Kitabı oku: «Der Kandidat», sayfa 3
KAPITEL SECHS
17:48 Uhr Eastern Standard Time
34. Stock
Das Willard Intercontinental Hotel, Washington, D.C.
„Sind wir kein Rechtsstaat?“, schrie der Mann in den Telefonhörer.
Seine Füße lagen auf dem großen polierten Eichenschreibtisch und er blickte durch die deckenhohen Fenster seines Büros auf die Lichter des Kapitols. Draußen war es bereits dunkel – zu dieser Jahreszeit ging die Sonne früh unter.
„Das möchte ich mal gerne wissen. Denn wenn wir doch ein Rechtsstaat sind, hat diese Frau, diese Besetzerin im Weißen Haus, schleunigst ihre Koffer zu packen. Sie hat verloren und Jefferson Monroe hat gewonnen. Jefferson Monroe ist der gewählte Präsidentschaftskandidat der Vereinigten Staaten. Und wenn sie bis zum Tag der Amtsübergabe nicht draußen ist, werden wir sie einfach rausschmeißen, wie ein Gerichtsvollzieher einen Mietnomaden rausschmeißt.“
Der Mann schwieg ein paar Sekunden und hörte dem Reporter am anderen Ende der Leitung zu.
„Natürlich können Sie mich zitieren. Drucken Sie jedes Wort von dem, was ich gesagt habe.“
Er beendete das Gespräch und legte den Hörer zurück auf den Schreibtisch. Er warf einen Blick auf seine Uhr und seufzte. Seit fast einer Stunde hatte er mit verschiedenen Reportern gesprochen, seit Susan Hopkins von der Bühne und aus dem Raum verschwunden war, in dem sie ihre lächerliche Pressekonferenz abgehalten hatte.
Sein Name war Gerry O’Brien. Mit seinen 50 Jahren war er sehr groß und so dünn wie ein Stock. Sein Haar lichtete sich und sein Gesicht war scharfkantig. Er wog immer noch genau so viel wie an dem Tag, an dem er die Universität abgeschlossen hatte. Er lief Marathons, war ein Triathlet und hatte in den letzten Jahren an Mud und Survival Runs teilgenommen. Alles, was hart war, was einen so richtig forderte, Extremsport, bei dem Teilnehmer bewusstlos am Wegesrand zurückblieben, sich die Eingeweide auskotzten, oder den Hügel herunterfielen und sich ihre Knie aufschlugen – das war genau das Richtige für ihn.
Als Sohn irischer Einwanderer war er auf den Straßen von Woodside, Queens groß geworden. Sein Vater war Gefängniswärter, seine Mutter Haushaltshilfe. Harte Menschen, die ihn dazu erzogen hatten ebenso hart zu sein. Wenn man in Woodside überleben wollte, musste man kämpfen. Das hatte ihm noch nie etwas ausgemacht. Er legte sich mit jedem an. Er war so kämpferisch, so erbarmungslos, dass die Kinder in seiner Nachbarschaft angefangen hatten, ihn den Hai zu nennen.
Er war der erste aus seiner Familie, der studiert hatte und anschließend – unerforschtes Gebiet – war er an die juristische Fakultät gegangen. Er hatte seine erste Million verdient, bevor er dreißig geworden war, indem er sich auf Körperverletzungen spezialisiert hatte. Er hatte ein Foto von sich machen lassen, auf dem er wütend aussah (und kaum jemand konnte so wütend aussehen wie er) und für ein paar kleine Werbeanzeigen bezahlt, die in der U-Bahn aufgehängt wurden.
Unfallverletzung? Sie brauchen jemanden, der für Ihre Rechte eintritt. Einen echten Anwalt. Einen echten New Yorker. Sie brauchen Gerry O’Brien. Sie brauchen den Hai.
Fast sofort wurde er als Gerry der Hai bekannt. Jeder, der in den fünf Bezirken New Yorks schon mal U-Bahn gefahren war, kannte seinen Namen. Manchmal setzte er sich selbst in die U-Bahn, nur um seine eigene Werbung ansehen zu können – und er hasste die U-Bahn.
Je mehr er verdiente, desto mehr Werbungen konnte er sich leisten. Und je mehr Werbungen er in Auftrag gab, desto mehr verdiente er. Schon bald schaltete er Anzeigen im Late-Night Fernsehen, später sogar im Tagesprogramm. Es war ein einziger Jackpot. Erst arbeiteten drei Anwälte für ihn, dann fünf, dann zehn. Dann 20. Als er vor zehn Jahren seine Kanzlei verkauft hatte, hatte er 33 Anwälte und mehr als 100 Hilfskräfte gehabt.
Ein paar Jahre lang hatte er sich zur Ruhe gesetzt. War umhergewandert. Hatte die Welt erkundet. Hatte zu viele Drogen eingenommen. Hatte zu viel getrunken. Sich in die Rechtsaußenpolitik zu verirren hatte vermutlich sein Leben gerettet. All seine schlechten Angewohnheiten hatte er gegen Selbstdisziplin und eine Zukunftsvision für Amerika eingetauscht, die er mit seinen Gleichgesinnten teilte – eine Rückkehr zu einer früheren, einfacheren Zeit.
Zu einer Zeit, in der die Überlegenheit der Weißen Rasse noch nicht in Frage gestellt wurde. Zu einer Zeit, in der die Ehe zwischen Mann und Frau noch heilig gewesen war. Zu einer Zeit, in der ein junger Mann aus der Schule kam und in eine Fabrik gehen konnte, um dort den Rest seines Lebens zu arbeiten und genug Geld zu verdienen, um sich und seine Familie unterstützen zu können.
Natürlich war es nicht immer so einfach. Es gab Dinge, die dazugehörten, für die man nicht zimperlich sein durfte. Dinge, die die breite Öffentlichkeit niemals einsehen würde. Er hatte große Pläne. Sie würden dieses Land bereinigen, ein für alle Mal. Aber das war nichts, was man groß herausposaunen sollte. Jedenfalls noch nicht.
Gerry der Hai stand von seinem Schreibtisch auf und ging an seinen Büros vorbei. Ein paar Sekretärinnen waren noch hier, doch die meisten Angestellten arbeiteten von anderen Orten aus. Gerry war nicht nur hier, weil er der leitende Stratege hier war, sondern auch, weil er seinen Chef nur ungern aus den Augen ließ.
Sie waren heute Nachmittag aus Louisville hergeflogen. Seinem Boss gehörte diese… was war die richtige Bezeichnung? Wohnung? Wenn man etwas mit zehn Schlafzimmern, zwölf Badezimmern, einem halben Dutzend Büros, einem Konferenzraum und einer kleinen Kantine noch Wohnung nennen konnte. Sie nahm das gesamte Stockwerk eines der bekanntesten und teuersten Hotels auf der ganzen Welt ein. In diesem Hotel wurde amerikanische Geschichte geschrieben. Hier hatte John F. Kennedy zahlreiche Schäferstündchen verbracht.
Hier würden sie die Nacht verbringen. Am nächsten Tag hatten sie früh morgens wichtige Geschäfte in D.C. zu erledigen.
Gerry rauschte durch die Gänge, klatschte seine Schlüsselkarte gegen einen Sensor und betrat die Wohnräume. Der vordere Bereich war üppig ausgestattet und wirkte wie ein Gemälde in einem Haus aus der viktorianischen Zeit.
Ein Mann mit weißem Haar stand vor einem riesigen Fenster, dessen Vorhänge offenstanden. Er starrte in die Nacht hinaus. Der Mann trug einen dreiteiligen Anzug, obwohl er zu Hause war und keine Absichten hatte, heute noch auszugehen. Die Hemden mit offenstehendem Kragen waren natürlich nur Show. Er mochte wie jeder andere auch, sich herauszuputzen.
Er hatte einen Martini in der Hand. Das Martiniglas sah im Vergleich winzig aus. Trotz des protzigen Anzugs und seines offensichtlichen Reichtums hatte er die rauen Hände von jemandem, der damit aufgewachsen war, sich mit harter Arbeit Geld zu verdienen. Die Hände schrien geradezu: Was stimmt an diesem Bild nicht?
Es war eine unangenehme Nacht in der Hauptstadt und der Wind heulte draußen. Der alte Mann blickte über die Stadtlandschaft und ihre Lichter. Gerry wusste, dass der Dorfjunge in ihm selbst nach all den Jahrzehnten immer noch von den glänzenden Lichtern der Stadt bezaubert wurde.
„Wie läuft der Krieg?“, fragte Jefferson Monroe, gewählter Präsidentschaftskandidat der Vereinigten Staaten mit einer sanften Satzmelodie, die auf seine Herkunft aus dem Süden schließen ließ.
„Wunderschön“, sagte Gerry ernst. „Sie sitzt in der Ecke fest und weiß nicht, was sie machen soll. Ihre Erklärung heute hat das offenbart. Sie will ihr Amt nicht abtreten? Das kommt uns nur zugute. Sie schottet sich ab – die Öffentlichkeit wird auf unserer Seite sein. Wenn wir alles richtig machen, können wir sie sogar früher als geplant da rausholen. Ich denke, wir sollten den Druck erhöhen – sie dazu bringen, das Amt bereits früher abzutreten, lange bevor sie die Wahlbetrugsuntersuchungen abschließen können. Dann können wir sie einfach selbst einstellen.“
Der alte Mann drehte sich um. „Gibt es einen Präzedenzfall für einen Präsidenten, der sein Amt schon einmal verfrüht abgetreten hätte?“
Gerry der Hai schüttelte seinen Kopf. „Nein.“
„Wie sollen wir das dann schaffen?“
Jetzt lächelte Gerry. „Ich hätte da ein paar Ideen.“
KAPITEL SIEBEN
18:47 Uhr Eastern Standard Time
Das Oval Office
Das Weiße Haus, Washington, D.C.
Sie war allein, als Luke ins Büro gebeten wurde.
Einen Moment lang dachte er, sie würde schlafen. Sie saß in einem Sessel in der Mitte des Raums. Sie sah aus wie ein kaputter Crashtest-Dummy oder ein Schulkind, das seinen Unmut ausdrückt, indem es sich so lässig wie möglich hinsetzt.
Das neue Resolute Desk stand hinter hier. Die schweren Vorhänge waren zugezogen. Auf dem Boden, rund um die Umrisse des ovalen Teppichs befand sich eine Inschrift:
Das Einzige, was wir zu fürchten haben, ist die Furcht selbst – Franklin Delano Roosevelt
Die Worte liefen rund um den Teppich und hörten genau da auf, wo sie auch begonnen.
Sie trug eine blaue Hose und eine weiße Bluse. Ihr Blazer hing auf einem der Stühle, die am Schreibtisch standen. Ihre Schuhe lagen wie unachtsam weggeworfen auf dem Teppich.
Trotz ihrer Haltung waren ihre Augen wachsam. Sie beobachtete ihn.
„Hi, Susan“, sagte er.
„Hast du meine Pressekonferenz gesehen?“, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. „Ich schaue schon seit einem Jahr kein Fernsehen mehr. Seitdem fühle ich mich viel besser. Du solltest es auch mal ausprobieren.“
„Ich habe dem amerikanischen Volk gesagt, dass ich mein Amt nicht abgeben werde.“
Luke lachte fast. „Ich wette, das ist gut gelaufen. Was ist passiert? Hast du so sehr gefallen an deinem Job gefunden, dass du nicht mehr aufhören willst? Ich bin mir ziemlich sicher, dass das Ganze so nicht funktioniert.“
Ein zurückhaltendes Lächeln umspielte ihre Lippen. Dieses Lächeln, auch wenn es kaum zu sehen war, erinnerte ihn daran, warum sie einst ein Supermodel gewesen war. Sie war wunderschön. Ihr Lächeln brachte jeden Raum zum Leuchten. Es konnte sogar den Nachthimmel erhellen.
„Sie haben die Wahl gestohlen.“
„Natürlich haben sie das“, sagte er. „Und du wirst sie jetzt zurückstehlen. Klingt wie ein guter Plan.“ Er schwieg für einen Moment. Dann sagte er ihr, was er wirklich dachte. „Hör zu, ich glaube, du bist ohne diesen Job besser dran. Sie werden keine Susan Hopkins mehr haben, die sie herumschubsen können. Lass sie doch sehen, wie schlimm die Dinge laufen, wenn du nicht da bist. Sie werden dich darum anbetteln, zurückzukommen.“
Sie schüttelte ihren Kopf und lächelte jetzt noch mehr. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass das Ganze so nicht funktioniert.“
„Ich auch nicht“, sagte er.
Sie schüttelte ihren Kopf. Ein langes Seufzen entfleuchte ihr.
„Wo warst du, Luke Stone? Du hättest hierbleiben sollen. Wir haben ganz schön viel Spaß gehabt, sobald das Chaos sich ein wenig beruhigt hatte. Wir haben viel Gutes erreicht. Und du wolltest mir zeigen, wie man schießt. Schon vergessen?“
Er zuckte mit den Schultern. „Stimmt. Du wolltest den Vorsitzenden des Vereinigten Generalstabs erschießen. Ich erinnere mich. Aber ich habe selbst seit neun Monaten keine Waffe in der Hand gehabt. Ich wollte eigentlich ab und zu auf den Schießstand gehen, um nicht völlig einzurosten. Aber dann dachte ich mir, wozu? Ich will niemanden mehr erschießen. Und selbst, wenn ich eines Tages muss, bin ich mir ziemlich sicher, dass ich schon nichts verlernt haben werde.“
„Wie Fahrradfahren?“, sagte sie.
Er lächelte. „Oder wie von einem herunterfallen.“
Sie setzte sich auf und zeigte auf den Stuhl vor ihr. „Du weißt wirklich nicht, was vor sich geht?“
Luke setzte sich hin. Der Stuhl war aufrecht, weder gemütlich noch unangenehm. „Ich habe ein paar Gerüchte gehört. Der Neue ist Rechtsaußen. Er mag die Chinesen nicht. Er will die Fabrikarbeiter unterstützen. Nicht sicher, wie er das anstellen will – will er all die Roboter auf den Müll schmeißen? Wie dem auch sei, wenn es das ist, was die Leute wollen…“
„Unwissenheit ist ein Glück, schätze ich“, sagte Susan.
„Das Ganze wirkt nicht gerade glücklich auf mich, aber –“
„Er ist ein Faschist“, sagte sie. „Er ist ein Milliardär, ein Räuberbaron, der schon seit Jahrzehnten Gruppen für die Weiße Vorherrschaft unterstützt, scheinbar schon seitdem er im Senat sitzt. Er will an seinem ersten Amtstag einen Krieg mit China anzetteln, möglicherweise mit taktischen Nuklearschlägen, auch wenn ich mir nicht sicher bin, wie viele dem wirklich Glauben schenken. Er will Sicherheitszäune und Mauern um Chinatowns in verschiedenen Städten errichten. Seine Reden sind voll mit Hass für Minderheiten, Homosexuelle, Menschen mit Behinderungen, für jeden, der nicht seiner Meinung ist. Außerdem hat er sich deutlich gegen die Unabhängigkeit der Judikative ausgesprochen.“
Luke war sich nicht sicher, was er davon halten sollte. Er hatte das politische Geschehen schon seit langem nicht mehr verfolgt. Er vertraute Susan und er sah, dass sie daran glaubte, was sie ihm erzählte. Aber er hatte auch Schwierigkeiten, selbst daran zu glauben. Als er Teil des Militärs gewesen war, hatte er unter konservativen Präsidenten gedient, als Mitglied des Special Response Teams unter liberalen Präsidenten. Natürlich unterschieden sie sich voneinander, aber so sehr? Weiße Vorherrschaft, Sicherheitszäune um Enklaven, in denen Minderheiten lebten? Nein. Das war nicht möglich. Egal, wer an der Macht war, es gab immer noch etwas, was man den American Way of Life nannte.
„Und du willst mir sagen, dass Leute für ihn gewählt haben?“
Sie schüttelte den Kopf, ebenso ungläubig wie er. „Wir glauben, dass es Wahlbetrug in unerhörtem Ausmaß gab, Unterdrückung von Stimmen in mindestens fünf Staaten. Deswegen habe ich gesagt, dass sie die Wahl gestohlen haben.“
Luke fing an, das große ganze Puzzle zu sehen, aber einige Stücke fehlten ihm noch. „Willst du, dass ich das untersuche?“, fragte er. „Hast du mich deswegen hierherbestellt? Mir scheint, als gäbe es da hunderte andere –“
„Nein“, sagte sie. „Du hast recht. Es gibt tatsächlich hunderte andere Leute, die das tun können. Unsere Analysten schauen sich die Wahlmaschinen bereits an. Wir haben Ermittler, die Untersuchungen über Wahlunterdrückung anstellen, insbesondere in schwarzen Bezirken in den Vororten im Süden. Und die Indizien sind schon jetzt ziemlich eindeutig. Für die Untersuchung brauchen wir dich wirklich nicht.“
Ihre Antwort verwirrte ihn, verärgerte ihn sogar ein wenig. Er war alleine gewesen, hoch in den Bergen und hatte sich um seine eigenen Probleme gekümmert. Er hatte sich selbst herausgefordert. Er hatte Gott herausgefordert, ihn umzubringen. Vielleicht, um der Erleuchtung ein wenig näher zu kommen.
Doch jetzt war er zurück in Washington, D.C. und wurde von seinem Sohn angeschrien und von seiner ehemaligen Schwiegermutter belächelt. Er hatte sich durch den Feierabendverkehr geschlängelt und sich Sicherheitschecks unterzogen. Er hatte seinen Bart abrasiert und seine Haare geschnitten. Er war wieder unter normalen Menschen und ihren Problemen und Sorgen. Als er noch Soldat gewesen war, hatten sie es „zurück in der echten Welt“ genannt – ein Ort, an dem er eigentlich gar nicht sein wollte.
„Was tue ich dann hier?“, fragte er.
„Da bin ich mir auch noch nicht ganz sicher“, sagte sie. „Aber ich weiß, dass ich dich brauche. Indem ich mich geweigert habe, mein Amt abzutreten, habe ich etwas getan, was noch nie vorher jemand getan hat. Das ist das erste Mal in der Geschichte Amerikas. Die Dinge könnten hier sehr schnell den Bach runtergehen und ich habe nicht viele Leute in meiner Verwaltung, denen ich traue. Ich meine uneingeschränkt, zu hundert Prozent, ohne Zweifel. Ein paar, ja, aber nicht viele.“
Sie zeigte auf ihn. „Und dich. Als ich frisch im Amt war, hast du das Land wieder und wieder vor dem Untergang bewahrt. Du hast mein Leben gerettet. Und meine Tochter. Vielleicht hast du sogar die Welt vor einem Atomkrieg gerettet. Und dann bist du verschwunden, als es gerade gut wurde. Ich habe noch nie jemanden wie dich getroffen, Luke. Du bist für schlechtes Wetter gebaut, um es milde auszudrücken. Und für mich fühlt es sich so an, als wenn gerade ein Sturm aufzieht.“
Für schlechtes Wetter gebaut.
So hatte es noch nie jemand ausgedrückt. Aber natürlich hatte sie recht – sie wusste, wie er tickte, vielleicht besser als Becca es je gewusst hatte. Besser vielleicht, als er sich selbst kannte. Er war nicht nur für schlechtes Wetter gebaut, er lebte dafür. Wenn die sprichwörtliche Sonne schien, langweilte er sich schnell. Er ging davon. Und suchte nach dem nächsten Hurricane, in den er sich verirren konnte.
„Also, was soll ich tun?“
„Bleib nah bei mir. Wohn für eine Weile in der Residenz des Weißen Hauses. Wir können uns einen offiziellen Titel für dich ausdenken – persönlicher Bodyguard. Informationsstratege. Das klingt vielleicht ein bisschen komisch, aber egal. Chuck Berg ist immer noch Leiter für den Personenschutz beim Geheimdienst. Er kennt und respektiert dich. Es gibt hier genug Räume, in denen man unterkommen kann. Du kannst sogar ins Lincoln-Schlafzimmer, wenn du willst. Da haben wir schon einige Prominente untergebracht. Der Sänger der Rockband Zero Hour und seine Frau haben erst vor einigen Wochen darin übernachtet. Nette Leute – ganz anders als auf der Bühne. Er hat einige Spendenprojekte in Afrika organisiert, hat für Wasserfiltersysteme bezahlt und so weiter.“
Sie holte kurz Luft, bevor sie weitererzählte. „Offensichtlich weißt du, dass das Weiße Haus vor zwei Jahren komplett neu gebaut wurde, also hat Lincoln selbst natürlich nie wirklich im neuen Lincoln-Schlafzimmer geschlafen, aber…“
Es schien Luke, als würde sie jetzt nur noch schwafeln. Sie war wie ein kleines Mädchen, das versucht, einem Erwachsenen etwas zu erklären, ohne jemals zu erwähnen, was sie überhaupt meinte.
„Du willst ein Schmusetuch“, sagte er. „Deswegen bin ich hier.“
Sie nickte. „Ja. Als Kind hatte ich eins. Es war weich und hatte einen süßen Dinosaurier aufgestickt. Später irgendwann war es nur noch ein großer grüner Fleck. Ich habe es Decki genannt. Oh Mann, ich vermisse dieses Teil.“
Jetzt lachte Luke laut auf. Es klang wie ein plötzliches Hundebellen. Es fühlte sich gut an, zu lachen. Er konnte sich nicht erinnern, wann das das letzte Mal passiert war.
„Decki, wie?“
„Genau. Decki.“
Gab es da noch mehr, um das sie ihn beten wollte? Er wusste es nicht genau. Zum Teufel, die Residenz des Weißen Hauses? Das war ein eindeutiges Upgrade im Vergleich zum Zimmer im Marriott, das sie ihm letzte Nacht zur Verfügung gestellt hatten.
„Okay“, sagte er. „Ich bin dabei.“
KAPITEL ACHT
20:26 Uhr Eastern Standard Time
Südlich von Canal Street
Chinatown, New York City
„Okay“, bellte Kyle Meiner. „Es geht gleich los. Also hört zu!“
Kyle hockte im hinteren Teil eines großen schwarzen Bullis, während er über die Schlaglöcher und Risse der Straßen raste. Er sah seine Männer an – acht große Jungs auf einem Haufen. Jeder von ihnen war muskelbepackt und man sah ihnen ihre regelmäßigen Fitnessstudio-Besuche an. Hier gab es niemanden, der nicht mindestens 100 Kilo stemmen oder 140 Kilo Squats durchführen konnte. Allesamt nahmen garantiert zumindest Kreatin, manche von ihnen vermutlich auch Steroide, menschliche Wachstumshormone, oder sogar Exotischeres – mit ihnen war nicht zu spaßen. Keiner von ihnen hatte Haare auf dem Kopf, die länger als ein paar Millimeter waren, einige waren total glattgeschoren.
Kyles Körper bildete keine Ausnahme, ganz im Gegenteil – er war der Größte von ihnen. Seine Arme waren wie Würgeschlangen, seine Beine wie Baumstümpfe. Venen zogen sich über seinen Bizeps, seinen Hals, seine Stirn, seine Brust, einfach überall. Kyle liebte seine Venen.
Sie bedeuteten, dass sein Blut vernünftig gepumpt wurde. Venen bedeuteten Kraft.
Hinter ihnen fuhren fünf weitere Bullis in einem Konvoi, was bedeutete, dass sich mindestens 40 – 50 steinharte Aktivisten auf den Straßen befanden. Enge, langärmlige T-Shirts klebten an muskulösen Brüsten und Oberkörpern – jedes einzelne schwarz mit den Worten GATHERING STORM in weiß bedruckt. Die Buchstaben erinnerten an menschliche Knochen und Spritzer, die nach Blut aussahen, befanden sich unter ihnen.
Harte Augen starrten zu Kyle zurück. Diese Männer stellten ihre Speerspitze dar.
„Ich will da draußen keine Waffen von euch sehen“, sagte Kyle. „Keine Messer, keine Schlagstöcke, Gott bewahre, wenn ich jemanden mit einer Pistole sehe. Schlagringe. Wenn ihr irgendwas dabeihabt, lasst es im Wagen. Verstanden?“
Ein paar der Männer murmelten missmutig.
„Wie bitte? Ich kann euch nicht verstehen.“
Die Stimmen wurden dieses Mal lauter.
„Das ist eine Kundgebung und ein Marsch, Jungs. Keine Straßenschlacht. Wenn die Schlitzaugen einen Kampf anzetteln, okay. Verteidigt euch und einander. Schmeißt die kleinen Kommunisten durch die Mauern, mir egal. Es sollte euch nur klar sein, dass wenn die Bullen Waffen bei euch finden, ihr garantiert verhaftet werdet. Wir haben unsere besten Anwälte auf Kurzwahl, aber wenn sie euch wegen Waffenbesitz mitnehmen, kommt ihr heute Nacht nicht mehr raus, vielleicht auch länger nicht. Ich muss mich auf euch verlassen können. Ich will nicht, dass auch nur einer von euch verhaftet wird. Das ist schlecht für euch und es schlägt sich negativ auf die Organisation nieder. Verstanden? Na los!“
„Verstanden!“, rief jemand.
„Jo!“
„Alles klar, Mann.“
Kyle lächelte. „Gut. Dann lasst uns ihnen jetzt in den Arsch treten.“
Die Schilder waren im hinteren Teil des Wagens aufeinandergestapelt. Auf den meisten stand Amerika gehört uns! Auf einem stand Schlitzaugen raus! Das war Kyles Schild. Wenn seine Männer die Speerspitze waren, war er das Gift, das auf jedem von ihnen aufgetragen wurde.
Er war 29 und seit über zwei Jahren bei Gathering Storm dabei. Es war sein Traumjob. Wo fand er seine Rekruten? Fast ausschließlich im Fitnessstudio. Gold’s Gym. Planet Fitness. YMCA. Orte, an denen große starke Jungs abhingen, Jungs, die die Schnauze voll hatten. Genug mit der Zensur. Genug mit der Gedankenpolizei. Genug davon, dass alle guten Jobs an Ausländer gingen. Genug mit der Rassenmischung.
Genug davon, dass ihnen die Religion des Multikulturalismus aufgedrängt wurde.
Wenn jemand Kyle vor fünf Jahren gesagt hätte, dass er Männer um sich versammeln würde – die besten, stärksten, aggressivsten jungen weißen Männer, die er finden konnte – und dass sie den Leuten, die verantwortlich dafür waren, dass dieses Land den Bach runterging, Gottesfurcht eintreiben würden… dass sie Amerika wieder groß machen würden… und dass er dafür auch noch bezahlt werden würde? Kyle hätte ihn für verrückt erklärt.
Und doch war er jetzt hier.
Zusammen mit seinen Jungs.
Und ihr Anführer war gerade zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt worden.
Es lagen großartige Tage vor ihnen und sie würden einen langen, langen Weg vor sich haben. Und jeder, der sich ihnen in den Weg stellen würde, der versuchte, sie aufzuhalten oder sie auch nur zu verlangsamen – jeder Einzelne würde niedergemäht werden. So war es einfach.
Die Hintertüren des Bullis öffneten sich und seine Jungs sprangen heraus und schnappten sich ihre Schilder. Kyle war der letzte. Er trat heraus auf die Straße, die Nacht schien um ihn herum zu glänzen. Es war kalt – es schneite sogar ein wenig – aber Kyle war zu aufgeputscht, als dass er das bemerken würde. Die Straße war eng und vierstöckige Mehrfamilienhäuser standen an beiden Seiten. Alle Neonschilder der Geschäfte waren auf Chinesisch, ein einziges bedeutungsloses Gekritzel – unmöglich zu lesen, unmöglich zu verstehen.
War das hier nicht Amerika? Natürlich war es das. Und hier hatte man gefälligst Englisch zu sprechen.
Die Bullis hielten in einer geraden Linie an. Große weiße Männer in schwarzen T-Shirts waren überall, eine einzige sich windende Masse von ihnen. Sie waren wie ein Invasionstrupp, wie Wikinger auf einem Überfall. Sie schwangen ihre Schilder wie Kriegsäxte. Ihr Blut kochte über.
Eine Gruppe winziger, überraschter Asiaten blickte zu ihnen voller… was?
Schock? Horror? Angst?
Oh ja, alles davon.
Die erste Stimme begann zu schreien, etwas zu zahm für Kyles Geschmack, aber für den Anfang ganz in Ordnung.
„Amerika… gehört uns!“
Seine Jungs fielen sofort ein und die Lautstärke erhöhte sich.
„AMERIKA… GEHÖRT UNS!“
Kyle spannte seine Arme an. Er spannte seinen Rücken an, seine Schultern und seine Beine. Sie waren auf einer einfachen Kundgebung, so hatte er es seinen Jungs gesagt. Aber er hoffte, dass es zu mehr werden würde. Er hatte seine Wut schon viel zu lange im Zaum halten müssen.
Kundgebungen waren schön und gut, aber er wollte einfach nur ein paar Köpfe einschlagen.
Es dauerte nicht länger als zwei Minuten, bis sein Wunsch sich erfüllen sollte. Während sie in einer Linie die Straße hinabmarschierten, fing vielleicht 15 Meter vor ihm das Geschubse an.
Einer seiner Jungs packte einen Chinesen an beiden Schultern und warf ihn in einen Haufen Taschenbücher, die vor einem Geschäft aufgestapelt waren. Der Chinese fiel auf den Stapel, der sofort in sich zusammenfiel. Zwei weitere Chinesen sprangen seinen Jungen daraufhin an. Plötzlich fing Kyle an zu rennen. Er ließ sein Schild fallen und schob sich durch die Menge.
Er warf einen Chinesen zu Boden und watete durch eine Gruppe von ihnen, während er wild um sich schlug. Seine Fäuste krachten auf Knochen, die wie Zweige unter dem Aufprall zerbrachen.
Und das, wusste er, war erst der Anfang.