Kitabı oku: «Eisblumenblüte»
EISBLUMENBLÜTE
Impressum
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7.Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
Epilog
Isolde Kakoschky
Isolde Kakoschky
EISBLUMENBLÜTE
Roman
Impressum
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbi-bliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://www.d-nb.de abrufbar. ´
Print-ISBN: 978-3-96752-045-3
E-Book-ISBN: 978-3-96752-545-8
Copyright (2019) XOXO Verlag
Umschlaggestaltung: Grit Richter
Coverbild: Gabriele Mothes
Buchsatz: Alfons Th. Seeboth
Hergestellt in Bremen, Germany (EU)
XOXO Verlag
ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH
Gröpelinger Heerstr. 149
28237 Bremen
1. Kapitel
Überraschend schnell war es dunkel geworden. Eben hatte Kristina noch die ersten Schneeflocken beobachtet, die sacht zur Erde glitten. Gerade erst Mitte November und schon Schnee, dachte sie bei sich. Der Norden schien seinem Namen wieder einmal alle Ehre zu machen. Als sie sich jetzt zum Fenster drehte, erblickte sie nur noch ihr Spiegelbild. Mit dem, was sie sah, konnte sie durchaus zufrieden sein. Man merkte ihr nicht an, dass sie schon Mitte 50 war. Schlank, sportlich gekleidet und mit ihren kinnlangen, dunklen Haaren wirkte sie gut zehn Jahre jünger. Ein Geräusch riss sie aus den Gedanken.
»Bleibst du noch lange?« Mark, ihr Kollege, war aus dem Büro nebenan herüber gekommen und sah sie fragend an.
»Nein, nicht mehr lange. Ich erwarte nur noch ein Fax, dann mache ich auch Feierabend.« Wie zur Bestätigung ihrer Worte verkündete der Piep-Ton des Gerätes den Empfang und spuckte summend ein Blatt Papier aus.
»Wollen wir dann zusammen etwas essen gehen?« Kristina schüttelte den Kopf. »Nein, heute nicht. Mir ist einfach nicht danach. Ich möchte lieber heimfahren, wer weiß, wie es auf der Landstraße aussieht. Aber danke, dass du an mich gedacht hast. Ein anderes Mal gerne!«
Mark zuckte die Schultern. »Na dann nicht. Mach´s gut bis morgen!«
Während er die Tür hinter sich schloss, legte Kristina das Blatt in den Einzug des Faxgerätes um es, mit dem Fahrzeugkennzeichen versehen, noch schnell weiter zu senden. Sie schaltete den Rechner aus und verließ wenige Minuten später ebenfalls das Büro. Eigentlich gehörte sie nicht zu den Menschen, die bei der ersten Schneeflocke die Engelchen aufhängten und Zimtsterne knabbernd weihnachtsseligen Liedern von der CD lauschten. Das lag wohl daran, dass ihre Mutter diese Gefühlsduselei als unnötig abgetan und aus ihrem Leben nahezu verbannt hatte. Doch heute wurde sie angesichts der tanzenden Flöckchen sentimental. Vielleicht hätte sich etwas an ihrer Einstellung geändert, wenn sie Kinder gehabt hätte. Aber dafür war es nun zu spät. Ihre biologische Uhr war abgelaufen. Da gab es niemand, der auf sie wartete, wenn sie heim kam von der Arbeit. Jedenfalls kein Mensch. Die einzige Familie, die sie nach dem Tod der Mutter noch hatte, war ihr Kater Toni. Er war ein Findelkind. Vielleicht war er das Ergebnis eines Fehltrittes der Katzenmutter gewesen, denn wie es sich herausstellte, war er ein Persermischling und vereinte die Robustheit der Hauskatze und das ruhige Naturell des Persers in sich. Als Kristina ihn zu sich nahm, statt ihn ins Tierheim zu bringen, da dachte sie, dass das Kätzchen genauso einsam sei wie sie selbst. Seit dem waren sie zu zweit.
Ihr Leben spielte sich sowieso mehr in der Firma ab als zuhause. Viele Jahre war sie nun schon Disponentin in der Futtermittelhandlung mit eigenem Speditionsbetrieb. Das Mischfutterwerk hatte es schon in der DDR gegeben, allerdings unter einem anderen Namen. Nach der Wende kamen Investoren aus dem Westen. Damals ging die Angst um die Arbeitsplätze in der Gegend um. Hier oben im äußersten Nordosten, erst der DDR, später des vereinigten Deutschlands waren die Arbeitsplätze nie so dicht gesät. Doch es war alles gut gegangen, die Firma wurde modernisiert, erweitert und fungierte jetzt als Vertriebsstandort; und nach einem Computerlehrgang fühlte sich Kristina fit für neue Herausforderungen. Das war nun bald 20 Jahre her. Damals hatte sie auch immer noch an Kinder und die Gründung einer Familie gedacht, doch kaum eine Beziehung hielt so lange, um aus dem Gedanken mehr werden zu lassen. Spätestens nach der ersten Begegnung mit ihrer Mutter hatten die potenziellen Schwiegersöhne die Flucht ergriffen. Dass ihre Mutter nicht gut auf Männer zu sprechen war, konnte niemandem entgehen. Einmal, so um ihren 18. Geburtstag herum, hatte Kristina es gewagt, sie nach ihrem Vater zu fragen. Den bitterbösen Blick in Mutters Gesicht hatte sie nie vergessen. »Sprich das Wort niemals mehr in meiner Gegenwart aus!«, hatte sie wütend geschrien. Und Kristina hatte es nicht wieder getan. Als die Mutter
starb, bereute sie es, denn nun waren alle Quellen versiegt, noch etwas zu erfahren.
So in Gedanken versunken, war sie auf der in dieser Jahreszeit wenig befahrenen Straße in Richtung Küste unterwegs. Über die Peenebrücke gelangte sie auf die vorgelagerte Insel. Vor ein paar Jahren, nach dem Tod ihrer Mutter, hatte sich Kristina in einem der Küstenorte eine schöne, sanierte Altbauwohnung gesucht. Die zwei Zimmer reichten für sie und ihren tierischen Mitbewohner aus, aber das allerbeste war die Terrasse mit Meeresblick. Hier war ihre kleine Oase, in die sie sich nach der oft stressigen Arbeit zurückziehen konnte. Für die Terrasse eignete sich das Wetter zwar nun nicht mehr, doch auf ihrem gemütlichen Sofa, mit dem Katerchen neben sich, ließ es sich auch aushalten.
Kristina parkte das Auto auf dem Stellplatz im Innenhof und öffnete auf dem Weg in die Wohnung ihren Briefkasten. Sie entnahm ihm eine Katalogwerbung, ein Faltblatt mit den Angeboten der ortsansässigen Fleischerei für das Wochenende und einen einfachen weißen Umschlag, dem sie zunächst keine Bedeutung beimaß.
Erst nachdem sie die Schuhe von den Füßen gestreift, ihre Jacke an die Garderobe gehängt und dem Kater seinen Fressnapf gefüllt hatte, fiel ihr Blick wieder auf den Brief. Absender war eine Berit Schwerzer, der Name sagte ihr gar nichts, aber der Ort war ihr nicht unbekannt. Dort hatte sie einmal gewohnt, dort im
Mansfelder Land. Es schien ihr, als sei das eine Ewigkeit her. Eine Nachricht, die wie aus einem anderen Leben zu ihr kam. Kristina drehte den Brief zwischen den Fingern hin und her und ließ sich in den Sessel fallen. Wer schrieb ihr hier, und warum? Der Kater schnurrte um ihre Beine als wolle er ihr sagen: Wenn du es wissen willst, musst du den Brief aufmachen! Unbewusst nickte sie, natürlich musste sie den Brief öffnen! Sie suchte nach einem passenden Gegenstand und riss dann doch ungeduldig mit den Fingern den Rand auf. Ihre Augen glitten über die eng beschriebenen Zeilen. Als sie das Blatt von oben bis unten überflogen hatte, war die erste Frage zwar beantwortet, doch es taten sich neue auf. Eines hatte sie verstanden, es sollte ein Treffen geben mit ehemaligen Mitschülern, kein Klassentreffen, sondern ein Jahrgangstreffen aller Parallelklassen. Dann war diese Berit wohl in einer Parallelklasse von ihr gewesen. Doch was wollten die jetzt, nach so vielen Jahren, von ihr? Sie war nur ein halbes Schuljahr überhaupt in dieser Schule gewesen, erinnerte sie sich nun langsam. Und woher hatten die überhaupt ihre Adresse? Ach ja, da stand es doch, und nun entsann sie sich auch, sie hatte sich bei dieser Seite angemeldet, die versprach, alte Freunde zu finden, schnell und kostenfrei. Warum eigentlich? Sie wusste es nicht mehr. Wollte sie finden oder gefunden werden? Nun war es eben passiert.
In der Küche entkorkte sie eine Weinflasche und goss sich ein Glas voll. Es war unanständig viel im Glas, aber das brauchte sie jetzt. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Eigentlich erinnerte sie sich kaum noch an die Zeit damals, obwohl sie doch schon 13 Jahre alt war, als die Mutter mit ihr die Stadt verlassen hatte. Und die Familie. Ja, damals hatte sie eine Familie gehabt. Daran erinnerte sie sich jetzt wieder. Verdammt noch mal, sie musste doch noch mehr wissen! Und Bilder, es musste doch Bilder geben aus dieser Zeit!
Der Karton! Wie ein Geistesblitz schoss es ihr durch den Kopf. Da war ein Karton gewesen. Er hatte ganz hinten im Kleiderschrank der Mutter gestanden. Nur flüchtig hatte sie hineingesehen, so viele andere Dinge waren wichtiger gewesen, damals vor 15 Jahren, als die Mutter innerhalb weniger Wochen gestorben war. Und dann war er einfach in Vergessenheit geraten. Kristina sprang auf. In der Abstellkammer musste er sein. Sie schob leere Blumentöpfe und ein paar Konservendosen zur Seite und kletterte über ein ausrangiertes Beistelltischchen. Dort, ganz hinten im Regal musste der Karton stehen. Als sie ihn endlich gefunden hatte, war er viel kleiner als erwartet. Und auch der Inhalt enttäuschte sie eher. Ein Kalender von 1971, eine zerrissene Halskette, und ein paar Fotos von Häusern, die ihr fremd waren und von Menschen, die sie nicht kannte, das war´s. Das erschien ihr nun gerade nicht wie die Offenbarung. Sie klappte den Deckel wieder
zu. In ihrer Magengegend machte sich ein deutliches Grummeln bemerkbar. Es war eindeutig besser, sich jetzt eine Pizza in den Ofen zu schieben, als weiter hier über die Vergangenheit zu grübeln. Sie musste ja nichts übers Knie brechen, das geplante Treffen war erst nach Weihnachten.
2. Kapitel
Am Abend zuvor war es spät geworden, erst gegen Mitternacht hatte sich Kristina ins Bett gelegt und doch kaum Schlaf gefunden. Zu viel geisterte durch ihre Gedanken. Nun kam sie nicht in Gang. Sie sah von der Terrasse in Richtung Meer. Doch statt Meeresblick zeigte sich nur eine trübe Nebelmasse. Das Wetter hatte sich geändert, die dünne Schneedecke war wieder geschmolzen, das undurchsichtige Grau war definitiv kein Wetter zum wach werden. Auch die Fahrt mit dem Auto zog sich in die Länge, so dass sie ungewohnt spät ihre Arbeitsstelle erreichte. Sie registrierte Marks Blick durch seine geöffnete Bürotür und hob grüßend die Hand. Bestimmt hatte er schon auf die Uhr gesehen und sich gefragt, wo sie heute steckte. Kristina entging es nicht, dass sie dem Kollegen nicht gleichgültig blieb. Mark war in ihrem Alter, geschieden und sah noch immer recht attraktiv aus. Ab und zu gingen sie gemeinsam am Abend etwas essen. Doch über ein gutes, kollegiales Verhältnis waren sie nicht hinaus gekommen.
Schon bald nahm sie der Büroalltag wie üblich in Anspruch. Sie hatte den Rechner hochgefahren, checkte ihre Emails und orientierte sich anhand der Karte auf dem Monitor, wo die Fahrzeuge der Firma gerade fuhren oder zum Beladen und Entladen standen. Als die Post kam, begann sie, die eingegangenen Lieferpapie-
re, Wiegescheine und Rechnungen zu sortieren, doch ihre Gedanken schweiften immer wieder ab.
»Kaffee?« Mark stand mit einer Tasse des duftenden Getränks vor ihr.
»Danke.« Sie nahm ihm die Tasse ab und trank einen kleinen Schluck.
»Was ist los, Kristina? Ist das Auto kaputt oder der Kater krank?« Er fixierte sie so mit den Augen, dass sie sich seinem Blick nicht entziehen konnte. Dennoch wich sie der Frage aus. »Wie kommst du darauf? Alles ist in Ordnung.«
»Na gut.« Mark sah in Richtung Tür. Er wollte sie nicht drängen. Diese Erfahrung hatte er schon gemacht, dass dann bei seiner Kollegin gar nichts mehr ging. ‼Aber wenn du Hilfe brauchst…※
»Ja, ich weiß, dann kann ich auf dich zählen.« Jetzt bemühte sie sich doch um ein Lächeln. Vielleicht war Mark ja ihr einziger Freund, sie wollte ihn nicht ganz vor den Kopf stoßen.
Als Kristina am Nachmittag die Planung für den nächsten Tag erledigt hatte, packte sie früher als sonst ihre Sachen zusammen. Sie steckte den Kopf zu Mark ins Büro. »Ich mach mich heute mal los«, versuchte sie ihr frühes Aufbrechen zu entschuldigen. »Wenn noch was ist, ich bin über Handy erreichbar.«
»Schon gut«, erwiderte Mark verständnisvoll. Auch wenn er nicht wusste, was es war, er merkte doch, dass mit Kristina heute irgendetwas nicht in Ordnung war.
Sollte sie die Sache erst einmal richten. »Ich halte die Stellung, fahr nur!« Er nickte ihr zu.
Der unerwartete Brief und die Bilder, mit denen sie nichts anfangen konnte, ließen Kristina keine Ruhe. Sie hatte ihr Leben bisher so genommen, wie es nun mal war. Mit der einen Ausnahme, als sie die Frage nach ihrem Vater stellte, hatte sie nie etwas hinterfragt. Natürlich wusste sie, dass es eine Zeit gab, als sie nicht hier an der Ostsee gewohnt hatten. Sie erinnerte sich schon noch, dass es früher Großeltern gab. Doch irgendwie war diese Zeit wie in eine dicke Nebelschicht gehüllt, so wie heute Morgen die See. Man weiß, dass das Meer da ist, aber man sieht es nicht.
Nun saß sie auf dem Teppich und breitete den Inhalt der Schachtel um sich herum aus. Ihr Blick fiel auf ein kleines Foto, das ganz offensichtlich ihre Mutter zeigte. Sie stand vor einem verschneiten Lattenzaun, im Arm ein winziges Baby, dem sie einen innigen Blick schenkte. Ja, das musste sie selbst sein! Schließlich war sie im Januar auf die Welt gekommen. Ein liebevolles Wort drang in ihr Bewusstsein, ihre Mutter hatte es einst zu ihr gesagt, wenn sie als kleines Mädchen gefroren hatte: »Meine kleine Eisblume«. Zärtlich strich sie über das Foto. Die nächsten Bilder, möglicherweise am gleichen Tag aufgenommen, zeigten verschneite Häuser, eine Straße, eine Kirche. Dann Fotos vom Sommer, ihre Mutter im Kleid, daneben ein Junge, vielleicht 5 oder 6 Jahre alt, der stolz einen Kinderwagen schob. Ihren Kinderwagen? Einige Kinderbilder erregten ihr Interesse, von denen sie aber nicht sagen konnte, ob es sich darauf um sie oder ihre Mutter handelte. Irgendwie hatte sie gehofft, vielleicht ein Klassenbild zu finden, was die Mutter aufbewahrt hatte, doch es gab nichts dergleichen. Zu guter Letzt waren da noch ein paar alte Passbilder ihrer Mutter und eines von einem Mann. Auf der Rückseite nur ein Wort: Krzysztof. Kristinas Herz schlug plötzlich schneller. Wer war das? War das vielleicht ihr Vater? Ähnlich sah sie ihm dann wohl nicht sehr. Was aber kein Wunder war, sie war schon immer das Ebenbild ihrer Mutter gewesen. Der Vater, wer auch immer es war, hatte da den geringeren Teil hinterlassen.
Kristina seufzte. Statt etwas zu erfahren, taten sich in dieser Schachtel nur neue Fragen auf. Nachdenklich ließ sie die zerrissene Kette in ihre Hand gleiten. Der Anhänger war ein Herz, darauf zwei Symbole, ein Kreuz und ein Anker. Glaube, Hoffnung, Liebe. Wieviel Glauben, wieviel Hoffnung würde sie brauchen, eine Antwort auf alle diese Fragen zu finden?
Der Kühlschrank hatte auch heute nicht viel mehr zu bieten als Pizza. Wenn sie etwas anderes essen wollte, musste sie wohl noch einmal los. Kristina schlüpfte in ihre Schuhe, zog sich die Jacke über und lief die Treppe hinunter. Der örtliche Supermarkt war nicht weit entfernt, sodass sie das Auto stehen lassen konnte. Im Sommer war der Markt immer gut besucht. Vor allem die Campingurlauber deckten sich hier mit frischen Lebensmitteln ein. Doch jetzt war die Saison vorüber, der Laden fast menschenleer. Schnell hatte sie alle Lebensmittel gefunden und machte sich wieder auf den Heimweg.
Nachdem sie sich einen Tee aufgebrüht und das Abendbrot zubereitet hatte, glitt ihr Blick wieder über die Fotos. Hätte sie doch nur eher mit der Mutter über die Vergangenheit gesprochen! Sie hätte nicht locker lassen sollen. Ach, hätte… Jetzt musste ihr eben die moderne Technik helfen. Kristina zog sich den Laptop heran und startete das Suchprogramm. Das erste, was sie erblickte, als sie den Namen der Stadt eingegeben hatte, war ein altes Tor. Ja, das kannte sie! Doch die von Wikipedia gezeigten Stadtansichten schienen ihr fremd. Wahrscheinlich hatte sich auch viel verändert, sie war immerhin seit über 40 Jahren weg aus der Stadt. Schade, sie hatte gehofft, hier einige Erinnerungen zu finden.
Pünktlich erschien sie am nächsten Morgen im Büro. Kristina hatte die Fotos am Abend wieder zurück in die Schachtel gelegt. Es gab schließlich Wichtigeres. Ihr Leben war gut, so wie es war. Und nun wollte sie sich wieder dem Arbeitsalltag widmen. In Marks Büro saßen sie gemeinsam vor dem Rechner. Weil sich sein Aufgabengebiet, die Lagerung, und ihr Aufgabenge-
biet, der Transport, gelegentlich überschnitten, stimmten sie die Zahlen ab. Mark hatte überlegt, ob er seine Kollegin noch einmal ansprechen sollte, was denn gestern gewesen sei, hatte es dann aber doch gelassen. Nun wirkte sie eigentlich wie früher. Anscheinend hatte ihr der frühe Feierabend geholfen, ihr Problem zu lösen.
Auch Kristina hatte das gemeinsame Arbeiten mit Mark Freude bereitet und sich wieder ausgeglichener gefühlt. Als sie jedoch zurück in ihr Büro kam und auf den Monitor sah, sank ihre Laune rapide ab. Seit sie über Satellit per PC oder sogar Smartphone erfuhr, wo sich ihre Lastzüge gerade befanden, und auch die Frachtaufträge über Internet übermittelt wurden, telefonierte sie nur noch selten mit den Fahrern. Doch als sie jetzt sah, dass sich ein LKW seit fast 3 Stunden nicht bewegt hatte, griff sie doch zum Telefon.
»Na sag mal, Frank, was ist denn los bei dir? Du stehst ja immer noch in der Mühle!«, knurrte sie den Fahrer am anderen Ende an. »Ja, natürlich weiß ich, dass du nichts dafür kannst«, lenkte sie aber gleich darauf ein. Es war schließlich Freitag und Frank wollte das Wochenende auch nicht irgendwo auf der Autobahn verbringen.
»Na, dann ist es ja gut«, erwiderte sie auf Franks Antwort, dass er als nächster abkippen könne und dann direkt zur letzten Ladestelle fahren würde. »Ich werde zur Sicherheit da anrufen, dass du etwas später kommst, nicht dass da Mittag Feierabend ist.« Sie beendete das Gespräch und gab die Nummer der Ladestelle ins Telefon ein.
Kurz und knapp schilderte sie den Sachverhalt und stellte die Frage nach der Beladezeit. Und während sie der Stimme aus dem Telefon lauschte, die was von »Ach wo, käen Probläm… bis um viere…« sagte, fühlte sich ihre Kehle wie zugeschnürt an. Auf den Bildern hatte sie nach einer Erinnerung gesucht, hier kam eine durch das Telefon. Sie kannte diesen Klang der Worte, der so anders war als das biedere Norddeutsche. Dieser Dialekt, der war noch in ihr, den hörte sie heraus. Kristina sah auf die Karte. Der Punkt, der den LKW markierte und der sich gerade in Bewegung setzte, war kaum einen Fingerbreit von ihrer alten Heimat entfernt. Von dort, wo Frank in einer halben Stunde laden würde, waren es nur noch zehn Kilometer.
»Ja, ich fahre!« Jetzt stand ihr Entschluss fest.
»Wohin fährst du?« Mark war unbemerkt herein gekommen und sah sie verwundert an.
»Dort hin!« Kristina stupste mit dem Finger auf den Monitor. »Zum Klassentreffen.«
Zwei Stunden später stand dem Wochenende nichts mehr im Wege. Frank war der Letzte ihrer Truppe gewesen, nun war auch er auf dem Heimweg. Zwar würde er erst am Samstagmorgen daheim sein und am Montag abkippen, doch das war egal.
Als sich Kristina von Mark verabschiedete, sah sie wiederum in das fragende Gesicht ihres Kollegen.
»Nun guck nicht so!«, versuchte sie, ihn mit einem Schmollmund zum Lachen zu bringen. »Ich werde es dir erklären«, versprach sie. »Aber nicht mehr heute. Wenn du magst, können wir nächste Woche mal wieder gemeinsam essen gehen.« Mark nickte ihr zu, aber er blieb nachdenklich. Welches Geheimnis trug Kristina mit sich herum?
In ihrer Wohnung angekommen, setzte sich Kristina gleich an den Laptop. Berit hatte ihr eine EmailAdresse mitgeschickt, an die wollte sie nun schreiben, ihre Entscheidung war gefallen.
Nachdem sie das erledigt hatte, schien es ihr, als sei eine große Last von ihr gefallen. Sie holte die Leiter aus dem Abstellraum und begann, die Gardinen abzuhängen und in die Waschmaschine zu befördern. Eigentlich hatte sie gar keine Gardinen haben wollen, bei der Mutter waren die ihr immer total spießig erschienen. In ihrer eigenen Wohnung waren dann auch erst einmal keine vorgesehen. Doch es hatte nicht lange gedauert, da fehlte ihr der zarte Stoff vor dem Fenster. Nun zierten bodenlange, transparente Stores ihre Fenster. Die hingen allerdings nicht mehr an alten Gardinenleisten, wie sie es von Mutter kannte, sondern an modernen Haltesystemen aus Drahtseilen.
Während die Gardinen in der Waschmaschine vor sich hin drehten, bereitete Kristina sich etwas zum Abendessen zu und Toni nutzte die noch im Zimmer stehende Leiter als Ausguck. Ach ja, Kater, sinnierte Kristina, wenn du reden könntest, hättest du einen guten Rat für mich? Denn das Jahrgangstreffen war das Eine, die Frage nach ihrem Vater war etwas ganz anderes. Würde sie den wohl auch im Mansfeldischen finden?
Als Kristina am nächsten Morgen erwachte, war es bereits hell. Sie hatte es sich am Abend noch mit einem Glas Wein in einer Badewanne voll mit warmen, duftenden Schaumbad gemütlich gemacht. Danach hatte sie geschlafen wie ein Murmeltier. Als sie sich jetzt streckte, fühlte sie am Fußende des Bettes, die dort zusammengerollten Katze.
»Na Toni, was meinst du, stehen wir auf?« Als hätte er ihre Worte verstanden, sprang der Kater aus dem Bett und trabte in Richtung Küche. Sein Knurrlaut, den er von sich gab, bedeutete wohl, dass es Frühstück geben sollte.
Kristina setzte die Kaffeemaschine in Gang und legte zwei Scheiben Weißbrot in den Toaster. Im Bad sah sie in den Spiegel und fragte sich selber: »Na, was machen wir denn heute Schönes?« Stets waren es die Wochenenden, an denen sie grübelte, ob es wirklich gut war, so ganz allein zu sein. So manches Mal hatte sie schon daran gedacht, Mark zu fragen, ob sie etwas gemeinsam unternehmen wollten, es dann aber doch immer wieder sein lassen.
Erst einmal widmete sie sich nach dem Frühstück der Hausarbeit. Ab und zu ging ihr Blick aus dem Fenster hinunter zur Uferpromenade. Doch das trübe Spätherbstwetter lud nicht zum Bummeln ein. Schließlich nahm sie ihre Sporttasche und packte Badesachen ein. In einem der Hotels gab es eine schöne Wellnesslandschaft, mit Sauna, Schwimmbad und Fitnessraum, in der auch Besucher, die nicht im Hotel wohnten, gern gesehen waren. Sie wollte einfach nur abschalten, nicht weiter grübeln, keine Fotos hin und her drehen, nicht auf den Monitor starren und auf Erkenntnisse hoffen. Kommt Zeit, kommt Rat. Das war Mutters Devise gewesen. Irgendwie war es immer weiter gegangen, schon damals, als sie mit nichts außer zwei Koffern an der Küste angekommen waren. Kristina tauchte in das warme Wasser ein und ließ sich treiben.
Kein Sternehotel, ein recht einfaches FDGB-Heim hatte ihnen als erstes ein Dach über dem Kopf geboten. Und Arbeit für die Mutter. Alles andere kam später. Daran erinnerte sie sich, an das Vorher jedoch nicht.
Müde vom Schwimmen und von der Sauna machte sie sich am späten Abend auf den Heimweg. Sie hatte noch im Hotel zu Abend gegessen und fühlte sich trotz ihrer Müdigkeit gut erholt. Sie liebte das Wasser. Den ganzen Sommer über ging sie fast täglich in der Ostsee baden. Abends, wenn sie von der Arbeit kam und der Strand sich leerte, gefiel es ihr besonders. Sie hatte sich immer eingeredet, keine anderen Menschen zu brauchen, doch jetzt rührten sich leise Zweifel. Es war Mutters Einstellung gewesen, die sie, wie so vieles, ohne Fragen übernommen hatte. Wir brauchen keinen, wir haben ja uns, so klang es ihr noch heute in den Ohren.
Am Sonntagmorgen stieg Kristina gleich nach dem Frühstück ins Auto. Fast schon automatisch fuhr sie diese Strecke über den Peenestrom zum Festland. Doch während sie in der Woche gleich nach der Schlossinsel links zum Kai abbog, fuhr sie heute nach rechts in Richtung Tannenkamp zum Friedhof. Nein, sie war kein regelmäßiger Friedhofsbesucher, doch heute war Totensonntag, da wollte sie dem Grab ihrer Mutter einen Besuch abstatten. Sie hatte sich damals, als die Mutter gestorben war, für ein kleines Urnengrab entschieden und es mit einer Einfassung und einer schlichten Marmorplatte versehen lassen, die nur wenig Raum für Bepflanzungen ließ. So musste sie nicht zwangsläufig, der Pflege der Blumen wegen, regelmäßig zum Friedhof fahren. Auch diesen Hang zum Praktischen hatte sie wohl von ihrer Mutter übernommen. Nun stand sie hier und blickte auf die Inschrift: Marianne Schmidmann 1939 – 1998 Mit einem Papiertaschentuch wischte sie über den kalten Stein. Sie legte das mitgebrachte Gesteck in Herzform auf die freie Stelle
der Grabplatte. Obwohl der Tod der Mutter recht plötzlich gekommen war, hatte sie immer gut damit umgehen können. Doch jetzt empfand sie den Verlust als tragisch und schmerzlich. In stiller Zwiesprache stand sie hier und hätte ihre Mutter anschreien mögen: Was hast du alles mit ins Grab genommen?
Langsam bummelte Kristina über den Friedhof, auf dem es heute vor Menschen nur so wimmelte. Sicher gab es einige, die auch nur am Totensonntag den Weg zum Friedhof fanden. Wenn sie in ihre alte Heimat fahren würde, dann musste sie unbedingt auch zum Friedhof gehen, nahm sie sich vor. Dass ihre Großeltern noch lebten, war nicht zu erwarten, aber Gräber müsste es doch geben. Sie könnte ja ein paar Tage dort bleiben, überlegte sie. Vielleicht kam dann die Erinnerung wieder. Oder es gab noch jemanden, der sich erinnerte, Nachbarn vielleicht oder Eltern von Mitschülern.
Ein deutliches Hungergefühl zeigte ihr, dass es Zeit wurde, etwas zu essen. Wie schön wäre es jetzt, nicht allein hier zu sein, dachte sie. Vielleicht war Mark ja auch allein und hatte noch nichts gegessen? Kristina nahm ihr Handy aus der Tasche und wählte Marks Festnetznummer an. Sie ließ es einige Zeit klingeln und drückte dann den Anruf weg. Nein, von seiner Handynummer machte sie lieber keinen Gebrauch. Wenn sie ihn nicht daheim erreichen konnte, dann war er wohl anderweitig beschäftigt. Sie wollte ihn dann
nicht stören. So lange arbeiteten sie nun schon zusammen, doch eigentlich wusste sie so wenig über ihn. Kristina musste sich eingestehen, dass es nicht Marks Schuld war. Mehr als einmal hatte er den Versuch unternommen, mit ihr über private Dinge zu sprechen, doch sie selbst hatte immer wieder abgeblockt.
Gegenüber vom Friedhof lag das Gelände des Tierparks. Im ersten Sommer an der See war sie mit der Mutter einmal hier gewesen. Inzwischen hätte sie die schöne, parkähnliche Anlage mit Enkeln besuchen sollen, doch nicht einmal zu einem Kind hatte sie es gebracht. Es war ihr nie vorher so schmerzlich aufgefallen, wie allein sie war.
Schließlich fuhr sie mit dem Auto in die Innenstadt und suchte sich ein nettes Restaurant. Das Essen war sehr gut und vertrieb ein wenig ihre trüben Gedanken. Und überhaupt, morgen früh würde alles wieder seinen geordneten Gang gehen. Betont langsam fuhr Kristina zurück zur Insel. Sie hatte es nicht eilig. In ihrer Wohnung nahm sie sich ein Buch aus dem Regal und machte es sich gemeinsam mit Kater Toni auf dem Sofa gemütlich.