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Der Mann, der glaubte, dass es sein Schicksal war, Kent Steele zu töten, war entkommen.
KAPITEL FÜNF
Adrian Cheval war trotz der späten Stunde immer noch wach. Er saß auf einem Hocker in der Küche, starrte mit verschwommenen und blinzelnden Augen auf den Computerbildschirm vor sich und seine Finger tippten in rasender Geschwindigkeit.
Er hielt lang genug an, um Claudette sanft barfuß die teppichbedeckten Treppenstufen aus dem Obergeschoss hinunterschleichen zu hören. Ihre Wohnung in Marseille war klein, aber gemütlich. Die hinterste Wohnung in einer ruhigen Straße, nur fünf Minuten zu Fuß vom Meer entfernt.
Einen Augenblick später erschien ihr schmaler Körper und ihr feuriges Haar in seinem Blickwinkel. Sie legte ihre Hände auf seine Schultern, ließ sie seine Brust hinauf und hinuntergleiten und lehnte dann ihren Kopf gegen seine Schulter. „Mon Chéri“, säuselte sie. „Mein Schatz. Ich kann nicht schlafen.“
„Ich auch nicht“, antwortete er sanft auf Französisch. „Es gibt einfach zu viel zu tun.“
Sie biss ihn sanft in sein Ohrläppchen. „Erzähl mir mehr.“
Adrian zeigte auf seinen Bildschirm, auf dem sich die zyklische doppelsträngige RNA-Struktur des Variola Major befand – dem Virus, der den meisten Menschen als die Pocken bekannt ist. „Dieser Bakterienstamm aus Sibirien ist … er ist unglaublich. Ich habe noch nie etwas Ähnliches gesehen. Meinen Berechnungen zufolge wäre die Virulenz dessen beeindruckend. Ich bin überzeugt, dass das Einzige, was ihn vor Tausenden von Jahren daran hindern konnte, die Menschheit auszurotten, die Eiszeit war.“
„Eine neue Sintflut“, stöhnte Claudette leise in sein Ohr. „Wie lange brauchst du noch, bis du so weit bist?“
„Ich muss den Bakterienstamm und gleichzeitig die Stabilität und Potenz beibehalten“, erklärte er. „Keine leichte Aufgabe, aber eine Notwendigkeit. Die WHO hat vor fünf Monaten Proben dieses Virus’ erhalten; es besteht kein Zweifel daran, dass gerade ein Impfstoff entwickelt wird, wenn es nicht sogar schon einen gibt. Unser Erreger muss so einzigartig werden, dass ihre Impfstoffe unwirksam sind.“ Der Vorgang wurde als letale Mutagenese bezeichnet, wobei die RNA der Proben, die er aus Sibirien erhalten hatte, manipuliert wurden, um die Infektionsstärke zu erhöhen und die Inkubationszeit zu verringern. Wie aus seinen Berechnungen folgte, vermutete Adrian eine Sterblichkeitsrate durch den mutierten Variola Major Virus, die bei hohen achtundsiebzig Prozent lag – fast dreimal so hoch wie die der letzten gewöhnlichen Pockeninfektion, die 1980 von der Weltgesundheitsorganisation ausgerottet worden war.
Nach seiner Rückkehr aus Sibirien hatte Adrian zunächst den Ausweis des verstorbenen Renaults genutzt, um Zugang zu den Einrichtungen in Stockholm zu erlangen, wo er sicherstellte, dass die Proben inaktiv waren, während er seiner Arbeit nachging. Aber er konnte nicht lange unter der Identität eines anderen dort verweilen, deshalb stahl er die notwendige Ausrüstung und kehrte nach Marseille zurück. Er richtete sein Labor im ungenutzten Keller eines Schneidereigeschäfts, drei Blocks von ihrer Wohnung entfernt, ein. Der freundliche alte Schneider glaubte, dass Adrian nichts weiter als ein Genetiker war, der die menschliche DNA erforschte, und Adrian stellte sicher, dass die Tür mit einem Vorhängeschloss verriegelt war, wenn er sich nicht dort aufhielt.
„Imam Khalil wird erfreut sein“, hauchte Claudette in sein Ohr.
„Ja“, stimmte Adrian leise zu. „Er wird erfreut sein.“
Die meisten Frauen wären vermutlich nicht sonderlich glücklich darüber, ihren Partner mit einem so potenten Erregerstamm der Pocken beschäftigt zu sehen – aber Claudette war nicht wie die meisten Frauen. Sie war zierlich, nur ein Meter sechzig neben Adrians ein Meter achtzig. Ihr Haar war feurig rot und ihre Augen so dunkelgrün wie der dichteste Dschungel, was auf einen gewissen Jähzorn deutete. Sie hatten sich erst im Jahr zuvor kennengelernt, während Adrian sich an seinem Tiefpunkt befand. Er war gerade von der Universität in Stockholm exmatrikuliert worden, weil er versucht hatte, Proben eines seltenen Enterovirus zu beschaffen, demselben Virus, der seine Mutter nur ein paar Wochen zuvor das Leben gekostet hatte. Zu diesem Zeitpunkt war Adrian entschlossen – fast schon besessen davon gewesen – ein Gegenmittel zu finden, damit niemand anderes so leiden musste wie sie. Er war allerdings vom Lehrkörper der Universität entdeckt und fristlos entlassen worden.
Claudette fand ihn in einer Seitenstraße, wo er halb bewusstlos und betrunken in einer Pfütze seiner eigenen Trostlosigkeit und seines Erbrochenen lag. Sie nahm ihn mit nach Hause, wusch ihn und gab ihm Wasser zu trinken. Am nächsten Morgen war Adrian zum Anblick einer schönen Frau aufgewacht, die an seinem Bett saß und ihn anlächelte, als sie sagte: „Ich weiß genau, was du brauchst.“
Er drehte sich in seinem Küchenhocker herum und strich mit beiden Händen ihren Rücken hoch und runter. Selbst wenn er saß, war er fast so groß wie sie. „Es ist interessant, dass du die Sintflut erwähnst“, stellte er fest.
„Weißt du, es gibt Gelehrte, die sagen, dass, wenn die große Flut wirklich stattgefunden hat, dies ungefähr vor sieben bis achttausend Jahren passiert sein musste … fast zur gleichen Zeit wie dieser Bakterienstamm. Vielleicht war die Flut eine Metapher und es war genau dieser Virus, der die Erde von allem Bösen gereinigt hat.“
Claudette lachte ihn an. „Deine ständigen Bemühungen, Wissenschaft mit Spiritualität zu verbinden, entgehen mir nicht.“ Sie nahm sein Gesicht sanft zwischen ihre Hände und küsste seine Stirn. „Aber manchmal verstehst du einfach noch nicht, dass der Glaube das Einzige ist, was du brauchst.“
Glaube ist alles, was du brauchst. Das war es, was sie ihm im Jahr zuvor erklärt hatte, als er von seiner betrunkenen Benommenheit aufgewacht war. Sie hatte ihn aufgenommen und ihm erlaubt, in ihrer Wohnung zu bleiben, die gleiche Wohnung, in der sie noch immer lebten. Adrian hatte vor Claudette nicht an Liebe auf den ersten Blick geglaubt, aber sie hatte generell viel Einfluss auf seine Denkweise. Über ein paar Monate hinweg hatte sie ihn mit den Lehren von Imam Khalil bekanntgemacht, einem islamischen Heiligen aus Syrien. Khalil betrachtete sich weder als sunnitisch noch als schiitisch, sondern lediglich als Anhänger Gottes – sogar soweit, dass er den Anhängern seiner relativ kleinen Sekte erlaubte, Gott so zu nennen, wie sie es wählten, da Khalil glaubte, dass die Beziehung jedes Einzelnen mit seinem Schöpfer streng persönlich sei. Für Khalil war der Name dieses Gottes Allah.
„Ich möchte, dass du ins Bett kommst“, sagte Claudette zu ihm und streichelte seine Wange mit ihrem Handrücken. „Du brauchst Ruhe. Aber zunächst … hast du die Probe vorbereitet?“
„Die Probe.“ Adrian nickte. „Ja. Das habe ich.“
Zwischen zwei Schaumwürfeln eines biologischen Gefahrenbehälters aus Edelstahl eingebettet lag ein einziges, winziges, luftdicht verschlossenes Glasröhrchen, kaum größer als der Nagel eines Daumens, das den aktiven Virus enthielt. Die Box selbst stand ziemlich auffällig auf der Arbeitsplatte ihrer Küche.
„Gut“, säuselte Claudette. „Denn wir erwarten Besuch.“
„Heute Abend?“ Adrians Hände glitten von ihrem Rücken. Er hatte nicht erwartet, dass es so bald passieren würde. „Um diese Uhrzeit?“ Es war fast zwei Uhr morgens.
„Jeden Moment“, sagte sie. „Wir haben ein Versprechen gegeben, Schatz, und wir müssen es halten.“
„Ja“, murmelte Adrian. Sie hatte recht, wie immer. Versprechen dürfen nicht gebrochen werden. „Selbstverständlich.“
Ein schroffes, hartes Klopfen an der Tür ihrer Wohnung erschreckte sie beide. Claudette ging schnell zur Tür, ließ das Kettenschloss verriegelt und öffnete die Tür nur einen Spalt. Adrian folgte ihr und spähte über ihre Schulter, um die beiden Männer auf der anderen Seite zu sehen. Keiner der beiden sah freundlich aus. Er kannte ihre Namen nicht und hatte an sie nur als „die Araber“ gedacht – obwohl sie, soweit er wusste, auch Kurden oder Türken sein könnten. Einer sprach schnell mit Claudette auf Arabisch. Adrian verstand es nicht; sein Arabisch war bestenfalls auf Anfängerniveau und auf eine Handvoll Sätze begrenzt, die Claudette ihm beigebracht hatte, aber sie nickte einmal, schob das Kettenschloss beiseite und gewährte ihnen Einlass.
Beide waren ziemlich jung, etwa Mitte dreißig, und sie trugen kurze, schwarze Bärte auf ihren olivfarbenen Wangen. Sie trugen europäische Kleidung, Jeans und T-Shirts und leichte Jacken gegen die kühle Nachtluft; Imam Khalil verlangte keine religiösen Gewänder oder Bedeckung von seinen Anhängern. Seit seiner Zwangsumsiedlung aus Syrien bevorzugte er es, dass seine Leute nicht auffielen – aus Gründen, die Adrian als offensichtlich empfand, wenn man bedachte, weshalb die zwei Männer hier waren.
„Cheval.“ Einer der syrischen Männer nickte Adrian fast ehrfürchtig zu. „Nach vorne? Erzähl uns.“ Er sprach in extrem gebrochenem Französisch.
„Nach vorne?“, wiederholte Adrian verwirrt.
„Er fragt nach deinem Fortschritt“, sagte Claudette sanft.
Adrian grinste. „Sein Französisch ist schrecklich.“
„So wie dein Arabisch“, erwiderte Claudette.
Guter Punkt, dachte Adrian. „Sag ihm, dass der Vorgang Zeit braucht. Er ist akribisch und fordert Geduld. Aber die Arbeit läuft gut.“
Claudette gab die Nachricht auf Arabisch weiter und die beiden Araber nickten zustimmend.
„Kleines Stück?“, fragte der zweite Mann. Es schien so, als wollten sie ihr Französisch an ihm üben.
„Sie sind wegen der Probe hier“, erklärte Claudette Adrian, obwohl er so viel auch schon aus dem Kontext verstanden hatte. „Gehst du sie holen?“ Es war ihm klar, dass Claudette kein Interesse daran hatte, den Behälter für biologische Gefahrenstoffe selbst zu berühren, egal ob er versiegelt war oder nicht.
Adrian nickte, bewegte sich aber nicht.
„Frag sie, wieso Khalil nicht selbst gekommen ist.“
Claudette biss sich auf die Lippe und berührte ihn sanft am Arm. „Liebling“, sagte sie leise, „ich bin mir sicher, dass er woanders beschäftigt ist –“
„Was könnte wichtiger sein, als das hier?“, beharrte Adrian. Er hatte voll und ganz erwartet, dass der Imam vorbeikommen würde.
Claudette stellte die Frage auf Arabisch. Die beiden Syrer runzelten die Stirn und sahen sich an, bevor sie antworteten.
„Sie sagen, dass er heute Abend die Kranken besucht“, sagte Claudette zu Adrian auf Französisch. „Er betet für ihre Befreiung aus der physischen Welt.“
Adrians Gedanken wanderten zu seiner Mutter, die wenige Tage vor ihrem Tod, mit offenen Augen auf dem Bett lag, ohne dass sie jedoch noch irgendetwas merkte. Sie war durch die Medikamente kaum mehr bei Bewusstsein gewesen; ohne sie hätte sie unter ständigem Schmerz gelitten, aber mit ihnen war sie praktisch komatös. In den Wochen vor ihrem Ableben hatte sie kein Konzept mehr von der Welt um sich herum. Er hatte oft für ihre Genesung gebetet und dort an ihrem Bett gesessen, doch als sie sich dem Ende näherte, veränderten sich seine Gebete und er wünschte ihr nur noch einen schnellen und schmerzfreien Tod.
„Was wird er damit tun?“, fragte Adrian. „Mit der Probe.“
„Er wird sicherstellen, dass deine Mutation funktioniert“, sagte Claudette einfach. „Das weißt du doch.“
„Ja, aber …“, Adrian hielt inne. Er wusste, dass es nicht seine Aufgabe war, die Absicht des Imams in Frage zu stellen, aber plötzlich hatte er einen starken Drang, es zu wissen. „Wird er es privat testen? Irgendwo außerhalb? Es ist wichtig, unsere Karten nicht zu früh zu spielen. Der Rest der Proben ist noch nicht fertig …“
Claudette sagte schnell etwas zu den syrischen Männern, dann nahm sie Adrian an der Hand und führte ihn in die Küche. „Mein Schatz“, sagte sie leise, „hast du etwa Zweifel? Sag es mir.“
Adrian seufzte. „Ja“, gab er zu. „Dies ist nur eine sehr winzige Probe, nicht ganz so beständig, wie es die anderen sein werden. Was, wenn es nicht funktioniert?“
„Das wird es.“ Claudette schlang ihre Arme um ihn. „Ich habe vollstes Vertrauen in dich und Imam Khalil auch. Dir wurde diese Gelegenheit aus gutem Grund geschenkt. Du bist gesegnet, Adrian.“
Du bist gesegnet. Das waren die gleichen Worte, die Imam Khalil benutzt hatte, als sie sich trafen. Vor drei Monaten hatte Claudette Adrian auf eine Reise mit nach Griechenland genommen. Khalil, wie so viele andere Syrer, war ein Flüchtling – allerdings weder ein politischer, noch ein Nebenprodukt der vom Krieg zerrissenen Nation. Er war ein religiöser Flüchtling, der von den Sunniten und Schiiten wegen seiner idealistischen Vorstellungen vertrieben worden war. Khalils Spiritualität war ein Zusammenschluss islamischer Grundsätze und der esoterisch-philosophischen Einflüsse von Druze, wie beispielsweise Wahrhaftigkeit und Seelenwanderung.
Adrian hatte den Heiligen in einem Hotel in Athen getroffen. Imam Khalil war ein freundlicher Mann mit einem angenehmen Lächeln. Er trug einen braunen Anzug, hatte dunkles, gekämmtes und ordentliches Haar und einen Bart. Der junge Franzose war überrascht gewesen, als ihn der Imam bei ihrem ersten Treffen bat, mit ihm zu beten. Zusammen saßen sie auf einem Teppich nach Mekka ausgerichtet und beteten stillschweigend. In der Luft um den Imam herum hing eine Stille, wie eine Aura, eine Behaglichkeit, die Adrian nicht mehr gespürt hatte, seit er als kleiner Junge in den Armen seiner damals noch gesunden Mutter gelegen hatte.
Nach dem Gebet rauchten die beiden Männer eine Shisha und tranken Tee, während Khalil von seiner Weltanschauung sprach. Sie unterhielten sich darüber, wie wichtig es war, sich selbst treu zu bleiben; Khalil glaubte, dass der einzige Weg für die Menschheit, sich ihrer Sünden freizusprechen, die absolute Wahrhaftigkeit sei, die es der Seele erlaubte, als reines Wesen wiedergeboren zu werden. Er stellte Adrian viele Fragen über die Wissenschaft und über Spiritualität. Er fragte nach Adrians Mutter und versprach ihm, dass sie irgendwo auf diesem Planeten wiedergeboren worden sei, rein, wunderschön und gesund. Der junge Franzose fand großen Trost darin.
Khalil sprach dann von Imam Mahdi, dem Erlöser und dem letzten Imam, einem Heiligen. Mahdi würde derjenige sein, der den Tag des letzten Gerichts herbeiführen und die Welt von allem Bösen befreien würde. Khalil glaubte, dass dies sehr bald geschehen würde und nach der Erlösung Mahdis würde Utopie folgen; jedes Wesen im Universum wäre dann fehlerfrei, aufrichtig und makellos.
Die beiden Männer hatten für mehrere Stunden bis weit in die Nacht hinein beisammengesessen und als Adrians Kopf so nebelig war, wie die dicke, rauchige Luft, die sie umgab, stellte er schließlich die Frage, die ihn beschäftigte.
„Bist du es, Khalil?“, fragte er den Heiligen. „Bist du Mahdi?“
Imam Khalil hatte deshalb breit gelächelt. Er nahm Adrians Hand und sagte sanft: „Nein, mein Junge. Du bist es. Du bist gesegnet. Ich kann es so klar und deutlich wie dein Gesicht vor mir sehen.“
Ich bin gesegnet. In der Küche ihrer Wohnung in Marseille drückte Adrian seine Lippen auf Claudettes Stirn. Sie hatte recht; sie hatten Khalil ein Versprechen gegeben und mussten es halten. Er nahm die stählerne Box für biologische Gefahrenstoffe von der Arbeitsplatte und trug sie zu den wartenden Arabern. Er öffnete den Deckel und hob die obere Hälfte des Schaumstoffwürfels, um ihnen das winzig kleine, luftdicht verschlossene Glasröhrchen zu zeigen.
Das Röhrchen schien leer zu sein – was eine der Eigenschaften der Substanz darstellte, die eine der giftigsten auf der Welt war.
„Liebling“, sagte Adrian, als er den Schaumstoff wieder zurücklegte und den Deckel fest verschloss. „Ich möchte, dass du ihnen sagst, dass sie dieses Glasröhrchen unter keinen Umständen anfassen sollten. Es muss mit äußerster Vorsicht behandelt werden.“
Claudette gab die Nachricht auf Arabisch wieder. Auf einmal schien der syrische Mann, der die Box in den Händen hielt, sich deutlich unwohler zu fühlen als noch einen Moment zuvor. Der andere Mann nickte Adrian dankend zu und murmelte dann einen Satz auf Arabisch, den Adrian verstand – „Allah ist mit dir, Friede sei mit dir“ – und ohne ein weiteres Wort, verließen die zwei Männer die Wohnung.
Sobald sie gegangen waren, verriegelte Claudette die Tür, zog die Kette zurück ins Schloss und drehte sich dann mit einem verträumten und befriedigten Ausdruck zu ihrem Liebhaber um.
Adrian stand jedoch mit einem mürrischen Gesichtsausdruck wie angewurzelt da.
„Liebling?“, sagte sie vorsichtig.
„Was habe ich gerade getan?“, murmelte er. Er kannte die Antwort bereits; er hatte einen tödlichen Virus anstatt an Imam Khalil in die Hände zweier Fremder gegeben. „Was, wenn sie ihn nicht abliefern? Was, wenn sie ihn fallenlassen, oder öffnen, oder – “
„Mein Liebster“, Claudette legte einen Arm um seine Taille und legte ihren Kopf auf seine Brust. „Sie sind Anhänger des Imams. Sie werden vorsichtig damit sein und ihn dahinbringen, wo er hinmuss. Hab Vertrauen. Du hast den ersten Schritt getan, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Du bist der Mahdi. Vergiss das nicht.“
„Ja“, sagte er sanft. „Natürlich. Du hast recht, wie immer. Und ich muss es zu Ende bringen.“ Wenn seine Mutation nicht so funktionieren würde, wie sie es sollte, oder wenn er nicht die komplette Menge produzierte, dann hatte er keinen Zweifel daran, dass er nicht nur von Khalil als Versager gesehen würde, sondern auch von Claudette. Ohne sie würde er zerbrechen. Er brauchte sie, wie die Luft zum Atmen, wie Nahrung und Sonnenlicht.
Und trotzdem konnte er nicht anders, als sich zu wundern, was sie wohl mit der Probe vorhatten – ob Imam Khalil sie privat an einem abgelegenen Ort oder doch öffentlich testen würde.
Aber er würde es noch früh genug herausfinden.
KAPITEL SECHS
„Dad, du musst mich nicht jedes Mal zur Tür bringen“, sagte Maya, als sie den Dahlgren Platz in Richtung Healy Halle auf dem Georgetown Campus überquerten.
„Ich weiß, dass ich es nicht muss“, sagte Reid. „Aber ich möchte es. Wieso, schämst du dich etwa, mit deinem Vater gesehen zu werden?“
„Das ist es nicht“, murmelte Maya. Die Fahrt hierher war ruhig gewesen, Maya hatte nachdenklich aus dem Fenster gestarrt, während Reid versuchte, etwas zu finden, worüber sie reden könnten, was ihm allerdings nicht gelang.
Maya stand kurz vor dem Ende ihres letzten Jahres an der Highschool, aber sie hatte bereits einige ihrer Kurse absolviert und belegte nun schon ein paar wöchentliche Kurse auf dem Georgetown Campus. Es war eine gute Art, um Leistungspunkte für das College zu sammeln, und machte sich besonders auf einem Bewerbungsschreiben gut – vor allem, da Georgetown momentan ihre erste Wahl war. Reid hatte nicht nur darauf bestanden, Maya zum College zu fahren, sondern sie auch zu ihrem Klassenzimmer zu begleiten. In der Nacht zuvor, als Maria gezwungen gewesen war, ihr Date unerwartet zu beenden, war Reid zu seinen Mädchen nach Hause geeilt. Er war äußerst beunruhigt über die Nachricht gewesen, dass Rais geflohen war – seine Finger hatten am Lenkrad seines Autos gezittert – aber er hatte sich gezwungen, ruhigzubleiben und logisch zu denken. Die CIA war bereits auf Verfolgungsjagd und Interpol vermutlich auch. Er kannte die Vorgehensweise; jeder Flughafen würde überwacht und es würden Straßensperren auf allen Hauptverkehrsstraßen von Sion errichtet werden. Und Rais hatte keine Verbündeten mehr, an die er sich wenden konnte.
Außerdem war der Attentäter in der Schweiz, mehr als sechstausend Kilometer entfernt, geflohen. Zwischen ihm und Kent Steele befanden sich ein halber Kontinent und ein riesiger Ozean.
Und trotzdem wusste er, dass er sich deutlich besser fühlen würde, wenn er erfuhr, dass Rais wieder festgenommen worden war. Er vertraute auf Marias Fähigkeiten, aber er wünschte, er hätte die Weitsicht gehabt, sie zu bitten, ihn so gut sie konnte, auf dem Laufenden zu halten.
Er und Maya erreichten den Eingang zur Healy Halle und Reid verharrte. „Okay, ich schätze, ich werde dich nach dem Unterricht sehen?“
Sie sah ihn misstrauisch an. „Du wirst mich nicht hineinbringen?“
„Heute nicht.“ Er hatte das Gefühl, zu wissen, weshalb Maya heute Morgen so ruhig gewesen war. Er hatte ihr in der Nacht zuvor ein wenig Unabhängigkeit gegeben, aber heute war alles wieder wie gewohnt. Er musste sich daran erinnern, dass sie kein kleines Mädchen mehr war. „Hör zu, ich weiß, dass ich dich in letzter Zeit ein wenig eingeengt habe …“
„Ein wenig“, spottete Maya.
„… und es tut mir leid. Du bist eine fähige, einfallsreiche und intelligente junge Frau. Und du möchtest nur etwas Unabhängigkeit. Ich bin mir dessen bewusst. Mein überfürsorglicher Charakter ist mein Problem, nicht deins. Es hat mit nichts zu tun, was du getan hast.“
Maya versuchte, das Grinsen auf ihrem Gesicht zu verbergen. „Hast du gerade die ‚es liegt nicht an dir, es liegt an mir’ Phrase benutzt?“
Er nickte. „Das habe ich, weil es die Wahrheit ist. Ich könnte es mir nicht verzeihen, wenn dir etwas zustoßen würde und ich nicht da wäre.“
„Aber du wirst nicht immer da sein“, sagte sie. „Egal wie sehr du es versuchst. Und ich muss in der Lage sein, Probleme selbst zu lösen.“
„Du hast recht. Ich werde mein Bestes tun, um mich ein bisschen zurückzuhalten.“
Sie hob eine Augenbraue. „Versprichst du es?“
„Ich verspreche es.“
„Okay.“ Sie stellte sich auf ihre Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange. „Wir sehen uns nach dem Unterricht.“ Sie machte sich auf den Weg zur Tür, hatte dann allerdings einen weiteren Gedanken. „Weißt du, vielleicht sollte ich lernen, wie man schießt, nur für den Fall …“
Er deutete mit einem erhobenen Finger in ihre Richtung. „Treib es nicht zu weit.“
Sie grinste und verschwand im Gang. Reid blieb für ein paar Minuten draußen stehen. Gott, seine Kinder wurden zu schnell erwachsen. In zwei kurzen Jahren würde Maya eine volljährige, erwachsene Frau sein. Bald würde es um Autos gehen und Studiengebühren und … und früher oder später wären da auch Jungs im Spiel. Zum Glück war das bisher noch nicht passiert.
Er lenkte sich selbst damit ab, die Architektur auf dem Gelände zu bewundern, während er auf die Copley Halle zuging. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es ihn jemals langweilen würde, durch die Universität zu spazieren und sich an den Gebäudestrukturen des 18. und 19. Jahrhunderts zu erfreuen. Viele von ihnen waren im romanischen Stil gebaut worden, welcher im Mittelalter in Europa aufblühte. Es half sicherlich auch, dass Mitte März die Wende der Jahreszeiten in Virginia stattfand, zu der das Wetter wärmer wurde – bis zu zehn Grad Celsius und an den wärmeren Tagen sogar bis fünfzehn Grad.
In seiner Rolle als Aushilfslehrer übernahm er üblicherweise kleinere Klassen mit fünfundzwanzig bis dreißig Schülern und in erster Linie Geschichtsleistungskurse. Er spezialisierte sich auf Unterrichtsstunden zum Thema Kriegsführung und half oft für Professor Hildebrandt aus, der fest angestellt war, allerdings regelmäßig für ein Buch auf Reisen ging, das er gerade schrieb.
Oder vielleicht ist er insgeheim in der CIA, scherzte Reid.
„Guten Morgen“, sagte er laut, als er das Klassenzimmer betrat. Die meisten Studenten waren schon dort, als er ankam, also eilte er nach vorne, stellte seine Umhängetasche auf den Schreibtisch und zog seinen Mantel aus. „Ich bin ein paar Minuten zu spät, also lassen Sie uns gleich anfangen.“ Es fühlte sich gut an, wieder im Klassenzimmer zu stehen. Dies war sein Element – zumindest eines von ihnen. „Ich bin mir sicher, dass mir einer von Ihnen sagen kann, was, den Todesopfern zufolge, das verheerendste Ereignis in der europäischen Geschichte war?“
„Der Zweite Weltkrieg“, rief jemand sofort.
„Sicherlich eines der Schlimmsten weltweit“, antwortete Reid, „aber Russland ging es den Zahlen nach zu urteilen deutlich schlechter als Europa. Was haben Sie noch?“
„Die mongolische Eroberung“, sagte ein brünettes Mädchen mit einem Pferdeschwanz.
„Eine weitere gute Vermutung, aber Sie denken nur an bewaffnete Konflikte. Woran ich denke, ist weniger anthropogen; mehr biologisch.“
„Die schwarze Pest“, murmelte ein blonder Junge in der ersten Reihe.
„Ja, das ist richtig Mr. …?“
„Wright“, antwortete der Junge.
Reid grinste. „Mr. Wright? Ich wette, Sie nutzen das als Anmachspruch.“
Der Junge lächelte verlegen und schüttelte den Kopf.
„Ja, Mr. Wright hat recht – die schwarze Pest. Die Pandemie der Beulenpest begann in Zentralasien, breitete sich dann die Seidenstraße hinunter aus und wurde von Ratten auf Handelsschiffen nach Europa gebracht, wo sie im vierzehnten Jahrhundert schätzungsweise fünfundsiebzig bis zweihundert Millionen Menschen umbrachte.“ Er ging für einen Moment auf und ab, um seine Aussage hervorzuheben.
„Das ist ein großer Verlust, nicht wahr? Wie kann es sein, dass diese Zahlen so weit auseinanderliegen?“
Das brünette Mädchen in der dritten Reihe meldete sich. „Weil sie vor siebenhundert Jahren kein Volkszählungsbüro hatten?“
Reid und ein paar weitere Studenten kicherten. „Nun, sicher, das stimmt. Aber es liegt auch daran, dass sich die Plage so schnell ausbreitete. Ich meine, wir sprechen hier über ein Drittel der europäischen Bevölkerung, die über den Zeitraum von zwei Jahren vernichtet wurde. Um das in die richtige Perspektive zu bringen, wäre es also so, als würden die komplette Ostküste und Kalifornien ausgelöscht.“ Er lehnte sich gegen den Schreibtisch und verschränkte seine Arme. „Jetzt weiß ich, was Sie denken. ‚Professor Lawson, sind Sie nicht der Typ, der hier reinkommt und über Krieg redet?’ Ja, und darauf komme ich jetzt hinaus. Jemand hat die mongolische Eroberung erwähnt. Dschingis Khan hatte für kurze Zeit das größte zusammenhängende Imperium der Geschichte und seine Truppen marschierten, während der Jahre, in welchen die Pest in Asien um sich griff, in Osteuropa ein. Khan ist einer der Ersten, der nutzte, was wir heute als biologische Kriegsführung bezeichnen; wenn sich eine Stadt ihm nicht ergeben wollte, dann katapultierte seine Armee seuchenbefallene Leichen über ihre Mauern und dann … mussten sie nur noch eine Weile abwarten.“
Mr. Wright, der blonde Junge in der ersten Reihe, runzelte angeekelt seine Nase. „Das kann nicht wahr sein.“
„Es ist wahr, das versichere ich Ihnen. Die Belagerung von Kafa, dem heutigen Krim, 1346. Schauen Sie, wir würden gerne glauben, dass biologische Kriegsführung ein neues Konzept ist, aber dem ist nicht so. Bevor wir Panzer oder Drohnen oder Raketen oder sogar moderne Waffen hatten, haben wir … ähm … sie … ähm …“
„Warum hast du sie, Reid?“, fragte sie anklagend. Ihre Augen sind eher von Angst erfüllt als von Wut.
Als er das Wort „Waffen“ sagte, blitzte plötzlich eine Erinnerung in seinem Gedächtnis auf – dieselbe Erinnerung, wie zuvor, nun aber deutlich klarer. In der Küche ihres ehemaligen Hauses in Virginia. Kate hatte etwas gefunden, während sie Staub von einer der Klimaanlagen gewischt hatte.
Eine Waffe auf dem Tisch – eine kleine, silberne Neun-Millimeter-LC9. Kate deutete auf sie wie auf einen verfluchten Gegenstand. „Warum hast du die, Reid?“
„Sie ist … nur zum Schutz“, lügst du sie an.
„Zum Schutz? Weißt du überhaupt, wie man so etwas benutzt? Was, wenn eines der Mädchen das Ding gefunden hätte?“
„Das würden sie nicht –“
„Du weißt doch, wie neugierig Maya sein kann. Jesus, ich möchte gar nicht wissen, wie du sie bekommen hast. Ich möchte dieses Ding nicht in unserem Haus haben. Bitte, werde sie los.“
„Natürlich. Es tut mir leid Katie.“ Katie – der Name, den du benutzt, wenn sie wütend ist.
Du nimmst vorsichtig die Waffe vom Tisch, so als wüsstest du nicht, wie du damit umgehen sollst.
Sobald sie zur Arbeit fährt, musst du die anderen elf herausholen, die sich überall im Haus versteckt befinden. Bessere Orte für sie finden.
„Professor?“ Der blonde Junge, Wright, sah Reid besorgt an. „Sind Sie in Ordnung?“
„Ähm … ja.“ Reid richtete sich auf und räusperte sich. Seine Finger schmerzten; er hatte fest die Schreibtischkante ergriffen, als die Erinnerung in sein Gedächtnis kam. „Ja, entschuldigen Sie.“
Nun gab es keinen Zweifel mehr. Er war sich sicher, dass er zumindest eine Erinnerung an Kate verloren hatte.
„Ähm … entschuldigen Sie mich, aber ich fühle mich auf einmal nicht so gut“, sagte er zu der Klasse. „Es hat mich irgendwie getroffen. Lassen Sie uns … ähm heute hier aufhören. Ich werde Ihnen etwas zum Lesen geben und wir holen diese Stunde am Montag nach.“
Seine Hände zitterten, als er die Nummern der Seiten aufzählte. Schweiß bildete sich auf seiner Stirn, als die Schüler das Zimmer verließen. Das braunhaarige Mädchen aus der dritten Reihe blieb an seinem Schreibtisch stehen. „Sie sehen nicht sonderlich gut aus, Professor Lawson. Möchten Sie, dass wir jemanden anrufen?“
Eine Migräne breitete sich im vorderen Bereich seines Kopfes aus, aber er zwang sich zu einem Lächeln, von dem er hoffte, dass es angenehm aussah. „Nein, danke. Es wird schon gehen. Ich brauche nur etwas Ruhe.“
„Okay. Gute Besserung Professor.“ Sie verließ das Klassenzimmer.
Sobald er alleine war, kramte er in der Schreibtischschublade herum, fand eine Aspirin und schluckte sie mit etwas Wasser aus der Flasche in seiner Tasche. Die Erinnerung hatte nicht nur eine mentale oder emotionale Auswirkung auf ihn – sie hatte auch einen körperlichen Effekt. Der Gedanke daran, auch nur eine einzige Erinnerung an Kate zu verlieren, wo sie bereits von ihm genommen worden war, war grauenhaft.
Nach ein paar Minuten ließ das Übelkeitsgefühl in seinem Magen nach, die Gedanken, die in seinem Kopf herumwirbelten jedoch nicht. Er konnte nun keine Ausreden mehr finden; er musste eine Entscheidung treffen. Er würde entscheiden müssen, was er tun wollte. Zu Hause, in einer Kiste in seinem Büro, hatte er den Brief, in dem ihm geschildert wurde, wo er Hilfe bekommen könne – bei einem Schweizer Arzt namens Guyer, demselben Neurochirurgen, der ihm den Gedankenunterdrücker eingesetzt hatte. Wenn irgendjemand ihm dabei helfen konnte, sein Gedächtnis wiederherzustellen, dann wäre er es. Reid hatte die letzten Monate damit verbracht, hin und her zu überlegen, ob er zumindest versuchen sollte, sein volles Gedächtnis wiederzuerlangen.
Aber Erinnerungen an seine Frau waren gelöscht worden und er hatte keine Möglichkeit, zu wissen, was sonst noch mit dem Unterdrücker verlorengegangen war.
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