Kitabı oku: «Lagezentrum: Ein Luke Stone Thriller – Buch 3»
LAGEZENTRUM
(EIN LUKE STONE THRILLER—BUCH 3)
J A C K M A R S
Jack Mars
Jack Mars ist der USA Today Bestseller Autor der LUKE STONE Thriller-Reihe, welche sieben Bücher umfasst – mit weiteren in Arbeit. Außerdem ist er Autor der neuen WERDEGANG-Reihe, die die Vorgeschichte von Luke Stone erzählt, sowie der Spionage-Thriller Reihe AGENT NULL.
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BÜCHER VON JACK MARS
LUKE STONE THRILLER SERIE
KOSTE ES WAS ES WOLLE (Buch #1)
AMTSEID (Buch #2)
LAGEZENTRUM (Buch #3)
JEDEM GEGNER ENTGEGENTRETEN (Buch #4)
DER WERDEGANG VON LUKE STONE
PRIMÄRZIEL (Buch #1)
PRIMÄRKOMMANDO (Buch #2)
EINE AGENT NULL SPIONAGE-THRILLER SERIE
AGENT NULL (Buch #1)
ZIELOBJEKT NULL (Buch #2)
JAGD AUF NULL (Buch #3)
EINE FALLE FÜR NULL (Buch #4)
AKTE NULL (Buch #5)
RÜCKRUF NULL (Buch #6)
ATTENTÄTER NULL (Buch #7)
KÖDER NULL (Buch #8)
EINE AGENT NULL KURZGESCHICHTE
Hören Sie sich die LUKE STONE THRILLER-Serie im Hörbuchformat an!
KAPITEL EINS
15. August
07:07 Uhr
Black-Rock-Damm, Great Smoky Mountains, North Carolina
Der Damm stand dort, unveränderlich, gigantisch, die einzige Konstante in Wes Yardleys Leben. Die anderen, die dort arbeiteten, nannten ihn „Mutter“. Der Damm wurde 1943 auf dem Höhepunkt des Zweiten Weltkrieges zur Erzeugung von Wasserkraft gebaut und war so hoch wie ein fünfzigstöckiges Gebäude. Das Kraftwerk, das den Damm betrieb, war sechs Stockwerke hoch, und hinter ihm ragte Mutter wie eine Festung aus einem mittelalterlichen Albtraum hervor.
Wes begann seine Schicht im Kontrollraum auf dieselbe Weise wie in den letzten dreiunddreißig Jahren: Er setzte sich an den langen halbrunden Schreibtisch, stellte seine Kaffeetasse mit einem Krachen ab und loggte sich in den Computer vor ihm ein. Das tat er automatisch, ohne nachzudenken, noch im Halbschlaf. Er war die einzige Person im Kontrollraum, ein Ort, der so veraltet war, dass er einem Set aus der alten Fernsehshow Space 1999 ähnelte. Er war zuletzt irgendwann in den 1960er Jahren umgebaut worden, und sah auch ganz danach aus, als hätte sich jemand aus diesem Jahrzehnt ausgemalt, wie die Zukunft wohl aussehen könnte. Die Wände waren mit Wählscheiben und Schaltern bedeckt, von denen viele schon seit Jahren nicht mehr berührt worden waren. Es gab dicke Videobildschirme, die niemand jemals eingeschaltet hatte. Fenster suchte man vergeblich.
Der frühe Morgen war normalerweise Wes' Lieblingsteil des Tages. Er hatte etwas Zeit für sich selbst, um seinen Kaffee zu trinken, das Protokoll vom Vorabend durchzugehen, die Zahlen der Stromerzeugung zu überprüfen und dann die Zeitung zu lesen. Oft genug goss er sich eine zweite Tasse Kaffee ein, nachdem er die Hälfte der Sportseiten hinter sich hatte. Er hatte keinen Grund, etwas anderes zu tun, schließlich war hier noch nie etwas passiert.
In den vergangenen Jahren hatte er sich im Rahmen seines Morgenrituals dazu entschlossen, die Jobanzeigen zu lesen. Siebzehn Jahre lang, seit Computer Einzug in den Kontrollraum gehalten hatten und dieser automatisiert wurde, hatten die Genies der Tennessee Valley Authority bereits darüber gesprochen, diesen Damm von einem entfernten Ort aus steuern zu lassen. Bislang war nichts daraus geworden, und so wie es aussah, würde es auch nie etwas werden. Auch Wes‘ Jobanzeigen waren erfolglos geblieben. Aber er war sowieso vollends zufrieden hier. Er hätte nichts dagegen, eines Tages in einem Sarg hier herausgetragen zu werden. Hoffentlich lag dieser Tag noch in ferner Zukunft. Er griff abwesend nach seiner Kaffeetasse, als er die Berichte vom Vorabend durchblätterte.
Dann sah er auf und alles veränderte sich.
Entlang der Wand gegenüber von ihm blinkten sechs rote Lichter. Es war so lange her, dass er eine Minute brauchte, um sich daran zu erinnern, was diese Lichter überhaupt bedeuteten. Jedes Licht war ein Indikator für eine der Schleusen. Vor elf Jahren, in einer Woche mit sintflutartigen Regenfällen im Norden, hatten sie eine der Schleusen für knapp drei Stunden täglich geöffnet, damit das Wasser, das sich angesammelt hatte, nicht die Wände durchbrach. Eines dieser Lichter hatte die ganze Zeit über geblinkt, während das Tor geöffnet war.
Aber sechs Lichter? Alle zur gleichen Zeit? Das konnte nur bedeuten…
Wes kniff seine Augen zusammen, als ob er die Lichter dadurch besser sehen könnte. „Was zum…?“, sagte er mit leiser Stimme.
Er nahm das Telefon auf dem Schreibtisch und wählte drei Ziffern.
„Wes“, sagte eine schläfrige Stimme. „Wie läuft dein Tag? Hast du das Spiel der Braves gestern Abend gesehen?“
„Vince?“, sagte Wes, ohne auf den Smalltalk einzugehen. „Ich bin gerade im Kontrollraum. Hier blinken Lichter, die mir sagen, dass Schleusen eins bis sechs offen sind. Jetzt gerade, alle sechs. Das ist ein technisches Problem, oder? Irgendein Messgerät oder ein Computerbug, stimmt’s?“
„Die Schleusen sind offen?“, fragte Vince. „Das kann nicht sein. Mir hat niemand was gesagt.“
Wes stand auf und ging langsam auf das Pult zu. Das Telefonkabel zog sich hinter ihm her. Er starrte ehrfürchtig auf die Lichter. Es gab keine Anzeige. Es gab keine Daten, die irgendetwas erklären würden. Nichts. Nur die Lichter, die unisono blinkten, mal schnell, mal langsam, wie ein verrückt gewordener Weihnachtsbaum.
„Nun, das ist es, was ich sehe. Sechs Lichter, alle blinken. Sag mir, dass die Tore nicht wirklich offen sind, Vince.“
Wes realisierte, dass er Vince gar nicht brauchte. Vince holte gerade aus, ihm zu antworten, aber Wes hörte schon nicht mehr zu. Er legte den Hörer auf und ging einen kurzen, schmalen Gang entlang zum Beobachtungsraum. Es fühlte sich an, als bewegten sich seine Beine von alleine.
Im Beobachtungsraum war die gesamte Südwand abgerundet und mit verstärktem Glas verkleidet. Normalerweise blickte er auf einen ruhigen Bach, der vom Gebäude wegfloss, einige hundert Meter weiter rechts abbog und dann im Wald verschwand.
Heute nicht.
An seiner Stelle befand sich ein reißender Strom.
Wes stand da, mit offenem Mund, erstarrt, betäubt, ein kaltes Kribbeln breitete sich in seinen Armen aus. Er konnte nicht fassen, was vor ihm geschah. Gischt sprühte 30 Meter in die Luft. Wes konnte den Wald überhaupt nicht sehen. Er hörte ein Geräusch, selbst durch das dicke Glas. Es war das Tosen des Wassers – mehr Wasser, als er sich vorstellen konnte.
Fast vierzig Millionen Liter Wasser pro Minute.
Dieses Geräusch sorgte mehr als alles andere dafür, dass sein Herz schneller schlug.
Wes rannte zurück zum Telefon. Er bemerkte selbst, wie atemlos er klingen musste.
„Vince, hör mir zu. Die Tore sind offen! Sie sind alle offen! Wir haben eine 10 Meter hohe und 60 Meter breite Mauer aus Wasser, die da durchkommt! Ich verstehe nicht, was zum Teufel da los ist. Ich weiß nicht, was passiert ist, aber wir müssen sie wieder schließen. SOFORT! Kennst du den Code?“
Vince klang unheimlich ruhig; aber er hatte auch nicht gesehen, was Wes gerade gesehen hatte.
„Ich schaue mal nach“, sagte er.
Wes ging mit dem Hörer in der Hand zum Kontrollpult.
„Komm schon, Vince. Komm schon!“
„Ich mach ja schon“, sagte Vince.
Vince gab ihm eine 6-stellige Zahlenfolge durch, die er über die Tastatur eingab.
Er schaute auf die Lichter und erwartete, dass sie ausgehen würden; aber sie blinkten immer noch.
„Nichts. Bist du sicher, dass das der richtige Code ist?“
„So stehen sie hier. Hast du sie auch richtig eingegeben?“
„Ich habe sie eingegeben, genau wie du sie gesagt hast.“ Wes' Hände begannen zu zittern. Er versuchte, sich selbst zu beruhigen. Erstaunlicherweise klappte das sogar. Er fühlte sich plötzlich, als wäre er ganz weit weg. Er hatte einmal einen nächtlichen Autounfall auf einer verschneiten Bergstraße gehabt, und während sich das Auto um sich selbst drehte und gegen die Leitplanken prallte, hatte Wes sich in diesem Moment sehr ähnlich gefühlt. Es fühlte sich an, als würde er schlafen, als wäre alles nur ein Traum.
Er hatte keine Ahnung, wie lange diese Schleusen schon offen standen, aber sechs Tore auf einmal war eine Menge Wasser, das freigesetzt wurde. Viel zu viel Wasser. So viel Wasser würde das Flussufer überfluten. Es würde eine massive Überschwemmung flussabwärts verursachen. Wes dachte an den riesigen See über ihren Köpfen.
Dann dachte er an etwas anderes, an etwas, das er am liebsten verdrängen würde.
„Drück auf ‚Abbrechen‘ und versuch es nochmal“, sagte Vince.
„Vince, das Urlaubsresort 5 Kilometer flussabwärts von hier. Es ist August. Weißt du, was das heißt? Es ist Hauptsaison und sie haben keine Ahnung, was auf sie zukommt. Wir müssen diese Tore sofort schließen, oder wir müssen jemanden da unten anrufen. Sie müssen sofort evakuieren.“
„Drück auf ‚Abbrechen‘ und versuch es nochmal“, wiederholte Vince.
„Vince!“
„Wes, hast du gehört, was ich gerade gesagt habe? Wir kriegen die Tore zu. Wenn nicht, rufe ich in zwei Minuten das Resort an. Drück jetzt auf ‚Abbrechen‘ und versuch es nochmal.“
Wes tat, was ihm gesagt wurde. Er befürchtete aber, dass es bereits zu spät war.
*
Das Telefon an der Rezeption klingelte ununterbrochen.
Montgomery Jones saß in der Cafeteria des Black Rock Resorts und versuchte, sein Frühstück zu genießen. Es war das gleiche Frühstück, das sie jeden Tag servierten – Rührei, Würstchen, Pfannkuchen, Waffeln – alles, was das Herz begehrte. Heute saß er jedoch an einem Tisch nahe der Lobby, da es trotz der Uhrzeit so voll war. Um ihn herum befanden sich 100 weitere Frühaufsteher, die sämtliche Tische besetzt hatten und über das Essen herfielen. Und das Telefon trug dazu bei, Montys Morgen zu ruinieren.
Er drehte sich um und schaute in die Lobby. Es war ein rustikaler Ort, mit Holzverkleidung, einem Steinkamin und einer ramponierten Rezeption, in die hunderte von Menschen über die Jahre hinweg ihre Namen geritzt hatten. Sie war eine wilde Zusammenstellung aus Initialen, Herzen, längst vergessenen guten Wünschen und halbherzigen Strichmännchen.
Niemand war da, um das Telefon zu beantworten, und wer auch immer am anderen Ende der Leitung war, wollte einfach nicht aufgeben. Jedes Mal, wenn das Telefon aufhörte zu klingeln, dauerte es nur ein paar Sekunden, bis es erneut anfing. Offensichtlich legte der Anrufer also auf, sobald der Anrufbeantworter anging und versuchte es noch einmal. Monty war genervt. Da wollte jemand wohl unbedingt eine Last Minute Reservierung.
„Ruf später wieder an, du Idiot.“
Monty war 69 Jahre alt, und er kam schon seit mindestens 20 Jahren zum Black Rock, oft zwei oder drei Mal im Jahr. Er liebte es hier. Am meisten liebte er es, früh aufzustehen, ein schönes, warmes Frühstück zu genießen und mit seiner Harley Davidson die malerischen Bergstraßen entlangzufahren. Dieses Mal hatte er seine Freundin Lena dabei. Sie war fast dreißig Jahre jünger als er und schlief noch. Sie konnte lange schlafen, seine Lena. Was bedeutete, dass sie heute erst spät ausgehen würden. Aber das war okay. Lena war es wert. Lena war der Beweis für ihn, dass Erfolg sich auszahlte. Er stellte sie sich im Bett vor, ihre langen brünetten Haare auf den Kissen ausgebreitet.
Das Telefon hörte auf zu klingeln. Es vergingen höchstens fünf Sekunden, bevor es wieder anfing.
Das war's. Das reichte jetzt. Monty würde selbst an das verdammte Telefon gehen. Er stand auf und ging mit steifen Beinen zur Rezeption. Er zögerte kurz, bevor er abhob. Der Zeigefinger seiner rechten Hand zeichnete die Schnitzerei eines Herzens mit einem Pfeil in der Mitte nach. Natürlich kam er oft hierher. Aber es war ja nicht so, als würde er hier arbeiten. Er konnte doch nicht so einfach eine Reservierung annehmen oder Nachrichten weiterleiten. Er würde dem Anrufer einfach sagen, er solle es später noch einmal versuchen.
Er nahm den Hörer ab. „Hallo?“
„Hier spricht Vincent Moore von der Tennessee Valley Authority. Ich bin an der Kontrollstation des Black-Rock-Damms, fünf Kilometer nördlich von Ihnen. Dies ist ein Notfall. Wir haben ein Problem mit den Schleusen und bitten um sofortige Evakuierung Ihres Resorts. Ich wiederhole, evakuieren Sie sofort. Eine Flut kommt auf Sie zu.“
„Was?“, fragte Monty. Das musste ein Scherz sein. „Ich verstehe Sie nicht.“
In dem Moment kam in der Cafeteria Unruhe auf. Ein seltsames Stimmengewirr begann zuerst leise, wurde dann jedoch lauter und lauter. Plötzlich fing eine Frau an zu schreien.
Der Mann am Telefon wiederholte sich. „Hier spricht Vincent Moore von der Tennessee Valley…“
Jemand anderes schrie, dieses Mal war es eine Männerstimme.
Monty hielt sich das Telefon ans Ohr, aber er hörte nicht mehr zu. In der Cafeteria standen Leute von ihren Sitzen auf. Einige bewegten sich auf die Türen zu. Dann, mit einem Mal, brach Panik aus.
Menschen rannten, schubsten sich, fielen übereinander. Monty sah gelähmt zu. Eine Menschenmenge kam auf ihn zu, mit großen Augen und offenen Mündern, denen die Angst und der Schrecken ins Gesicht geschrieben stand.
Als Monty durch das Fenster schaute, fegte gerade eine ein bis zwei Meter hohe Wasserwand über das Gelände. Ein Wartungstechniker, der in einem Golfwagen auf einem kleinen Hügel am Haupthaus vorbeifuhr, wurde mit voller Wucht erwischt. Der Wagen kippte um, warf den Mann ins Wasser und landete auf ihm. Der Wagen verfing sich für einen Moment, dann rutschte er auf der Seite den Hügel hinunter, wurde vom Wasser mitgerissen und nahm an Geschwindigkeit zu.
Er rutschte direkt auf die Fenster der Cafeteria zu.
RUMMS!
Der Wagen knallte seitlich gegen das Fenster und zerberstete sie – und ein Wasserstrom folgte ihm.
Er ergoss sich durch das zerschlagene Fenster in die Cafeteria. Der Golfwagen brach hindurch und rutschte durch den Raum. Ein Mann versuchte ihn aufzuhalten, ging jedoch sofort unter und kam nicht wieder hoch.
Überall fielen Menschen in das rasch steigende Wasser, unfähig sich auf den Beinen zu halten. Tische und Stühle rutschten quer durch den Raum und türmten sich an der Wand auf.
Monty eilte hinter die Rezeption. Er blickte auf seine Füße hinunter. Das Wasser stand ihm schon bis zu den Waden. Plötzlich stürzte das gesamte 10 Meter hohe Fenster der Cafeteria ein und die scharfen Glasscherben verteilten sich im gesamten Raum.
Es klang wie eine Explosion.
Monty machte sich bereit, zu rennen. Aber bevor seine Füße ihm gehorchen konnten, bevor er überhaupt über den Schreibtisch krabbeln konnte, konnte er nur noch die Arme heben und schreien, während die Wasserwand ihn verzehrte.
KAPITEL ZWEI
07:35 Uhr
Marine-Observatorium – Washington, DC
Für Susan Hopkins, erste weibliche Präsidentin der Vereinigten Staaten von Amerika, könnte das Leben nicht besser sein. Es war Sommer, also waren Michaela und Lauren nicht in der Schule. Pierre hatte sie hierher gebracht, als sich die Dinge beruhigt hatten, und schließlich war die gesamte Familie in das Neue Weiße Haus eingezogen. Michaela hatte sich von ihrer Entführung erholt, als wäre es ein verrücktes Abenteuer gewesen, das sie sich selbst ausgesucht hatte. Sie hatte sogar eine Runde Talkshows über sich ergehen lassen und zusammen mit Lauren einen Artikel für ein nationales Magazin verfasst.
Susan und Pierre hatten sich besonders Mühe gemacht, sodass Lauren sich nicht ausgeschlossen fühlte. Nach dem ersten TV-Interview bestanden sie darauf, dass die Mädchen die Shows nur noch zusammen machten. Das war auch ganz richtig so – während Michaela in einem fünfzigstöckigem Gebäude voller Terroristen gefangen gewesen war, war Lauren alleine zu Hause geblieben, ganz ohne ihre Zwillingsschwester und beste Freundin.
Manchmal stockte Susan bei dem Gedanken, dass sie fast ihre Tochter verloren hatte, der Atem. Sie wachte ab und zu mitten in der Nacht auf und schnappte nach Luft, als ob ein Dämon auf ihrer Brust säße.
Sie hatte Luke Stone dafür zu danken, dass Michaela heil wieder zurückgekehrt war. Luke Stone hatte sie gerettet. Er und sein Team hatten jeden einzelnen der Kidnapper getötet. Er war ein Mann, den man nur schwer durchschauen konnte. Skrupelloser Killer auf der einen Seite, liebender Vater auf der anderen. Susan war überzeugt, dass er auf dieses Dach gegangen war, nicht weil es sein Job war, sondern weil er seinen eigenen Sohn so sehr liebte, dass er den Gedanken nicht ertragen konnte, dass Susan ihre Tochter verlieren könnte.
In zehn Tagen würde die ganze Familie nach Kalifornien zurückkehren, um sich auf das neue Schuljahr vorzubereiten – nur Susan würde zurückbleiben. Sie würde sie wieder verlieren, aber es war nur ein vorübergehender Verlust, und im Moment war es toll, sie hier zu haben. So großartig, dass sie fast Angst hatte, sich zu sehr daran zu gewöhnen.
„Worüber denkst du nach?“, fragte Pierre.
Sie lagen auf dem großen Bett im Schlafzimmer. Durch die nach Südosten gerichteten Fenster strömte das Morgenlicht herein. Susan lag mit dem Kopf auf seiner nackten Brust und hatte ihren Arm um seine Taille geschlungen. Was machte es schon, dass er schwul war? Er war ihr Mann und der Vater ihrer beiden Töchter. Sie liebte ihn. Sie hatten so viel miteinander erlebt. Jetzt, Sonntagmorgen, war ihre Lieblingszeit.
Ihre Mädchen waren beide Langschläfer. Sie würden bis zum Mittag im Bett bleiben, wenn Pierre und Susan sie schlafen lassen würden. Wenn die Pflicht nicht rufen würde, würde Susan auch am liebsten weiterschlafen. Aber Präsidentin der Vereinigten Staaten zu sein war ein Job, der sieben Tage die Woche vollsten Einsatz von ihr verlangte. Sie hatte nur die wenigen faulen Momente am Sonntagmorgen für sich.
„Ich denke daran, wie glücklich ich bin“, sagte sie. „Zum ersten Mal seit dem sechsten Juni bin ich glücklich. Es ist so schön, euch hier zu haben. Genau wie in alten Zeiten. Und ich habe das Gefühl, nach allem, was passiert ist, gewöhne ich mich endlich an den Gedanken, Präsidentin zu sein. Ich hätte nicht gedacht, dass ich dazu in der Lage wäre, aber ich habe es geschafft.“
„Du bist härter geworden“, sagte Pierre. „Gemeiner.“
„Ist es so schlimm?“, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. „Nein, gar nicht. Du bist erwachsener geworden. Als Vizepräsidentin hast du noch ganz anders gewirkt.“
Susan nickte. „Ich war schon ziemlich mädchenhaft.“
„Oh ja“, sagte er. „Weißt du noch, wie Mademoiselle dich in einer orangefarbenen Yogahose joggen gehen gelassen hat? Ziemlich sexy. Aber du warst Vizepräsidentin der Vereinigten Staaten von Amerika. Das war ein wenig… sagen wir mal informell.“
„Es hat Spaß gemacht, Vizepräsidentin zu sein. Ich habe es wirklich geliebt.“
Er nickte und lachte. „Ich weiß. Ich hab's gesehen.“
„Aber dann hat sich alles verändert.“
„Ja.“
„Und wir können nicht mehr zurück“, sagte sie.
Er sah zu ihr herunter. „Würdest du das denn wollen?“
Sie dachte darüber nach, aber nur für einen Moment. „Wenn all die Menschen noch am Leben wären, die ihr Leben am Mount Weather verloren haben, würde ich Thomas Hayes sofort seinen Job zurückgeben. Aber so nicht. Ich habe noch ein paar Jahre, bevor ich mich entscheiden muss, ob ich noch einmal antreten möchte. Ich habe das Gefühl, dass mich die Leute so langsam unterstützen und mit einer zweiten Amtszeit könnten wir einige großartige Dinge erreichen.“
Er hob die Augenbrauen. „Eine zweite Amtszeit?“
Sie lachte. „Das können wir wann anders besprechen.“
In dem Moment klingelte das Telefon. Susan griff danach und hoffte, es sei nichts Wichtiges.
Leider waren Anrufe für sie immer wichtig.
Es war ihre neue Stabschefin, Kat Lopez. Susan erkannte ihre Stimme sofort. Und vom ersten Moment an gefiel ihr ihr Tonfall nicht.
„Susan?“
„Hi, Kat. Du weißt, dass es Sonntag ist und nicht mal acht Uhr, oder? Sogar Gott hat einen Tag geruht. Du darfst das auch.“
Kats Tonfall war ernst. Kat war eigentlich immer ernst. Als Frau mit spanischen Wurzeln und aus armen Verhältnissen hatte sie sich nach oben gekämpft. Sie hatte sich ihre Position nicht durch bloßes Lächeln erarbeitet, auch wenn Susan das bedauerte. Kat war äußerst kompetent, aber sie war auch sehr schön. Es würde ihr nicht schaden, wenn sie ab und zu lächeln würde.
„Susan, ein großer Damm in einer abgelegenen Gegend im äußersten Westen von North Carolina ist gebrochen. Unsere Analysten sagen, es könnte ein Terroranschlag gewesen sein.“
Susan fühlte ein vertrautes Stechen in ihrer Magengegend. Das war eine Sache an ihrer Arbeit, an die sie sich nie gewöhnen würde. Ein Gefühl, das sie ihrem schlimmsten Feind nicht wünschen würde.
„Opfer?“, fragte sie.
Sie sah den Blick in Pierres Augen. So war es nun mal. Eben noch hatten sie über eine weitere Amtszeit gewitzelt.
„Ja“, sagte Kat.
„Wie viele?“
„Das wissen wir noch nicht. Möglicherweise Hunderte.“
Susan fühlte, wie ihr die Luft entwich, als wäre sie ein Reifen, der gerade aufgeschlitzt worden war.
„Susan, eine Gruppe versammelt sich gerade im Lagezentrum.“
Susan nickte. „Ich bin in einer Viertelstunde unten.“
Sie legte auf. Pierre starrte sie an.
„Ist es schlimm?“, fragte er.
„Es ist doch immer schlimm.“
„Okay“, sagte er. „Mach dein Ding. Ich kümmere mich um die Mädchen.“
Susan war bereits aufgestanden und auf halbem Weg zur Dusche, bevor er zu Ende gesprochen hatte.