Kitabı oku: «Die Zwangsjacke», sayfa 3

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Ich konnte lange im voraus sehen, wenn eine bestimmte Fliege Lust zum Spielen bekam. Es gibt allein in diesem Gegenstand tausend Einzelheiten, mit denen ich Sie nicht ermüden will, obwohl gerade diese Einzelheiten mir in dieser ersten Periode meiner Einsamkeit halfen, nicht ganz zu Tode müde und überdrüssig zu werden. Aber eines muß ich erzählen. Mir ist es höchst erzählenswert. Das war, wie der Querkopf sich in der Zerstreutheit eines Augenblicks unter den Strich setzte und gleich von mir gefangen wurde. Er schmollte eine ganze Stunde mit mir.

Und die Stunden sind lang in der einsamen Zelle. Ich konnte sie nicht alle zerschlafen. Und ich konnte ihnen auch nicht mit Hilfe meiner Fliegen fortfliegen, so intelligent sie auch waren. Fliegen sind ja nur Fliegen, und ich war ein Mensch mit einem Menschenhirn. Und mein Hirn war geübt und tätig, angefüllt mit Kultur und Wissenschaft und unter Hochdruck.

Und es gab nichts zu tun, während meine Gedanken wirr in fruchtlosen Spekulationen liefen. Da waren zum Beispiel meine Nachweise von Pentose und Methyl-Pentose in Weintrauben und Wein, deren Studium ich meine letzten Sommerferien in den Weinbergen von Asti widmete. Ich hatte meine Experimente gerade abgeschlossen. Ob wohl ein anderer jetzt die Arbeit fortsetzt, dachte ich – und wenn, ob mit Erfolg?

Sie werden verstehen, daß die Welt für mich tot war. Keine Neuigkeit von draußen gelangte zu mir. Die Geschichte der Wissenschaft hat schnelle Füße, und ich hatte Interesse für tausend Themen. Da war meine Theorie von der Hydrolysis von Kasein und Trypsin, womit Professor Walters in seinem Laboratorium arbeitete. Professor Schleimer hatte ebenfalls mit mir zusammen an der Entdeckung von Phytosterol in der Vermischung tierischer und vegetabilischer Fettstoffe gearbeitet. Natürlich wurde die Arbeit fortgesetzt – aber mit welchen Ergebnissen? Der Gedanke an all diese Tätigkeit, die eben außerhalb der Gefängnismauern erfolgte, und an der ich nicht teilnehmen und von der ich nie etwas hören sollte, war, um wahnsinnig zu werden. Und ich lag auf dem Fußboden in einer Zelle und spielte mit Fliegen.

Und doch war nicht nur Schweigen in meiner einsamen Zelle. Schon sehr bald merkte ich schwaches, leises Klopfen mit unregelmäßigen Zwischenräumen. Aus der Ferne hörte ich auch Klopfen, noch schwächer und leiser. Immer wurden diese Geräusche durch die gereizten Rufe der Wärter unterbrochen. Bei einer Gelegenheit, als das Klopfen zu lange andauerte, wurden Hilfswärter gerufen, und aus dem Geräusch wurde mir klar, daß Männern die Zwangsjacke angelegt wurde.

Das war leicht zu erklären. Wie jeder Gefangene in San Quentin wußte auch ich, daß die zwei Männer in den Einzelzellen Ed Morrell und Jake Oppenheimer waren. Und ich wußte, daß es diese beiden waren, die einander mit den Knöcheln Worte und Sätze zuklopften und dafür bestraft wurden. Daß der Code, den sie benutzten, ganz einfach war, bezweifelte ich nicht im geringsten, aber es dauerte doch viele Stunden, bis ich ihn lernte. Gott mag wissen, daß er einfach war, und doch wurde es mir unendlich schwer, ihn herauszufinden. Als einfach erwies er sich denn auch, als ich ihn endlich gelernt hatte; am allereinfachsten war der Trick, den sie anwandten und der mir so viel Kopfzerbrechen verursacht hatte. Nicht nur wechselten sie täglich den Buchstaben im Alphabet, bei dem der Code begann, sie wechselten ihn sogar bei jeder Unterhaltung, ja, oft sogar mitten in einer Unterhaltung. So fing ich eines Tages den Code beim richtigen Buchstaben an, verstand ganze zehn Sätze, und das nächste Mal, als sie miteinander sprachen, nicht einen Ton. Aber ich vergesse nie das erstemal, als ich verstand, was sie sagten! »Nun – Ed – was – würdest – du – jetzt – für Zigarettenpapier – und – eine – Tüte – Bull – Durham – geben?« fragte der Entferntere von den beiden.

Ich hätte vor Freude beinahe laut geschrien. Hier hatte ich ja Gesellschaft. Hier hatte ich Leidensgefährten! Ich lauschte gespannt, und der Nähere von den beiden, also Ed Morrell, antwortete:

»Ich – nähme – gern – zwanzig – Stunden – Zwangsjacke – für – eine – fünf – Cent –Tüte.« Dann unterbrach der Wärter sie fauchend:

»Hör auf, Morrell!«

Man wird vielleicht meinen, daß man, wenn man einen Mann zu Einzelhaft auf Lebenszeit verurteilt hat, ihm schon das Schlimmste angetan hat, und daß ein Wärter deshalb kein Mittel hat, ihn zu zwingen, das Klopfen zu unterlassen. Aber er hat ja die Zwangsjacke! Und den Hunger! Und den Durst! Und die Prügel! Wahrlich, ein Mann in einer Einzelzelle ist hilflos.

In dieser Nacht hörte das Klopfen auf, und als es wieder anfing, war ich ganz verwirrt. Bisher hatten sie es so gemacht, daß sie den Anfangsbuchstaben im Code wechselten. Aber den Schlüssel hatte ich doch gefunden, und im Laufe weniger Tage kam dasselbe System wieder, das ich erfaßt hatte. Ich wartete nicht, sondern fing gleich an.

»Hallo«, klopfte ich.

»Hallo, Fremder«, antwortete Morrell, und von Oppenheimer kam: »Willkommen in unserer Stadt.«

Sie waren neugierig, wer ich sei und auf wie lange und warum ich verurteilt wäre. Aber alles schob ich beiseite, um zuerst ihr System mit Bezug auf die Veränderung des Anfangsbuchstabens zu lernen. Erst dann unterhielten wir uns. Es war ein großer Tag – die zwei Lebenslänglichen waren drei geworden, wenn sie mich auch nur auf Probe aufnahmen. Wie sie mir lange nachher erzählten, fürchteten sie, ich könnte ein Spitzel sein. Das war nämlich früher schon vorgekommen, und Oppenheimer hatte teuer für das bezahlen müssen, was er dem Spitzel Direktor Athertons anvertraut hatte.

Zu meiner Überraschung – ja, laßt mich sagen, zu meinem Jubel – kannten die beiden mich in meiner Eigenschaft als Unverbesserlicher. Selbst in das lebende Grab, wo Oppenheimer zehn Jahre verbracht hatte, war mein Ruhm oder vielmehr mein schlechter Ruf gedrungen.

Ich hatte vieles zu erzählen, das im Gefängnis und in der Welt draußen geschehen war. Der Fluchtversuch der vierzig, das Dynamit und der Verrat Cecil Winwoods waren Neuigkeiten für sie. Wie sie mir sagten, sickerten zuweilen Neuigkeiten durch die Wärter zu ihnen durch, aber seit einigen Monaten hatten sie nichts gehört. Die Wärter, die jetzt unten postiert waren, waren eine besonders bösartige und rachgierige Gesellschaft.

Immer wieder wurden wir an diesem Tage wegen unseres Knöchelklopfens ausgescholten. Aber wir konnten es nicht lassen. Die zwei lebendig Begrabenen waren drei geworden, und wir hatten uns so viel zu erzählen, und dazu war die Art und Weise, wie wir es uns sagen konnten, so empörend langsam und ich zudem noch nicht so geübt wie sie darin.

»Warte, bis die Puddingfratze heute abend kommt«, klopfte Morrell. »Er verschläft den größten Teil seiner Wache, und dann können wir miteinander reden.«

Wie wir doch in dieser Nacht redeten! Kein Schlaf kam in unsere Augen. Puddingfratzen-Jones war ein säuerlicher, verbitterter Mann trotz all seinem Fett; aber wir segneten das Fett, denn es trug dazu bei, daß er dem Schlaf nicht widerstehen konnte. Nichtsdestoweniger störte unser anhaltendes Klopfen seinen guten Schlaf, so daß er uns wiederholt ausschalt. Und von den andern Nachtwachen bekamen wir ununterbrochen Flüche zu hören. Am Morgen erstatteten sie Rapport über das viele Klopfen, und wir mußten für unser kleines Schwatzfest büßen, denn um neun kam Inspektor Jamie mit mehreren Wärtern, um uns die Zwangsjacke anzulegen. Bis neun Uhr am nächsten Morgen – volle vierundzwanzig Stunden – mußten wir eingeschnürt und hilflos, ohne Essen und Trinken auf dem Fußboden liegend, den Preis für unsere Unterhaltung bezahlen.

Oh, unsere Wärter waren Untiere. Und bei ihrer Behandlung mußten wir notgedrungen selbst zu Untieren werden, um es ertragen zu können. Schwere Arbeit gibt rauhe Hände. Harte Wärter schaffen harte Gefangene. Wir redeten weiter und bekamen weiter gelegentlich die Zwangsjacke als Strafe. Die Nacht war unsere beste Zeit, und wenn hin und wieder Hilfswärter auf Posten waren, schwatzten wir oft die ganze Nacht hindurch.

Sonst waren Tag und Nacht gleich für uns in der Dunkelheit. Wir konnten schlafen, wann wir wollten, aber mittels unserer Knöchel miteinander reden konnten wir nur ganz gelegentlich. Wir erzählten uns unsere Lebensgeschichte, und lange Stunden lagen Morrell und ich schweigend da, während Oppenheimer uns langsam seine Geschichte buchstabierte, uns von seinen frühesten Jahren im Armenviertel San Franziskos, von seinem Training auf der Verbrecherlaufbahn, von seiner Einweihung in alle Laster erzählte, wie er als vierzehnjähriger Bursche sich sein Geld als Botenjunge in einem der verrufensten Stadtteile verdiente, wie er zum erstenmal bei einer Gesetzesübertretung ergriffen wurde – und weiter, immer weiter, durch Diebstahl und Raub bis zum Verrat durch einen Kameraden und zu blutigen Tragödien hinter Gefängnismauern.

Jake Oppenheimer trug den Beinamen: der Menschentiger. Irgendein blöder Reporter hatte diesen Namen erfunden, der länger leben wird als der Mann, an den er sich heftete. Und doch fand ich an Jake Oppenheimer alle Hauptcharakterzüge eines guten Menschen. Er war treu und gerecht. Ich weiß, daß er sich lieber begraben ließ, als daß er einen Kameraden verpfiff. Er war tapfer. Er war geduldig. Er war aufopferungsfähig – darüber könnte ich eine Geschichte erzählen, aber es ist keine Zeit dazu. Und Gerechtigkeit war eine Leidenschaft für ihn. Die Morde, die er hinter den Mauern des Gefängnisses beging, waren gerade durch sein unbeugsames Gerechtigkeitsgefühl verursacht. Und er hatte einen glänzenden Kopf. Ein Leben im Gefängnis, zehn Jahre in der Einzelzelle, hatten seinen Verstand nicht abgestumpft.

Auch Morrell hatte einen ausgezeichneten Verstand. Tatsache ist – und ich, der ich bald sterben soll, habe ein Recht, das zu sagen, ohne der Unbescheidenheit geziehen zu werden – Tatsache ist, daß die drei besten Köpfe in San Quentin, vom Direktor abwärts, die drei waren, welche in den Einzelzellen miteinander verwesten. Und hier, am Ende meiner Tage, muß ich sagen, daß ich zu dem Schluß gekommen bin, daß starke Geister sich nie beugen lassen. Die Dummen, die Ängstlichen, die, welche nicht die Gabe des leidenschaftlichen Gerechtigkeitsgefühls und der furchtlosen Kampflust haben – das sind die Männer, die Mustergefangene werden. Ich danke allen Göttern, daß Jake Oppenheimer, Ed Morrell und ich selbst keine Mustergefangenen waren.

Es ist mehr als der Keim der Wahrheit in irrigen Dingen, in der Definition des Kindes vom Gedächtnis als dem, womit man vergißt. Die Fähigkeit, vergessen zu können, bedeutet Gesundheit. Sich unaufhörlich zu erinnern, erinnert zu werden, führt zu fixen Ideen, zum Wahnsinn. Die Aufgabe, die ich mir in der einsamen Zelle stellte, wo Erinnerungen sich unaufhörlich aufdrängten, um sich meiner zu bemächtigen, war deshalb, auch, die Gabe des Vergessens zu gewinnen. Wenn ich mit Fliegen spielte oder mit mir selber Schach spielte oder mich mit den andern mit Hilfe meiner Knöchel unterhielt, so glückte es mir – teilweise – zu vergessen. Aber was ich wünschte, war, ganz vergessen zu können.

Da waren Kindheitserinnerungen aus andern Zeiten und andern Orten – »ziehende Wolken früherer Herrlichkeit«, wie Wordsworth sagt. Ob die wohl, wenn ein Knabe sie gehabt hatte, hoffnungslos vergessen und verloren waren, wenn er zum Manne herangewachsen war? Konnte dieser spezielle Inhalt seines Knabenhirns wohl vollkommen ausgerottet werden? Oder vegetierten diese Erinnerungen an andere Zeiten anderswo, aber verborgen, schlummernd, eingemauert in einem einsamen Gefängnis, in tiefen und entlegenen Hirnzellen, so wie ich in der Zelle in San Quentin lag?

Aber man kennt ja Beispiele, daß Gefangene, die zur Einzelhaft auf Lebenszeit verurteilt waren, aus dem Dunkel auferstanden und die Sonne wiedersahen. Warum sollten dann nicht auch diese Erinnerungen eines Knaben an andere Welten auferstehen können?

Aber wie? Meiner Meinung nach dadurch, daß man völliges Vergessen der Gegenwart und des vergangenen Mannesalters erlangte.

Und wiederum: wie? Hypnotismus! Wenn das Bewußtsein mit Hilfe von Hypnose eingeschläfert und das Unterbewußtsein zum Leben erweckt wurde, dann war es vollbracht, dann mußten alle Gefängnistore des Gehirns weit aufgerissen werden, so daß die Gefangenen von drinnen ans Licht der Sonne traten.

So überlegte ich – und Sie werden sehen, mit welchem Erfolg. Zuerst aber muß ich erzählen, wie ich als Knabe diese Erinnerungen an andere Welten gehabt habe. Wie jeder andere Knabe hatte ich in den Wolken der früheren Herrlichkeit gelebt, hatte Besuch von Gespenstervisionen aus anderen Zeiten, da ich selbst ein anderer gewesen, gehabt. Das war in der Zeit geschehen, als mein Wesen im Werden begriffen war, ehe der Strom all dessen, was ich je gewesen, in der Gußform der einen Persönlichkeit erstarrt war, die die Menschen einige wenige Jahre lang als Darrell Standing kannten.

Laßt mich nur ein Vorkommnis erzählen. Es war auf dem alten Hof in Minnesota. Ich war etwa sechs Jahre alt. Ein Chinesenmissionar, der zurückgekehrt war und jetzt Missionsbeiträge bei den Farmern sammeln sollte, verbrachte die Nacht in unserm Hause. Was ich hier erzähle, geschah in der Küche, wo der Missionar uns Photographien vom Heiligen Lande zeigte, während meine Mutter mich auszog.

Und das, was ich jetzt erzählen will, würde ich sicher längst vergessen haben, hätte ich nicht oft in meiner Kindheit meinen Vater es verwunderten Zuhörern erzählen hören.

Als ich eines der Bilder erblickte, wurde ich zuerst ganz eifrig und dann enttäuscht. Im ersten Augenblick war es mir so bekannt vorgekommen, ebenso bekannt, wie eine Photographie aus Vaters Schublade mir gewesen wäre. Und dann erschien es mir ganz fremd. Als ich es weiter ansah, kam wieder dies nicht abzuschüttelnde Gefühl, daß ich es kennen müßte.

»Der Turm Davids«, sagte der Missionar zu meiner Mutter.

»Nein, das ist er nicht!« rief ich sehr bestimmt.

»Meinst du, daß er nicht so heißt?« fragte der Missionar.

Ich nickte nur.

»Wie heißt er denn, mein Junge?«

Er heißt ...«, begann ich, fuhr dann aber etwas verlegen fort: »Ich habe es vergessen.«

Nach kurzem Schweigen begann ich wieder: »Er sieht jetzt nicht so aus ... man hat ihn wohl verändert.«

Der Missionar reichte meiner Mutter eine andere Photographie, die er herausgesucht hatte.

»Dort war ich selbst vor einem halben Jahr, Frau Standing.« Er zeigte darauf. »Das ist das Jaffa-Tor, und dort rechts im Hintergrund liegt der Turm Davids. Die Autoritäten sind ihrer Sache sicher. El Kul'ah, wie er genannt wird ...«

Hier unterbrach ich ihn und wies auf einige Mauerreste links.

»Ja, ungefähr dort«, sagte ich. »Den Namen, den Sie eben nannten, gebrauchten die Juden. Aber wir nannten ihn etwas anders. Ich weiß nicht mehr, wie wir ihn nannten.«

»Hört nur«, lachte mein Vater, »man sollte glauben, er wäre dort gewesen.«

Ich nickte, denn in diesem Augenblick wußte ich, daß ich dort gewesen war, obwohl alles so anders aussah. Mein Vater lachte laut, aber der Missionar glaubte, daß ich mich über ihn lustig machte. Er reichte mir ein anderes Bild. Es war eine öde Landschaft, ohne Bäume und Pflanzenwuchs, eine kahle Schlucht mit schwach geneigten steilen Wänden. In der Mitte sah man einen Haufen elender Hütten mit flachen Dächern.

»Nun – was stellt das vor, mein Junge?« fragte der Missionar, um mich zu necken.

»Samaria«, sagte ich sofort.

Mein Vater klatschte in die Hände, meine Mutter war verblüfft, während der Missionar eher irritiert zu sein schien.

»Er hat recht«, sagte er. »Es ist ein Dorf in Samaria. Ich bin selbst dort gewesen; deshalb kaufte ich das Bild. Und das beweist, daß der Junge ähnliche Bilder früher schon gesehen haben muß.« Das leugneten meine Eltern beide.

»Aber etwas an dem Bild ist anders«, bemerkte ich. Die ganze Zeit hatte sich mein Gehirn damit beschäftigt, die Photographie zu rekonstruieren. Die allgemeinen Linien der Landschaft waren dieselben. Auf die Abweichungen wies ich bin.

»Es waren viel mehr Bäume und Gras und viele Ziegen. Ich kann sie jetzt sehen – da sind zwei Knaben, die mit ihnen gehen. Und dort ist eine Schar Männer, die hinter einem einzelnen Manne hergehen. Und dort« – ich zeigte auf die Stelle, wo meiner Meinung nach das Dorf stand –, »dort sind einige Landstreicher – nur in Lumpen gekleidet. Und sie sind krank – oh – ihre Gesichter, ihre Beine und Hände bilden eine einzige Wunde.«

»Er hat die Geschichte in der Kirche oder anderswo gehört. Sie erinnern sich wohl der Heilung der Aussätzigen in Luke«, sagte der Missionar mit einem zufriedenen Lächeln.

»Wieviel Landstreicher sind da, mein Junge?«

Ich hatte, als ich fünf Jahre alt war, gelernt, bis hundert zu zählen. Ich sah die Gruppe genauer an und antwortete dann:

»Es sind zehn. Sie schwenken die Arme und rufen den andern Männern etwas zu.«

»Aber sie kommen nicht zu ihnen?« fragte er.

»Nein, sie stehen nur da und rufen, als wären sie in Not.«

»Weiter!« sagte der Missionar. »Was dann? Was tut der Mann, der vor den andern geht?«

»Er spricht zu den Kranken. Und die Knaben mit den Ziegen stehen auch still. Sie sehen alle den Mann an.«

»Und dann?«

»Weiter ist nichts mehr. Die Kranken kehren in ihre Häuser zurück. Sie rufen nicht mehr, und sie sehen nicht mehr krank aus. Und ich sitze auf meinem Pferd und sehe zu.«

Darüber mußten meine drei Zuhörer alle lachen.

»Aber ich bin ein großer Mann«, rief ich zornig, »und ich habe einen großen Säbel.«

»Es sind die zehn Aussätzigen, die Jesus heilte, ehe er durch Jericho nach Jerusalem zog«, erklärte der Missionar meinen Eltern. »Der Junge hat offenbar Reproduktionen berühmter Bilder in irgendeiner Laterna magica gesehen.«

Aber weder mein Vater noch meine Mutter konnten sich erinnern, daß ich je eine Laterna magica gesehen hatte.

»Wir wollen es mit einem andern Bild versuchen«, sagte mein Vater.

»Ach – das ist alles ganz anders«, sagte ich, als ich das Bild untersucht hatte, das der Missionar mir reichte. »Da ist ja nur die Anhöhe hier und die andern Anhöhen. Hier irgendwo müßte eine Landstraße sein. Und dort sollten Gärten und Bäume und Häuser mit großen steinernen Mauern sein. Und dort hinten sollten einige Höhlen in den Felsen sein, wo man Tote begrub. Und seht dort! Dort pflegten sie die Leute mit Steinen zu werfen, bis sie tot waren. Ich habe es nie selber gesehen, aber sie erzählten es mir.«

»Und die Anhöhe dort?« fragte der Missionar und zeigte auf den Hügel in der Mitte des Bildes, um dessentwillen die Photographie aufgenommen zu sein schien. »Wie heißt diese Anhöhe wohl?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Die hat keinen Namen. Dort schlugen sie Leute tot. Ich habe es mehr als einmal gesehen.«

»Diesmal ist er mit dem größten Teil der Autoritäten einig«, meinte der Missionar. »Die Anhöhe ist Golgatha, die Schädelstätte, wie sie genannt wird, weil ihre Form der einer Hirnschale gleicht. Dort war es, wo sie kreuzigten –«, er wandte sich zu mir. »Ja, wen kreuzigten sie dort? Erzähle mir, was du weiter siehst.«

Ach, ich sah ... Mein Vater hat erzählt, daß mir die Augen starr im Kopfe lagen. Aber ich schüttelte trotzig den Kopf und sagte:

»Das sage ich Ihnen nicht, denn Sie lachen mich ja doch nur aus. Ich habe gesehen, wie viele Leute totgeschlagen wurden. Sie nagelten sie fest, aber es dauerte lange. Ich habe gesehen ... aber ich erzähle es nicht! Ich lüge nicht. Fragen Sie nur Vater und Mutter, ob ich je lüge. Ich will mich selbst verprügeln, wenn ich lüge. Fragen Sie sie nur.«

Und der Missionar bekam kein Wort mehr aus mir heraus, obwohl er mich mit mehreren Photographien in Versuchung führte, die eine Menge Erinnerungsbilder vor meinem inneren Auge aufsteigen ließen und mir eine Flut von Worten auf die Zunge legten, aber ich war ärgerlich und zwang sie zurück.

»Er wird sicher ein guter Bibelkenner werden«, sagte der Missionar hinterher, als ich Vater und Mutter den Gutenachtkuß gegeben und zu Bett gegangen war. »Oder er muß mit seiner Phantasie ein berühmter Schriftsteller werden können.«

Was den Wert von Prophezeiungen beweist. Hier sitze ich nun in einer Zelle am Mördergang und schreibe diese Zeilen in meinen letzten Lebenstagen – oder vielmehr in den letzten Tagen Darrell Standings, ehe sie ihn herausholen und am Ende eines Stricks in die Finsternis schleudern –, und ich lächle bei mir. Ich wurde weder Bibelkenner noch Schriftsteller. Im Gegenteil – ehe sie mich fünf lange Jahre lang lebendig hier begruben, war ich alles mögliche, nur nicht das, was der Missionar voraussagte –, landwirtschaftlicher Sachverständiger, Professor, Spezialist in der Wissenschaft, den Mißbrauch von Arbeitskraft zu verhindern, Meister in der Ausnutzung des Bodens, ein Forscher, dem Genauigkeit und Akkuratesse bei der Wiedergabe mikroskopischer Untersuchungen eine unumgängliche Notwendigkeit waren.

Und jetzt lasse ich an dem schwülen Nachmittag die Feder ruhen, um auf das beruhigende Summen der Fliegen in der stillen Luft und auf die halb geflüsterte Unterhaltung zwischen Josephus Jackson, dem schwarzen Mörder rechts von mir, und Bambeccio, dem italienischen Mörder in der Zelle links von mir, zu lauschen; sie streiten durch die Gittertür, an meiner Gittertür vorbei, ob Kautabak wirklich heilenden Einfluß auf Fleischwunden habe.

In der Hand halte ich meinen Füllfederhalter, und während ich mich erinnere, daß meine Hand in den entschwundenen fernen Zeiten den Tuschpinsel, die Gänsefeder und den Griffel geführt hat, habe ich auch Gelegenheit, darüber nachzudenken, ob jener Missionar je als Knabe den leuchtenden Schimmer vergangener Sternwanderungszeiten gesehen hat.

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