindringen und sie restlos Vereinnahmen.

»Verzeihen Sie die Frage … weshalb tun Sie das?«

Sie hielt sich davon ab, ihre hochkletternde Unsicherheit durch ein peinliches Räuspern in die Schranken zu weisen und sich dadurch erst recht lächerlich zu machen. Stattdessen atmete sie einmal tief durch, verteufelte sich tausendmal im Geiste für ihre grenzdebilen und klischeehaften gefühlsmäßigen Reaktionen und begann mit ihrer hoffentlich halbwegs verständlichen und vernünftig anmutenden Erklärung.

Sie berichtete über die widerrechtlich abgestellten Kraftwagen, die abgemeldeten Fahrzeuge, die von der Druckerei beglichenen Abschleppkosten, die Dauerparker – und das vorprogrammierte Gejammer seitens ihres Chefs, sollte sie diesem von des Attraktivlings Notsituation und der daraus resultierten Parkerlaubnis unterrichten müssen.

»Glauben Sie mir«, brachte sie ihren Vortrag zu einem erbärmlichen Ende. »Dieses Gezeter will ich mir nicht mehr antun. Besonders nicht für jemanden, welcher eine einfache Parkgelegenheit braucht und den ich niemals mehr in meinem Leben wiedersehen werde. Verstehen Sie?«

Weshalb irgendjemanden noch mit Samthandschuhen anfassen? In ihrem Fall war dies nicht eben oft geschehen. Eher noch bewusst getreten worden war sie. Neidzerfressene Personen liebten es, durch kränkende Meldungen andere zu verletzen, zu unterdrücken, zu denunzieren.

Eine ihr Gänsehaut bescherende Erkenntnis blitzte in des schönen Mannes Antlitz auf und half ihr, die entsetzlichen Eindrücke der Vergangenheit und Gegenwart zur Seite zu drängen und sich die Frage zu stellen, was genau in dessen hübschem Köpfchen vorging.

»Vielen Dank.« Zögerlich, ja nahezu andächtig, jedoch zu keiner Zeit unterwürfig nahm er die Münzen an sich. »Sobald es mir möglich ist, gebe ich Ihnen das Geld zurück. Versprochen.«

Stolz ohne Überheblichkeit. Dankbarkeit ohne Falschheit. Verzweiflung ohne brachialen Hass.

Im Gegensatz zu ihr hatte dieser Mann sich noch ein Mindestmaß an Menschlichkeit behalten können …

»Ist schon in Ordnung«, meinte sie salopp. Es gelang ihr partout nicht, ein schmales Lächeln zu unterbinden, wofür sie sich wesentlich mehr hasste. »Aber jetzt gehen Sie lieber, ansonsten kommen Sie wirklich zu spät.«

»Ja, vielen Dank.« Seine Nervosität fachte hoch. Flott drehte er sich um, hechtete los –

Und wäre beinahe in Lavandas Chef gelaufen.

Der Schönling presste ein überraschtes und dadurch mindestens eine Oktave höheres »Verzeihung« hervor.

Lavanda musste sich eingestehen, seine wohlklingende Stimmlage hörte sich selbst in dieser witzigen Situation toll an.

»Nicht so eilig, junger Mann«, intonierte ihr großgewachsener Chef, dessen kecker Kurzhaarschnitt sich seit drei Jahren gänzlich silbern präsentierte. »Ansonsten könnten Sie das Glück Ihres Lebens übersehen.«

Innerlich schnitt sie eine Grimasse.

Es war typisch. Nicht ein einziges Mal konnte sich dieser neunmalkluge Mensch seine Pseudo-Weisheits-Sprüche verkneifen.

Bemerkte dieser Depp nicht, dass solche Äußerungen zumeist nervten und manch eine Person überdies verletzten?

Wie sie selbst? Oder womöglich sogar den Attraktivling?

Herr Huber wusste nichts über das Schicksal seines Gegenübers, dementsprechend zurückhaltend sollte er – und die restliche rotzfreche, hinterfotzige Gesellschaft – sich geben!

»Mir kann Derartiges nie passieren«, erwiderte der Parkplatzsuchende sogleich. Eine beträchtliche Ladung Sarkasmus gepaart mit Verbitterung schwang in seinem Tonfall mit. »Glück existiert nicht. Genauso wenig wie Götter oder wahre Liebe.«

Irgendwie konnte sich Lavanda des Eindrucks nicht erwehren, dass Feschak diese Äußerung gar nicht hatte tätigen wollen – was sie tief in ihrem Innersten berührte.

Die hochkriechende Scham, die Wut auf sich selbst, die Versagensgefühle - sie kannte den Emotionstsunami zu gut, der in solchen Momenten losgetreten wurde.

Obwohl Feschak ihr allmählich leidzutun begann, war sie dankbar für diesen ungewollten Ausrutscher seinerseits, brachte er doch tiefer liegende Auffassungen zutage und befeuerten diese Vermutungen. Vermutungen über unschöne Lebenserfahrungen, Schicksalsschläge oder einschneidende Erlebnisse.

»Na, na. Nicht so negativ«, gab Herr Huber grinsend und auf diese ihr allzu bekannte überheblich anhörende Weise zurück. »Das Leben ist schwer genug, da muss man es sich nicht noch selbst schwerer machen.«

Aber ansonsten ging es diesem Tölpel gut, oder?

Ernsthaft!

Manchmal musste Lavanda sich wirklich fragen, ob der Großteil der Bevölkerung das Glück gepachtet hatte. Wie sonst waren derartige hirnverbrannte Meldungen zu erklären?

»Man braucht es sich gar nicht selbst schwerzumachen«, entgegnete Attraktivling trocken. »Dafür gibt es Mitmenschen. Diese schaffen solche Kunststücke mit Leichtigkeit. Ein gutes Beispiel stellen Freunde oder Familienmitglieder dar: Man glaubt, man könne sich vertrauen und gegenseitig helfen. Stattdessen sitzen die lieben Bekannten dann in der Hängematte, währenddessen du ihnen den verdammten Rasen mähst.«

Ihr Chef lachte.

Und sie?

Für sie war diese Aussage urkomisch wie erfrischend ehrlich zugleich. Ein Genuss – und obendrein eine regelrechte Befreiung für ihre Seele, weshalb sie sich erst gar nicht bemühte, ihre exorbitante Freude niederzuhalten, und dem sich ihr zuwendenden Parkplatzsuchenden ein breites Lächeln zuwarf.

Ebendiese äußerst selten zum Vorschein tretende Freude ihrerseits schien den Mann irgendwie zu erschrecken … oder bildete sie sich dies ein?

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, stolperte Attraktivling aus dem Büro.

Damit war ihre mentale Frage beantwortet.

Typisch, dachte sie. Wozu habe ich diesen Drecksack in Schutz genommen?

Bislang waren sämtliche Männer zur Seite gewichen, alsbald sie diese angelächelt hatte. Einer dieser elendigen Drecksäcke war sogar vom Trottoir auf die Straße gesprungen!

Nein, es war keine Einbildung gewesen. Nein, sie reagierte nicht über. Nein, sie war nicht schizophren oder litt an einer bipolaren Störung oder anderen psychischen Beeinträchtigungen.

Man nahm andauernd Abstand von ihr.

Weil sie nie genügte. Weil irgendetwas an ihr einen jeden Menschen – und insbesondere Männer – verscheuchte. Weil sie deshalb seit jeher an Einsamkeit und Alleinsein litt.

Darum wurde ihr die Idee mit dem Escortservice und dem darauffolgenden letzten Vollbad zunehmend attraktiver.

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9783752923575
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