Kitabı oku: «Emmas Sommermärchen»

Yazı tipi:

Ivy Bell

Emmas

Sommermärchen

September 2018

© 2018 by Ivy Bell, Berlin

Umschlaggestaltung: Ivy Bell

Umschlagabbildung: © Ivy Bell

Lektorat: B. Klotzberg

Das Werk einschließlich aller Inhalte ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder Reproduktion (auch auszugsweise) in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie oder anderes Verfahren) sowie die Einspeicherung, Verarbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung mithilfe elektronischer Systeme jeglicher Art, gesamt oder auszugsweise, ist ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung der Autorin untersagt. Alle Übersetzungsrechte vorbehalten. Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit real existierenden Menschen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Über das Buch

Sommer 2006. Ganz Deutschland ist im Fußballfieber, nur Emma Licht hat ganz andere Sorgen. Sie steht vor diversen Entscheidungen, die ihre Zukunft betreffen.

Da wirft ein Fund in ihrem Elternhaus sie und ihre Schwester Carla gehörig aus der Bahn.

War ihr Vater etwa doch nicht der ehrliche, gradlinige Mann, für den sie ihn gehalten haben?

Zusammen mit ihrer Schwester, tatkräftig unterstützt durch ihre Tante, begibt Emma sich auf Spurensuche, um ein Geheimnis aus der Vergangenheit zu lüften.

Der Ort Möwenburg ist meiner Fantasie entsprungen, Ähnlichkeiten mit anderen Orten sind rein zufällig.

Nach »Ein Spatz im Advent« der zweite Roman, in dem es um die Schwestern Emma und Carla geht. Beide Bücher können unabhängig voneinander gelesen werden.

Inhalt

Über das Buch

10. Juni 2006

10. Juni 2006, am Nachmittag

11. Juni 2006

11. Juni 2006, am Abend

12. Juni 2006

14. Juni 2006

16. Juni 2006

17. Juni 2006

April 1974

19. Juni 2006

20. Juni 2006

6. Juli 1974

20. Juni 2006, später Nachmittag

21. Juni 2006

23. Juni 2006

November 1974

24. Juni 2006

24. Juni 2006, am Abend

25. Juni 2006

27. Juni 2006

28. Juni 2006

Sommer 1978

29. Juni 2006

29. Juni 2006, später Nachmittag

Sommer 1978

29. Juni 2006, am Abend

30. Juni 2006

Sommer 1978

30. Juni 2006, später Nachmittag

1. Juli 2006

2. Juli 2006

3. Juli 2006

4. Juli 2006

6. Juli 2006

7. Juli 2006

7. Juli 2006, am Abend

8. Juli 2006

9. Juli 2006

10. Juli 2006

11. Juli 2006

12. Juli 2006

13. Juli 2006

14. Juli 2006

15. Juli 2006

15. Juli 2006, am Abend

16. Juli 2006

Über die Autorin

10. Juni 2006

Hamburg

Emma erwachte mit einem pelzigen Gefühl im Mund. Sehr unangenehm! Sie öffnete vorsichtig ihr linkes Auge und blinzelte zu ihrem Nachttisch, auf dem normalerweise eine kleine, gelbe Plüschente saß. Heute aber nicht. Emma räusperte sich. Sie wird doch wohl nicht ihre geliebte Ente..... Nein! Niemals würde sie sie entsorgen. Emma schaute sich vorsichtig um. Irgendetwas stimmte mit dem Zimmer nicht. Es wirkte viel kleiner. Da bemerkte Emma eine Bewegung neben sich und hörte ein Stöhnen. Langsam kehrten ihre Erinnerungen an den gestrigen Tag zurück.

Als sie gestern am späten Nachmittag von einem Praktikum in England zurückgekehrt war, warteten am Bahnhof Carla, Simone und Sarah auf sie. Zwischen sich ein Plakat, auf dem in großen Buchstaben »Willkommen zu Hause, Emma« stand, umrahmt von vielen kleinen Herzchen und Blumen, die alle etwas windschief aussahen. Sie riefen, winkten und hüpften auf und ab. Emma mochte keinen Rummel um ihre Person und war natürlich sofort knallrot angelaufen. Sie hatte sich geduckt, obwohl das bei ihrer Größe von gerade mal 164 cm eigentlich gar nicht nötig gewesen wäre, und war zu der kleinen Gruppe gelaufen, um ihnen als Erstes das Plakat zu entreißen. Das folgende Handgemenge zog natürlich wesentlich mehr Aufmerksamkeit auf sich, als Emma lieb war. Die anderen johlten und kreischten, Emma verknotete sich in dem Plakat, irgendjemand rief etwas, was sie aber nicht verstehen konnte, schließlich prallte sie gegen etwas weiches und landete unsanft auf dem Boden. Als sie verstohlen unter dem Plakat hervorlugte, sah sie in das Gesicht eines grinsenden, sehr rundlichen Mannes. Emma wollte etwas sagen, aber es kam nur ein hilfloses Fiepen aus ihrem Mund. Der Mann hielt ihr seine Hand hin, verbeugte sich, half ihr auf und ging dann lachend seiner Wege.

Carla feixte: »Wie du an seinem Bauch abgeprallt bist, herrlich!«

»Das hat man davon, wenn man seinen Freunden das mit viel Herzblut gemalte Willkommensplakat entreißt«, Sarah schüttelte ihre roten Locken und lachte.

»Ihr wisst doch genau, dass ich es nicht mag, im Mittelpunkt zu stehen.« Emma versuchte, ein geknicktes Gesicht zu machen, konnte sich selber aber das Lachen nicht mehr verkneifen.

Schließlich hatten die Vier Emmas Gepäck nach Hause gebracht und waren in ein nettes Restaurant gegangen, in dem Emma ihren Freunden erst einmal ausführlich von ihrem Praktikum erzählen musste. Während sie von den wunderschönen Gärten schwärmte, ließ sie ihren Blick durch den Raum schweifen. Das Lokal war brechend voll, auch auf der Terrasse war kein Platz mehr frei. Sowohl im Restaurant als auch im Außenbereich lief ein Fernseher, offenbar wurde Fußball übertragen. Emmas Interesse an Sport war noch nie besonders groß gewesen. Das hatte schon in der Grundschule angefangen, als sie als Kleinste der Klasse beim Bocksprung am Hindernis hängen geblieben war. Das Gelächter ihrer Klassenkameraden verfolgt sie noch heute in ihren Albträumen.

»Wird heute irgendein wichtiges Spiel übertragen?«, wandte sich Emma an ihre Freundin Sarah, die sich sehr für Fußball interessierte. Am Tisch wurde es still. Schließlich prusteten die Anderen los.

»Du lebst wirklich nur für Pflanzen und Gärten, oder? Heute ist das Eröffnungsspiel der Fußball WM in München. Deutschland spielt gegen Costa Rica«, erklärte Sarah.

»Und warum bist du dann hier und sitzt nicht zu Hause, knabberst aufgeregt an deinen Fingernägeln und feuerst »Deine Jungs« an?«, fragte Emma etwas spitz. Sarah war nämlich ein ausgesprochener Fußballfan, hatte eine Zeit lang selber gespielt, sich aber inzwischen lieber aufs Zugucken beschränkt. Nach mehreren Verletzungen wollte sie nicht mehr auf dem Spielfeld herumrennen.

»Weil ich dich heute wiedersehen wollte. Außerdem kann ich ja ab und zu mal gucken, wie der Stand ist. Die Spiele werden doch sowieso überall übertragen. Je weiter die deutsche Mannschaft kommt, desto öfter werde ich mich in meine eigenen vier Wände zurückziehen und mir alles in Ruhe ansehen. Also genießt heute noch mal meine Anwesenheit, es könnte sein, dass ihr mich in den nächsten Wochen nicht mehr zu Gesicht bekommt.« Sarah lehnte sich zufrieden in ihrem Stuhl zurück und Emma bemerkte amüsiert, dass sie versuchte, den Ausführungen im Fernseher zu lauschen. Sie beschloss, ihre Aufmerksamkeit mehr auf ihre Schwester Carla und ihre Freundin Simone zu lenken. Sarah würde spätestens in neunzig Minuten wieder ansprechbar sein.

»Wie geht es Nina?«, wandte Emma sich an Simone.

»Sie pubertiert vor sich hin. Gerade war sie noch kuschelig und lieb, im nächsten Moment findet sie alles öde und zieht sich zurück. Ich komme aber ganz gut damit klar, schließlich war ich auch mal zwölf und fand das Leben merkwürdig, die Schule doof und überhaupt alles so schwer. Ich bin froh, dass ich Barbara habe. Sie hilft mir sehr.«

Emma schaute in Simones hübsches, schmales Gesicht mit den ausdrucksvollen, grünen Augen. Seit sechs Jahren war Simone nun mit Nina alleine, so lange war es schon her, dass ihr Mann Stefan, der Sohn von Barbara, von einem betrunkenen Autofahrer überfahren worden war. Emma fragte sich, warum Simone nicht schon längst einen neuen Freund hatte. Ob sie immer noch zu sehr an Stefan hing? Obwohl sie seit über drei Jahren mit Simone befreundet war, hatte sie sich noch nie getraut, ihr diese Frage zu stellen. Meistens gingen sie ins Kino und redeten danach über den Film. Oder sie kochten und aßen zusammen und machten Spieleabende mit Nina, aber im Beisein ihrer Tochter würde sie Simone solche Fragen erst recht nicht stellen.

Simone streckte sich und zeigte feixend auf Sarah, die sich auf ihrem Stuhl umgedreht hatte und fast über dem Nachbartisch hing, um das Spiel besser verfolgen zu können. Die Frau am Nebentisch schaute sie böse an, sie fühlte sich offensichtlich beim Turteln mit ihrem Begleiter gestört, aber das bemerkte Sarah nicht. Jetzt griff sie sogar geistesabwesend in die Schale mit Nüssen, die auf dem Tisch stand.

»Sarah bekommt gleich was auf die Finger, wenn sie weiter auf den Nachbartisch kriecht. Die Frau sieht nicht gerade begeistert aus.«

»Solange sie nicht vor die Tür gehen um sich zu duellieren, können wir ganz entspannt sitzen bleiben.«, bemerkte Carla und gähnte.

Sie sah müde aus und hatte dunkle Ringe unter den Augen, die man trotz der sorgfältig aufgetragenen Schminke sehen konnte. Emma griff besorgt nach der Hand ihrer Schwester.

»Du siehst müde aus. Wir können auch nach Hause gehen. Nicht, dass du noch vom Stuhl kippst.«

»Kommt nicht in Frage. Es war nur wieder etwas anstrengend in der Agentur. Frau Hagen hatte schlechte Laune, wir waren ihr alle zu langsam, also eigentlich wie immer«, Carla verdrehte die Augen. »Ich bestelle mir jetzt noch einen Kaffee, dann geht es schon wieder. Wir machen heute richtig einen drauf, ich freue mich doch so, dass meine kleine Schwester wieder da ist. Morgen ist Samstag, da können wir ausschlafen. Sarah und Simone freuen sich auch schon seit Wochen auf diesen Tag.«

»Ich war doch aber nur sechs Wochen weg«, bemerkte Emma, fühlte sich aber trotzdem geschmeichelt.

Emma räkelte sich unter der Bettdecke und dachte an den weiteren Verlauf des gestrigen Abends. Als das Fußballspiel zu Ende war, fingen alle an zu jubeln. Deutschland hatte gewonnen und das halbe Restaurant lag sich in den Armen, auch Sarah und die Dame vom Nebentisch, mit der sie im Verlauf des Spiels tatsächlich Brüderschaft getrunken hatte. Sie hatten nämlich festgestellt, dass sie beide eine Schwäche für Jens Lehmann hatten, so etwas verbindet offensichtlich.

Anschließend statteten die Freundinnen ihrem Lieblingsclub einen Besuch ab und tanzten und feierten dort in fröhlicher Runde. Die ganze Stadt befand sich wegen des Siegs der deutschen Mannschaft in Feierlaune. Schließlich waren sie in den frühen Morgenstunden alle Vier in die Wohnung von Emma und Carla gegangen, hatten dort noch ein Glas Sekt getrunken und sich dann auf die Betten verteilt. Emma war zu ihrer Schwester Carla ins Bett gekrochen und überlies ihr Zimmer Sarah und Simone. Daher saß auch keine Plüschente auf dem Nachttisch, ihre Schwester besaß nämlich keine Kuscheltiere. Emma beschloss, vorsichtig aufzustehen und die Anderen mit einem schönen Frühstück zu überraschen. Schließlich hatten sie ihr einen unvergesslichen Empfang bereitet.

10. Juni 2006, am Nachmittag

Hamburg

Nach einem ausgiebigen Frühstück mit ihren Freundinnen beschloss Emma, Barbara einen Besuch in ihrem hübschen Blumen- und Dekoladen abzustatten. Simone wollte sowieso Nina abholen, da konnte sie diese begleiten. Der Laden war zwar schon geschlossen und Simone war mit Nina nach Hause gegangen, aber Barbara lief immer noch geschäftig hin und her, sortierte welke Blumen aus, goss Pflanzen und arrangierte Dekomaterial um. Emma lümmelte in einem Korbstuhl herum und versuchte, Barbaras Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Was gar nicht so einfach war.

»Hallo, Barbara, es ist Samstag, du hast morgen frei«, flötete Emma. Daraufhin stellte Barbara ihre Gießkanne beiseite und nahm Emma nochmal fest in die Arme.

»Na, mein Mädchen, lass dich mal anschauen«, sie schob Emma ein Stück von sich weg und sah ihr ins Gesicht. »Du siehst gut aus, frisch und zufrieden.«

»Mir geht es auch gut, der Aufenthalt in der Gärtnerei in Cornwall war richtig schön. Nach dem Studium nochmal ein wenig praktisch zu arbeiten hat mir gutgetan. Die haben dort richtig große Gärten und Parkanlagen geplant, Wahnsinn!«

»Wie geht es bei dir weiter? Du hast einen Bachelor in Gartenbau. Studierst du weiter oder suchst du dir hier eine Arbeit?«

Emma zuckte die Schultern. Sie war noch zu keinem Entschluss gekommen. Die Zeit in England war schön gewesen, aber manchmal hatte sie sich auch einsam gefühlt. Wieder einmal hatte sie die Gespräche mit ihren Eltern, vor allem mit ihrer Mutter, schmerzlich vermisst.

Im Dezember 2001 waren die Eltern von Emma und Carla bei einem Rundflug über Stockholm und die Schären verunglückt. Emma brauchte lange, um wieder in ein normales Leben zurückzufinden. Dabei war ihr gar nicht aufgefallen, dass Carla, die immer so stark wirkte und zupacken konnte, genauso litt wie sie, sich aber zusätzlich Sorgen um die Zukunft machte. Schließlich war sie Barbara begegnet, die im Dezember 2002 in ihr Wohnhaus einzog und dort einen Blumen- und Geschenkeladen eröffnete, in dem Emma immer wieder aushilfsweise eingesprungen und so nach und nach wieder ins Leben zurückgekehrt war. Hier in diesem Laden hatte sie ihre Liebe zu Pflanzen und Gärten entdeckt und sich entschlossen, Gartenbau zu studieren. Mit Barbara, die selber ihren Sohn verloren hatte, konnte sie über ihre Trauer reden. Das alles war eine große Hilfe gewesen, ihr Schicksal zu verarbeiten, und nebenbei hatte sie sogar ihren Traumberuf gefunden. Zum Sommersemester 2003 begann sie ihr Studium der Gartenbauwissenschaften an der Uni Hannover, welches sie pünktlich nach sechs Semestern mit dem Bachelor abschloss. Danach war sie für ein Praktikum nach England gereist, zum einen, um ihre Sprachkenntnisse zu vertiefen, zum anderen, um dort in den herrlichen Gartenanlagen Praxiswissen zu sammeln. Und, wenn sie ehrlich war, um ein wenig Abstand von Marco zu bekommen. Seit eineinhalb Jahren waren sie zusammen, und Marco fing langsam an, zu drängeln. Er wollte mit ihr zusammenziehen, wahrscheinlich sogar bald heiraten. Eigentlich sollte sie sich geschmeichelt fühlen, aber irgendetwas sperrte sich in ihr. Es ging ihr alles zu schnell. Sie hatte das Gefühl, sich gerade aufgerappelt zu haben, da kam jemand, und wollte sie in einen goldenen Käfig sperren. Okay, das war vielleicht ein wenig übertrieben. Emma war jedenfalls froh, dass Marco zur Zeit noch in New York war. Er machte dort nach seinem Jurastudium ein Praktikum in einer großen Anwaltskanzlei. Das gab ihr Zeit, über ihre weiteren Schritte nachzudenken.

Barbara räusperte sich und holte Emma damit aus ihrer Grübelei.

»Ich habe mir noch gar keine Gedanken gemacht, ob ich weiter studieren und den Master machen möchte oder nicht. Das werden die nächsten Wochen zeigen.«

»Du bist noch so jung, du musst nichts überstürzen.« Barbara zwinkerte und kniff Emma in die Wange. »Ich habe einen Quarkkuchen gebacken, möchtest du ein Stück haben?«

»Da brauchst du mich nicht zweimal fragen«, jubelte Emma und folgte Barbara in ihre Küche.

Währenddessen saß Carla oben in ihrer Wohnung am Rechner und zog ihre Stirn kraus. Sie stöhnte. Wieder und wieder las sie den Artikel, den ihr Frau Hagen gestern noch gemailt hatte. Mit den Worten »Das ist eine Katastrophe, überarbeiten Sie das schnellstens, ich möchte die Korrektur am Wochenende haben!«, war Frau Hagen an ihrem Schreibtisch vorbei zu einem Termin gerauscht, kurz bevor Carla zum Bahnhof aufgebrochen war, um Emma abzuholen. Ihre Schwester hatte recht, sie war müde. Sie hatte genug von ihrem Volontariat in der Agentur »Schiller & Tegenkamp«. Sie war eine fertige Wirtschaftswissenschaftlerin und musste sich dort behandeln lassen wie der letzte Mensch. Der Artikel war keine Katastrophe, er war gut recherchiert und geschrieben. Sie wusste das, aber Frau Hagen piesackte Volontäre gerne. Es ging das Gerücht um, dass sie in jedem Volontär einen potentiellen Nachfolger sah und somit Angst hatte, mit über 50 Jahren plötzlich ohne Arbeit dazustehen, weil eine Jüngere besser sein könnte als sie. Völliger Quatsch! Carla grinste böse. Sie hatte nicht vor, Frau Hagen ihren Job streitig zu machen. Sie strebte die Selbständigkeit an. Seit sie bei »Schiller & Tegenkamp« arbeitete, sehnte sie den Tag herbei, an dem sie eine eigene Agentur gründen würde. Aber jetzt musste sie dieses Volontariat durchziehen. Wenn man es geschafft hatte, dort zu bestehen, standen einem alle Türen offen. Sie tippte ein wenig auf der Tastatur herum. »sdgjl« stand nun mitten in ihrem Text. Das machte es auch nicht besser. Carla löschte die Buchstaben, schloss die Datei und fuhr den Rechner herunter. Sie würde heute Abend nochmal über den Text schauen. Jetzt wollte sie erst einmal die Sonne genießen. Sie griff nach ihrer Tasche und ihrem Wohnungsschlüssel, musterte ihr müdes Gesicht im Flurspiegel und griff nach ihrer Sonnenbrille. Sie setzte die Brille auf ihre Nase und grinste keck in den Spiegel. »Die Augenringe muss ja keiner sehen, ich lasse einfach die Brille auf« flüsterte sie ihrem Spiegelbild zu und verließ die Wohnung, um Emma abzuholen. Dabei dachte sie darüber nach, dass sie ganz schön fertig sein musste, wenn sie nun schon anfing, mit ihrem Spiegelbild zu sprechen. Sie hüpfte die Treppen hinunter und beschloss, sich diesen Tag von niemandem verderben zu lassen. Schon gar nicht von Frau Hagen.

11. Juni 2006

Hamburg

Emma lümmelte auf einem Küchenstuhl herum. Die Fenster des französischen Balkons waren weit geöffnet und sie hielt ihre Beine in die Sonne. Es war herrlich warm.

Sie seufzte. Gestern hatte sie noch mit Marco telefoniert. Nächstes Wochenende kommt er aus New York zurück und dann müsste sie sich langsam entscheiden, wie es weiter geht. Er betonte ständig, wie sehr er sich schon auf sie freute, um danach wieder mit diesem leidigen Wohnungsthema anzufangen. Emma kratzte an ihrem Telefon herum und behauptete, die Verbindung wäre so schlecht. Nachdem sie ein paar Mal »Hallo! Marco? Ich höre nichts!« gerufen hatte, legte sie einfach auf. Carla, die mit ihr in einem Biergarten saß, schaute sie merkwürdig an.

»Kann es sein, dass du gar nicht mit Marco zusammenziehen möchtest?«, fragte Carla, und Emma gab zu, dass ihr das alles zu schnell geht.

Carla äußerte sich nicht weiter zu diesem Thema, aber das brauchte sie auch nicht. Emma wusste, dass Carla mit Marco einfach nicht warm wurde. Sie konnte nicht genau sagen, was es ist, aber irgendetwas störte sie an Marco.

Emma wackelte mit ihren Zehen und streckte sich wohlig. Heute würde sie sich nicht mehr entscheiden, wie es weiter gehen würde, dazu war das Wetter viel zu schön. Sie hatte in den letzten Jahren viel gearbeitet, da konnte sie sich jetzt auch mal eine kleine Auszeit nehmen.

Aus Carlas Zimmer war heftiges Tippen zu hören. Emma wusste, wenn ihre Schwester so auf die Tastatur hämmerte, dann war sie im Stress. Sie machte sich Sorgen. Carla wirkte überarbeitet und unzufrieden, aber als Emma sie gestern nach ihrem Volontariat fragte, hatte Carla abgewunken und gemeint, darüber wolle sie heute nicht sprechen. Emma beschloss, ein wenig zu lesen und Carla später zu bekochen. Vielleicht könnten sie abends auch noch an der Elbe spazieren gehen, das würde sie bestimmt entspannen, bevor ihre Arbeitswoche wieder losging. Und vielleicht würde es Emma auch helfen, ein paar Entscheidungen zu treffen.

Carla starrte wütend auf ihren Laptop. Sie wusste nicht mehr, was sie ändern sollte. Frau Hagen könnte ihr mal im Mondschein begegnen! Sie öffnete ihr Mailprogramm, schrieb ein paar höfliche Zeilen an Frau Hagen und kopierte ihren leicht geänderten Artikel in den Anhang. Dann drückte sie auf »Senden« und lehnte sich zurück. Morgen würde Frau Hagen sie garantiert in ihr Zimmer zitieren. Sie würde ihre dürren Finger unter ihrem Kinn aneinanderpressen und sie über den Rand ihrer strengen Brille mit ihren kalten, grauen Augen mustern. Dann würde sie ihr sagen, dass sie ihr den Text zur erneuten Bearbeitung gemailt hatte; Frau Hagen war nämlich ein Fan des papierlosen Büros. So war es immer. Carla schaffte es nicht, Frau Hagen mit ihren Artikeln zufriedenzustellen. Und was noch schlimmer war, auch die zweite Version war in der Regel nicht gut genug.

Carla griff nach dem Telefon und rief Chris an. Er würde sie garantiert wieder aufheitern können, schließlich kannte er Frau Hagen. Chris arbeitete schon seit sieben Jahren bei »Schiller & Tegenkamp«, allerdings hatte er einen netteren Chef. Carla hatte ihn kennengelernt, als sie, einem Nervenzusammenbruch nahe, auf die Toiletten im Gang stürmen wollte, um sich zu beruhigen. Dabei rannte sie leider in Chris, der gerade mit ein paar Unterlagen aus dem Fahrstuhl kam. Die Unterlagen flogen durch die Gegend, und während Carla mir Chris auf dem Boden herumgekrochen war, um alles wieder einzusammeln, hatte er schon herausbekommen, wer sie war, in welcher Abteilung sie angestellt war, dass sie Volontärin war, wo und was sie studiert hatte und so weiter und so fort. Chris war eben Redakteur durch und durch und wusste, wie er den Leuten etwas aus der Nase ziehen konnte. Außerdem war er extrem neugierig, liebte dramatische Geschichten, und war schwul. Für Carla war er ein Lichtblick in der Agentur. Auch, wenn ihr nach ihrer ersten Begegnung der Kopf geschwirrt hatte. Noch nie war sie in so kurzer Zeit mit so vielen Fragen bombardiert worden, und sie hatte auch noch nie so bereitwillig geantwortet. Normalerweise war sie eher misstrauisch, aber aus irgendeinem Grund war ihr Chris sofort sympathisch gewesen. Seit diesem Tag hatten sie sich regelmäßig zum Mittagessen getroffen, waren irgendwann auch nach der Arbeit zusammen ausgegangen und inzwischen dicke Freunde.

Carla lauschte auf das Freizeichen und betete, dass Chris zu Hause war und ein wenig Zeit zum Quatschen hatte. Nach dem dritten Klingeln nahm er ab.

»Hallo?«

Oh weh, er klang verschlafen. Dann war er bestimmt lange unterwegs gewesen.

»Hallo Chris, hier ist Carla«.

Sofort änderte sich Chris´ Tonlage.

»Carla, Schätzchen, wie geht es dir? Alles in Ordnung? Du klingst ein wenig bedrückt. Ich dachte, du hast ein ganz tolles Wochenende mit deiner Schwester.«

Carla seufzte. »Eigentlich hatte ich das auch. Aber Frau Hagen hat mir am Freitag noch meinen letzten Artikel mit ihren freundlichen Anmerkungen zurück gemailt und behauptet, er wäre eine Katastrophe und sie erwartet die überarbeitete Version noch am Wochenende. Ich habe ihr den Artikel gerade geschickt.«

»Was hast du denn geändert? Der Artikel war super, da gab es nichts zu ändern!« Chris klang ehrlich entrüstet.

»Ein paar Formulierungen habe ich überarbeitet, im Mittelteil ein wenig gestrichen, aber sonst habe ich nichts geändert. Das gibt morgen bestimmt Ärger.«

»Weißt du was? Du schnappst dir jetzt deine Schwester und dann treffen wir uns bei mir. Das Wetter ist so schön, wir können entweder auf meiner Terrasse herumhängen oder noch ausgehen. Ich muss mich nur erst mal sammeln. Ich war gestern lange aus und habe so einen hinreißenden Mann kennengelernt.«, Chris machte eine kleine Pause und Carla hörte einen zufriedenen Seufzer durch das Telefon. Sie gluckste.

»Lachst du mich etwas aus?« Chris klang entrüstet.

»Nein!«, rief Carla, »niemals! Ich finde das nur süß, wenn du verliebt bist. Passiert ja auch nur etwa jedes zweite Wochenende.«

»Haha. Ich muss mich ja auch für Zwei verlieben, bei dir passiert schließlich gar nichts.«

»Vielen Dank!« Jetzt war es an Carla, gekränkt zu sein.

»Nun schmolle nicht. Mach den Laptop aus, vergiss die Hagen, schnapp dir deine Schwester und kommt her. Ich bin sowieso schon ganz neugierig auf Emma. Entweder, sie war in Hannover oder bei ihrem Freund oder in England. Seit wir uns kennen, versteckst du sie vor mir. Damit ist jetzt Schluss. Ich erwarte euch in einer halben Stunde bei mir.«

»Zu Befehl!« Carla lachte. »Aber gib mir eine dreiviertel Stunde. Ich muss mich noch ein wenig herrichten.«

»So sei es«, kicherte Chris ins Telefon, dann legte er auf.

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