Kitabı oku: «Kaspar Hauser oder die Trägheit des Herzens», sayfa 2
Bericht Caspar Hausers, von Daumer aufgezeichnet
Soweit Caspar sich entsinnen konnte, war er immer in einem dunkeln Raum gewesen, niemals anderswo, immer in demselben Raum. Niemals den Menschen gesehen, niemals seinen Schritt gehört, niemals seine Stimme, keinen Laut eines Vogels, kein Geschrei eines Tieres, nicht den Strahl der Sonne erblickt, nicht den Schimmer des Mondes. Nichts vernommen als sich selbst, und doch nichts von sich selber wissend, der Einsamkeit nicht inne werdend.
Das Gemach muß von geringer Breite gewesen sein, denn er glaubte, einmal mit ausgestreckten Armen zwei gegenüber liegende Wände berührt zu haben. Vordem aber schien es unermeßlich groß; angekettet an ein Strohlager, ohne die Fessel zu sehen, hatte Caspar niemals den Fleck Erde verlassen, auf dem er traumlos schlief, traumlos wachte. Dämmerung und Finsternis waren unterschieden, so wußte er also um Tag und Nacht; er kannte ihre Namen nicht, allein er sah die Schwärze, wenn er einmal in der Nacht erwachte und die Mauern entschwunden waren.
Er hatte kein Maß für die Zeit. Er konnte nicht sagen, wann die unergründliche Einsamkeit begonnen hatte, er dachte zu keiner Stunde daran, daß sie einmal enden könne. Er spürte keinerlei Verwandlung an seinem Leibe, er wünschte nicht, daß etwas anders sein solle, als es war, es schreckte ihn kein Ungefähr, nichts Künftiges lockte ihn, nichts Vergangenes hatte Worte, stumm lief die regelvolle Uhr des kaum empfundenen Lebens, stumm war sein Inneres wie die Luft, die ihn umgab.
Wenn er am Morgen erwachte, fand er frisches Brot neben dem Lager und den Wasserkrug gefüllt. Bisweilen schmeckte das Wasser anders als sonst; wenn er getrunken hatte, verlor er seine Munterkeit und schlief ein. Nach dem Aufwachen mußte er dann das Krüglein sehr oft in die Hand nehmen, er hielt es lange an den Mund, doch floß kein Wasser mehr heraus; er stellte es immer wieder hin und wartete, ob nicht bald Wasser komme, weil er nicht wußte, daß es gebracht wurde; hatte er doch keinen Begriff, daß außer ihm noch jemand sein könne. An solchen Tagen fand er reines Stroh auf seinem Bette, ein frisches Hemd am Körper, die Nägel beschnitten, die Haare kürzer, die Haut gereinigt. All das war im Schlaf geschehen, ohne daß er es gemerkt, und kein Nachdenken darüber umflorte seinen Geist.
Ganz allein war Caspar Hauser nicht; er besaß einen Kameraden. Er hatte ein weißes Pferdchen aus Holz, ein namenloses, regungsloses Ding und gleichwohl etwas, in dem sein eignes Dasein sich dunkel spiegelte. Da er die lebendige Gestalt in ihm ahnte, hielt er es für seinesgleichen, und in den matten Glanz seiner künstlichen Augenperlen war alles Licht der äußeren Welt gebannt. Er spielte nicht mit ihm, nicht einmal lautlose Zwiesprach hielt er mit ihm, und obwohl es auf einem Brettchen mit Rädern stand, dachte er nie daran, es hin und her zu schieben. Aber wenn er sein Brot aß, reichte er ihm jeden Bissen hin, bevor er ihn selbst zum Mund führte, und bevor er einschlief, streichelte er es mit liebkosender Hand.
Das war sein einziges Tun in vielen Tagen, langen Jahren.
Da geschah es einst während der Zeit des Wachens, daß sich die Mauer auftat, und von draußen her, aus dem Niegesehenen, erschien eine ungeheure Gestalt, ein Niegesehener, der erste Andre, der das Wörtchen Du sprach und den Caspar deshalb den Du nannte. Die Decke des Raumes ruhte auf seinen Schultern, etwas unverständlich Leichtes und Veränderliches war in der Bewegung seiner Glieder, ein Lärm war um ihn, der das Ohr füllte, Laut um Laut floß rasch von seinen Lippen, zu atemlosem Hören zwang das Leuchten seiner Augen, und an seinen Kleidern hing das Draußen als ein betäubender Geruch.
Von den vielen Worten, die aus dem Munde des Du kamen, verstand Caspar zunächst keines, aber durch tieferregtes Aufmerken begriff er allmählich, daß der Ungeheure ihn fortbringen wolle, daß das Ding, das seine Einsamkeit geteilt, den Namen Roß trug, daß er andre Rosse erhalten werde und daß er lernen solle.
»Lernen,« sagte der Du immer wieder, »lernen, lernen.« Und wie um klarzumachen, was das heiße, stellte er einen Schemel mit vier runden Füßen vor ihn hin, legte ein Blatt Papier darauf, schrieb zweimal den Namen Caspar Hauser und führte beim Nachschreiben Caspars Hand. Dies gefiel Caspar, weil es schwarz und weiß aussah.
Darauf legte der Du ein Buch auf den Schemel und sprach, auf die winzigen Zeichen deutend, die Worte vor. Caspar konnte sie alle wiederholen, ohne irgend den Sinn erfaßt zu haben. Auch andre Worte und gewisse Redensarten plapperte er nach, die ihm der Mann vorsagte, zum Beispiel: »Ich möcht’ ein solcher Reiter werden wie mein Vater.«
Der Du schien zufrieden; jedenfalls um ihn zu belohnen, zeigte er ihm, daß man das Holzpferd auf dem Boden hin und her rollen könne, und damit vergnügte sich Caspar, als er am andern Morgen erwachte. Er schob das Rößlein vor seinem Lager auf und ab, wobei ein Geräusch entstand, das den Ohren wehe tat; deshalb ließ er es wieder und begann dafür mit dem Pferd zu reden, indem er die unverständlichen Laute aus dem Munde des Du nachahmte. Es war eine wunderliche Lust für ihn, sich selbst zu hören, er hob die Arme und füllte den Raum mit seinem freudigen Gelall.
Seinen Kerkermeister mochte dies verdrießen und beunruhigen, er wollte ihn zum Schweigen bringen: auf einmal sah Caspar einen Stab über seine Schulter sausen und spürte zugleich einen so heftigen Schmerz auf dem Arm, daß er vor Schrecken nach vorne fiel. Mitten in der Angst machte er die erstaunliche Wahrnehmung, daß er nicht mehr ans Lager angebunden war. Eine Zeitlang verhielt er sich ganz stille, dann versuchte er, vorwärts zu rutschen, aber ihm graute, als er mit seinen bloßen Füßen die kalte Erde berührte. Mit Mühe erreichte er sein Lager und versank sofort in Schlaf.
Es wurde dreimal Nacht und Tag, ehe der Du wiederkam und versuchte, ob Caspar noch seinen Namen schreiben und die Worte aus dem Buch lesen konnte. Er verbarg nicht seine Verwunderung, als der Knabe dies mühelos vermochte. Er wies auf Dinge rings im Raum und nannte ihre Namen; er redete langsam, Aug’ in Aug’ mit Caspar, und hielt ihn dabei an der Schulter fest; durch seine Blicke, seine Gebärden, das Verzerren seiner Züge hindurch ahnte Caspar, was er sagte, und ihm schauderte, während seine stotternde Zunge dem Mann gehorsam war.
In der folgenden Nacht wurde er aus dem Schlaf gerüttelt. Lange und mit Qual spürte er es und konnte doch nicht ganz erwachen. Als er endlich die Augen aufschlug, war die Mauer geöffnet, und ein purpurroter Schein floß in den Raum. Der Du war über ihn gebeugt und sprach leise, vielleicht um Caspars Furcht zu stillen. Er richtete ihn empor und bekleidete ihn mit Hosen, mit einem Kittel und mit Stiefeln, dann stellte er ihn auf die Füße, lehnte ihn gegen die Wand und kehrte sich mit dem Rücken gegen ihn. Er umfaßte seine Beine, hob ihn auf, Caspar umschlang mit den Armen seinen Hals, und nun ging es hinauf, einen hohen Berg hinauf, so schien es Caspar; in Wirklichkeit war es wahrscheinlich die Treppe des unterirdischen Verlieses. Furchtbar dröhnte der Atem des Mannes, etwas Kühles und Feuchtes schlug Caspar ins Gesicht, setzte sich in seinen Haaren fest, die sich von selbst zu bewegen anfingen, und klammerte sich an seine Haut.
Plötzlich wich die Schwärze, sie rauschte auf den Boden nieder; alles wurde weit, weich und blieb doch dunkel; in der Tiefe, in der Ferne wuchteten fremde große Dinge; von oben brach ein blauer Strahl und verlor sich wieder, das Schlüpfrig-Feuchte blähte die Falten der Kleider, durchdringende Gerüche wogten umher, Caspar begann zu weinen und schlief auf dem Rücken des Mannes ein.
Beim Erwachen lag er auf dem Boden, das Gesicht zur Erde gekehrt, und von unten strömte Kälte in den Leib. Der Du richtete ihn auf. Die Luft brannte sonderbar, und ein unerträglich heller Schein flirrte vor den Augen. Der Du machte ihm begreiflich, daß er gehen lernen müsse; er zeigte ihm, wie er gehen solle, er hielt ihn von hinten unter den Armen und stieß seinen Kopf gegen die Brust, ihm so befehlend, daß er auf den Boden sehen solle. Caspar gehorchte wankend und zitternd, die Luft und der Schein brannten ihm die Augenlider, die Gerüche machten ihn schwindeln, die Sinne vergingen.
Er schlief wieder; wie lange, das wußte er nicht. Auch wußte er nicht, wie oft er zu gehen probiert hatte, als es wieder dunkel wurde. Vielleicht glaubte er, es sei Nacht geworden, während sie sich nur in einem Wald befanden. Den Weg gewahrte er nicht, er konnte nicht sagen, ob es aufwärts oder abwärts ging. Ob Bäume oder Wiesen oder Häuser da waren, wußte er nicht. Bisweilen schien ihm alles ringsum in rote Glut getaucht, aber wenn das Weiche, Dunkle kam, dehnten sich Luft und Erde bläulich und grün. Ob Menschen vorübergingen, konnte er nicht sagen, er gewahrte nicht den Himmel, er sah nicht einmal das Gesicht des Mannes. Einmal fiel Wasser von der Höhe; er dachte, der Du schütte ihn mit Wasser an, und beklagte sich, doch jener entgegnete, er schütte ihn nicht an, er deutete in die Luft und rief: »Regen! Regen!«
Wie lange er so unterwegs gewesen, wußte er nicht. Ihm dünkte, jedesmal wenn er sich, erschöpft vom Gehen, zur Ruhe niedergelegt, sei ein Tag vergangen. Furcht zog ihn hin und bemeisterte seine Müdigkeit, sie spannte seine Gelenke und riß sein Haupt nach oben, indes die Augen unaufhörlich zur Tiefe starrten. Der Du gab ihm dasselbe Brot zu essen, das er im Kerker genossen, und ließ ihn Wasser aus einer Flasche trinken. Caspars Erschöpfung und seine Angst, wenn der Wind durch die Büsche sauste, oder wenn ein Tier schrie, oder wenn das Gras um seine Füße klirrte, suchte er durch das Versprechen schöner Pferdchen zu besiegen, und als Caspar endlich längere Zeit allein gehen konnte, sagte er, nun seien sie bald da. Er wies mit dem Arm in die Ferne und sagte: »Große Stadt.«
Caspar sah nichts, taumelnd tappte er vorwärts; nach einer Weile hielt ihn der Du bei den Armen zum Zeichen, daß er stehenbleiben solle, gab ihm einen Brief und sagte, den Mund nahe an Caspars Ohr: »Laß dich weisen, wo der Brief hingehört.«
Caspar machte noch ein paar Schritte, und als er sich dann umsah, war der Du verschwunden. Er spürte plötzlich Steine unter den Füßen, er tastete nach allen Seiten, um sich zu halten, er sah Steinmauern, die im Sonnenlicht feurig lohten, aber Entsetzen packte ihn erst, als er Menschen gewahrte, erst einen, dann zwei, dann viele. Grauenhaft nah kamen sie heran, umstanden ihn, schrien ihm zu, einer ergriff ihn und schleppte ihn vorwärts, alles ringsumher war Lärm und Getöse; er begehrte zu schlafen, sie verstanden ihn nicht; er sprach von seinem Vater, von den Rossen, sie lachten und verstanden ihn nicht; er jammerte über seine wunden Füße, sie verstanden es nicht; er schlief im Stall des Rittmeisters, dann kamen wieder andre Gestalten, um, kaum daß sie sich gezeigt, mit unbegreiflicher Hast wieder zu fliehen, die Luft war schwer und kaum zu atmen, die gewaltigen Dinge, als welche ihm die Häuser erschienen, drängten sich an ihn an, und auf der Wachtstube erschreckten ihn die wilden Mienen und Gebärden der Leute so, daß er zu Tränen seine Zuflucht nahm.
Wiederum schlief er lange, und danach wurde er auf den Turm gebracht. Der Mann, der ihn die große Stiege hinaufführte, sprach mit starker Stimme und öffnete eine Tür, die einen besonderen Hall von sich gab. Kaum hatte er sich auf dem Strohsack niedergelassen, so begann die Turmuhr zu schlagen, worüber Caspar in unermeßliches Erstaunen geriet. Er lauschte angestrengt, aber nach und nach hörte er nichts mehr, seine Aufmerksamkeit verlor sich und er fühlte nur das Brennen seiner Füße. In den Augen hatte er keine Schmerzen, da es dunkel war. Er setzte sich auf und wollte nach dem Krüglein langen, um seinen Durst zu stillen. Er sah kein Wasser und kein Brot, anstatt dessen sah er einen Boden, der ganz anders beschaffen war als dort, wo er früher gewesen. Nun wollte er nach seinem Pferdchen greifen und mit ihm spielen, es war aber keines da, und er sagte: »Ich möcht’ ein solcher Reiter werden wie mein Vater.«
Das sollte heißen: Wo ist das Wasser hin und das Brot und das Pferdchen?
Er bemerkte den Strohsack, auf dem er lag, betrachtete ihn mit Verwunderung und wußte nicht, was es sei; mit dem Finger darauf klopfend, vernahm er dasselbe Geräusch wie von dem Stroh, das sonst sein Lager gewesen. Dies erfüllte ihn mit Beruhigung, so daß er wieder einschlief und erst mitten in der Nacht vom oftmals wiederholten Ton der Glocke erwachte. Er lauschte lang, und als der Schall verklungen war, sah er den Ofen, der eine grüne Farbe hatte und einen Glanz von sich gab (denn Caspar vermochte selbst in tiefer Dunkelheit die Farben zu unterscheiden). Er blickte sehr angespannt hinüber und murmelte wieder: »Ich möcht’ ein solcher Reiter werden wie mein Vater.«
Das sollte heißen: Was ist denn dieses und wo bin ich denn? Auch drückte er damit sein Verlangen nach dem glänzenden Ding aus.
In der Frühe öffnete der Wärter die Fensterläden, das helle Tageslicht tat Caspars Augen wehe; er fing zu weinen an und sagte: »Hinweisen, wo der Brief hingehört,« und damit wollte er sagen: Warum tun mir die Augen weh? Tu es weg, was mich brennt, gib mir das Pferdchen zurück und plag mich nicht so. Denn er sprach im Geiste mit dem Du, von dem er glaubte, daß er Abhilfe schaffen könnte. Er hörte die Uhr wieder schlagen, das nahm ihm die Hälfte der Schmerzen, und indes er horchte, kam ein Mann und stellte allerhand Fragen, aber Caspar gab keine Antwort, weil seine Aufmerksamkeit auf den verhallenden Klang gerichtet war. Der Mann faßte ihn am Kinn, hob seinen Kopf in die Höhe und redete mit starker Stimme. Jetzt hörte Caspar zu und sagte all seine gelernten Worte her, aber der Mann verstand ihn nicht. Er ließ seinen Kopf los, setzte sich neben Caspar und fragte immerfort; als nun die Uhr wieder tönte, sagte Caspar: »Ich möcht’ ein solcher Reiter werden wie mein Vater.«
Das sollte bedeuten: Gib mir das Ding, das so schön klingt.
Der Mann verstand ihn nicht und redete weiter, da fing Caspar an zu weinen und sagte: »Roß geben,« womit er den Mann bat, er möge ihn nicht so quälen.
Er saß dann lange Zeit allein. Aus weiter Ferne klang ein Trompetenschall aus der Kaiserstallung, und als ein andrer Mann eintrat, sagte Caspar die Redensart mit dem Brief; das sollte heißen: Weißt du nicht, was das ist? Der Mann brachte den Wasserkrug und ließ Caspar trinken, danach ward es ihm leicht zumute und er sagte: »Möcht’ ein solcher Reiter werden wie mein Vater.« Das bedeutete: Jetzt darfst du nicht mehr fortgehen, Wasser. Bald erklang wieder die Trompete und Caspar lauschte freudig; er dachte, wenn sein Pferdchen käme, würde er ihm erzählen, was er gehört.
An diesem Tag aber begann schon die Peinigung, die er von den vielen Menschen auszustehen hatte.
Eine hohe amtliche Person wird Zeuge eines Schattenspiels
Natürlich hatte es wochenlang gedauert, bis Professor Daumer einen so vollständigen Einblick in die Vergangenheit des Jünglings gewonnen hatte. Dies alles ans Licht zu bringen, kündbar, greifbar, hatte Ähnlichkeit gehabt mit der Arbeit eines Brunnengräbers. Was anfangs ein Fiebertraum geschienen, besaß nun die Züge des Lebens.
Daumer verfehlte nicht, der Behörde den Sachverhalt in einer gewissenhaften Niederschrift vorzulegen. Die Folge davon war, daß sich der Magistrat entschloß, die Bahn förmlicher Verhöre zu verlassen und in eine vertrautere Beziehung zu dem Unglücklichen zu treten. Die auffälligen Besonderheiten seines Wesens sollten noch einmal überprüft werden, hieß es in einer der gerichtlichen Noten, deshalb wurden Ärzte, Gelehrte, Polizeibeamte, scharfsinnige Juristen, kurz unzählige Personen, die an seinem Schicksal freien Anteil nahmen, zu ihm auf den Turm geschickt. Es war ein endloses Schnüffeln und Debattieren, Zweifeln und Staunen, doch die verschiedenen Erklärungen liefen alle auf eins hinaus, und die bloße Kraft des Augenscheins mußte den Daumerschen Bericht bestätigen.
Wenige Tage später, gegen Anfang Juli, veröffentlichte der Bürgermeister einen Aufruf, der im ganzen Land Verwunderung und Beunruhigung erregte. Zunächst wurde darin das Erscheinen Caspar Hausers geschildert, und nachdem die eigne Erzählung des Jünglings mit tunlichster Ausführlichkeit wiedergegeben war, beschrieb der Verfasser diesen selbst. Er sprach von der alle Umgebung bezaubernden Sanftmut und Güte des Knaben, in der er anfangs immer nur mit Tränen und nun, im Gefühl der Erlösung, mit Innigkeit seines Unterdrückers gedenke; von seiner rührenden Ergebenheit an diejenigen, die häufig mit ihm umgingen, von seiner unbedingten Willfährigkeit zum Guten, die mit der Ahnung dessen verbunden sei, was böse ist, ferner von seiner außerordentlichen Lernbegierde.
»Alle diese Umstände,« fuhr der beredsame Erlaß fort, »geben in demselben Maß, in dem sie die Erinnerungen des Jünglings bekräftigen, die Überzeugung, daß er mit herrlichen Anlagen des Geistes und des Herzens ausgestattet ist, und berechtigen zu dem Verdacht, daß sich an seine Kerkergefangenschaft ein schweres Verbrechen knüpft, wodurch er seiner Eltern, seiner Freiheit, seines Vermögens, vielleicht sogar der Vorzüge hoher Geburt, in jedem Fall aber der schönsten Freuden der Kindheit und höchsten Güter des Lebens verlustig geworden ist.«
Eine kühne und folgenschwere Vermutung, die eher dem mitleidigen Gemüt und dem romantischen Geist als der behördlichen Vorsicht eines hohen Bürgermeisteramtes zur Ehre gereichte!
»Zudem beweisen mancherlei Anzeichen,« hieß es weiter, »daß das Verbrechen zu einer Zeit verübt worden, wo der Jüngling der Sprache schon einmal mächtig gewesen und der Grund zu einer edeln Erziehung gelegt war, die gleich einem Stern in finsterer Nacht aus seinem Wesen hervorleuchtet. Es ergeht daher an die Justiz-, Polizei-, Zivil- und Militärbehörden und an jedermann, der ein menschliches Herz im Busen trägt, die dringende Aufforderung, alle, auch die unbedeutendsten Spuren und Verdachtsgründe bekanntzugeben. Und nicht etwa deswegen, um Caspar Hauser zu entfernen, denn die Gemeinde, die ihn in ihren Schoß aufgenommen, liebt ihn, betrachtet ihn als ein von der Vorsehung ihr zugeführtes Pfand der Liebe, das sie ohne gültigen Beweis der Ansprüche andrer nicht abtreten wird, sondern nur, um die Übeltat zu entdecken und den Bösewicht samt seinen Gehilfen der gerechten Sühne auszuliefern.«
Wahrscheinlich wurden von den Urhebern große Hoffnungen an das Manifest geknüpft, aber die Sache nahm einen ganz unerwarteten Verlauf und bereitete den Nürnberger Herren mancherlei Verlegenheiten. Zunächst lief eine Menge unsinniger und verleumderischer Bezichtigungen ein, durch welche eine Reihe von adligen Familien und von intimen Vorgängen in aristokratischen Kreisen dem Gerede ausgesetzt wurden: Kindesmord, Kindesraub, Kindesunterschiebung waren nach Ansicht des gemeinen Volks Verbrechen, welche die vornehmen Leute täglich und zum Vergnügen begehen.
Schlimmer war es, daß die magistratische Bekanntmachung dem Appellhof des Rezatkreises auf nichtamtlichem Weg zu Händen kam. Irgendein grimmiger Hofrat am selben Gerichtshof erließ allsogleich ein gepfeffertes Schreiben an die Kreisregierung in Ansbach, worin erstlich die Publikation des Nürnberger Bürgermeisters als vorschriftswidrig, zweitens als abenteuerlich bezeichnet wurde, worin drittens der lebhafte Tadel darüber ausgedrückt war, daß durch das verfrühte Preisgeben wichtiger Umstände eine Kriminaluntersuchung wenn auch nicht vereitelt, so doch sehr erschwert worden sei. Der ergrimmte Hofrat ersuchte daher die Regierung, den Magistrat zu strenger Rechenschaft zu ziehen und zu befehlen, daß die den Fall behandelnden Polizeiakten unverzüglich anher zu senden seien.
Die Regierung ließ sich das nicht zweimal sagen. Sie sendete ein Reskript an den Stadtkommissär von Nürnberg und äußerte sich dahin, daß die erzählte Lebensbeschreibung des Findlings so viele grobe Unwahrscheinlichkeiten enthalte, daß der Gedanke an eine ärgerliche Täuschung nicht abzuweisen sei. Gleichzeitig wurden die noch vorhandenen Exemplare des »Intelligenzblattes« und des »Friedens- und Kriegskuriers«, in welchen Zeitungen der Aufruf erschienen war, beschlagnahmt. Dies wurde dem Appellhof ordnungsgemäß mitgeteilt und die Erwägung daran geknüpft, ob die strafrechtliche Verfolgung des Häftlings einzuleiten sei oder nicht.
Den Magistratsherren fuhr ein heilloser Schrecken in die Glieder. Schleunigst ließen sie die Aktenfaszikel zusammenpacken und schickten sie mit Eilpost nach Ansbach hinüber. Vielleicht wähnten sie, daß nun alles gut sei, aber der grimme Hofrat dortselbst erhob alsbald wieder seine Stimme. »Die Verhöre mit dem Häftling und die Zeugnisse über ihn sind aktenmäßig nicht einwandfrei,« zeterte er; »es sind keineswegs alle Personen, die zuerst mit ihm in Berührung getreten sind, polizeilich vernommen worden; ferner hätte der Professor Daumer, um der öffentlichen Bekanntmachung des Magistrats eine rechtliche Basis zu geben, seine Gespräche mit dem Findling zu den Akten legen sollen.«
Die Regierung, um ein übriges zu tun, warnte den Magistrat vor einseitigem Verfahren. Darauf erwiderte der Magistrat in einem Anfall von Trotz und Entrüstung: ja, aber in den Maßregeln, wie ihr sie verlangt, liegt Gefahr, die Entdeckung zu hemmen, welche Anklage die vorgesetzte Behörde mit zorniger Energie zurückwies. Holt eure Versäumnisse nach, diktierte sie, protokolliert Verhöre, schickt Akten, Akten, nichts als Akten.
Mit innerer Wut hatte der Professor Daumer diese Vorgänge verfolgt. Er bezeichnete das Treiben der Ansbacher Behörde als widerwärtige Federfuchserei und hatte allen Ernstes die Absicht, seinem Unmut in einer geharnischten Epistel an die Regierung Luft zu machen. Mit Mühe hielten besonnene Freunde ihn davon zurück. »Aber es muß doch etwas geschehen!« warf er ihnen voll Empörung entgegen, »man ist ja auf dem besten Weg, einen Justizmord zu begehen, und soll ich dazu die Hände in den Schoß legen?«
»Das ratsamste wäre,« antwortete der Freiherr von Tucher, der bei diesem Auftritt anwesend war, »sich persönlich an den Staatsrat Feuerbach zu wenden.«
»Das hieße also, nach Ansbach reisen?«
»Gewiß.«
»Aber nehmen Sie denn an, daß er, als Präsident des Appellgerichts, von den Maßnahmen seiner untergebenen Beamten nicht schon unterrichtet ist und sie etwa gar mißbillige?«
»Gleichviel, ich verspreche mir etwas von einer mündlichen Auseinandersetzung; ich kenne Herrn von Feuerbach, er ist der letzte, der einer gerechten Sache sein Ohr verschließt.«
Die Reise wurde beschlossen. Daumer und Herr von Tucher befanden sich am andern Tag schon in Ansbach. Unglücklicherweise war der Präsident Feuerbach gerade auf einer Inspektionsreise durch den Bezirk, sollte erst am fünften Tag zurückkommen, und die beiden Herren, sofern sie das vorgesetzte Ziel erreichen wollten, mußten ihren Aufenthalt in der Kreishauptstadt über Gebühr verlängern.
Mittlerweile hatte der Findling eine gar böse Zeit. Sein Turmgefängnis wurde das Ziel aller Müßiggänger und Neugierlinge der ganzen Stadt. Man lief hin wie zu der Ausstellung einer unterhaltsamen Rarität, denn der magistratische Erlaß hatte ihn zu einem öffentlichen Gegenstand gemacht. Seine bisherigen Beschützer waren ein wenig zurückhaltender geworden, denn man wußte ja nicht, wie die Geschichte enden würde und ob nicht ein hochweises Appellgericht ihn zum gewöhnlichen Schwindler stempeln würde. Der Turmwärter durfte der allgemeinen Volksbelustigung nicht steuern, der Bürgermeister selbst hatte die früheren Befehle aufgehoben, weil es zweckmäßig schien, daß möglichst viele Leute den Fremdling sahen. Oft erbarmte ihn der wehrlose Knabe, doch schmeichelte es anderseits seiner Eitelkeit, Herr über ein solches Wunderding zu sein, auch spazierte nebenbei mancher Groschen in den Beutel.
Brach der Morgen an und Caspar Hauser erhob sich vom Schlaf, seltsam müde, mit den Augen das Licht meidend; saß er traurig stumm in der Ecke, während Hill den Strohsack aufschüttelte und Wasser und Brot brachte, dann erschienen schon die ersten Besucher, die berufsmäßigen Frühaufsteher: Straßenkehrer, Dienstmägde, Bäckergesellen, Handwerker, die zur Arbeit gingen, auch Knaben, die auf dem Weg zur Schule einen ergötzlichen Abstecher machten, sogar einige höchst unbürgerliche Erscheinungen, zerlumpte Herren, die die Nacht im Stadtgraben oder in einer Scheune verbracht hatten.
Mit dem Verlauf des Tages wurde die Gesellschaft vornehmer; es kamen ganze Familien, der Herr Rendant mit Weib und Kind, der Herr Major a. D., der Schneidermeister Bügelfleiß, Graf Rotstrumpf mit seinen Damen, Herr von Übel und Herr von Strübel, die ihre Morgenpromenade zum Zweck einer Besichtigung des kuriosen Untiers unterbrachen.
Es war ein heiteres Treiben; man konversierte, wisperte, lachte, spottete und tauschte Meinungen aus. Man war freigebig und brachte dem Jüngling allerlei Geschenke, die er ansah wie ein Hund, der noch nicht apportieren gelernt hat, den fortgeworfenen Spazierstock seines Herrn ansieht. Man legte Eßwaren vor ihn hin, um seinen Appetit zu reizen; so schleppte zum Beispiel die Kanzleirätin Zahnlos einmal eine ganze Schinkenkeule herauf, die allerdings am andern Tag verschwunden war – wohin, das wußte niemand; doch zog man bedeutsame Schlüsse daraus.
Vor allem hieß es: zeigt uns das Wunder, das angepriesene Wunder! Aber da der schweigsame, sanftherzige Knabe nichts von alledem tat, was sie in ihrer lüsternen Erwartung sich eingebildet, so begannen sie entweder zu schimpfen – als ob sie Eintrittsgeld bezahlt hätten und darum betrogen worden wären – oder stellten die erstaunlichsten Torheiten an. Indem sie ihn fortwährend mit Fragen quälten, woher er komme, wie er heiße, wie alt er sei und ähnliches, kamen sie sich sowohl witzig wie überlegen vor. Sein flehentliches Kopfschütteln, sein ungereimtes Nein oder Ja, das wie aus Kindermund froh-bereitwillig und furchtsam zugleich klang, sein Gestotter, sein gläubiges Lauschen, alles das erregte ihr Behagen. Einige brachten ihr Gesicht ganz nah an seines und waren höchst vergnügt, wenn er vor ihren Starrblicken sichtlich bis ins Innerste erschrak. Sie befühlten seine Haare, seine Hände, seine Füße, zwangen ihn, durchs Zimmer zu spazieren, zeigten ihm Bilder, die er erklären sollte, und taten zärtlich mit ihm, während sie einander listig zuzwinkerten.
Aber die Harmlosigkeit solcher Versuche ward den unternehmenderen Geistern bald überdrüssig. Man wollte sich doch überzeugen, ob es seine Richtigkeit damit hatte, daß der Gefangene jede Nahrung außer Brot und Wasser verschmähe. Man hielt ihm Fleisch und Wurst, Honig oder Butter, Milch oder Wein vor die Nase und amüsierte sich köstlich, wenn der Knabe vor Ekel förmlich außer sich geriet. »Ei, der Komödiant,« kreischten sie dann, »tut, als ob er unsre Leckerbissen verachte! Hat sich wahrscheinlich mal in eines großen Herrn Küche überfressen!«
Einen Hauptspaß gab’s, als einmal zwei junge Meister der Goldschlägerinnung Schnaps herbeibrachten und sich verabredeten, dem Hauser das Getränk mit Gewalt aufzunötigen. Der eine hielt ihn, der andre wollte ihm das volle Glas zwischen die Lippen schütten. Doch konnten sie ihren Plan nicht ausführen, weil ihr Opfer durch den bloßen Geruch, der aus dem Gefäß strömte, das Bewußtsein verloren hatte. Sie waren einigermaßen verdutzt und wußten mit dem Ohnmächtigen nichts anzufangen; zum Glück sahen sie ihn atmen und hatten weiter keine Furcht. »Glaubt ihm doch seine Kniffe nicht,« meinte ein stutzerhaft gekleidetes Bürschlein, das bisher gelangweilt dabeigestanden, »ich will ihn schon wieder munter kriegen.« Sprach’s, zog lächelnd die goldene Schnupftabaksdose und steckte eine volle Prise unter die Nase des vermeintlichen Simulanten, dessen Gesicht sogleich von heftigen Zuckungen bewegt wurde, worüber alle drei in Gelächter ausbrachen. Als dann der Wärter kam und sie derb zur Rede stellte, zogen sie schimpfend ab und räumten den Plan einem gravitätischen älteren Herrn, der den langsam zum Leben zurückkehrenden Caspar von vorn und von hinten beschnüffelte, den Finger an die Stirn legte, sich räusperte, den Kopf schüttelte, erst französisch, dann spanisch, dann englisch auf den Jüngling einredete, mit dem Wärter tuschelte, kurz von Wichtigkeit förmlich barst.
Caspar jedoch sah ihn immer nur an und sagte in jämmerlichem Ton: »Heimweisen.«
»Warum spielst du nicht mit dem Rößlein?« fragte, als die wichtige Person gegangen war, der Wärter. Man verständigte sich mit Caspar noch immer mehr durch Gesten als durch Worte, und er selbst las, was Worte ihm nicht mitteilen konnten, von den Augen und den Händen der Menschen ab.
Er blickte auch Hill lange an und sagte: »Heimweisen.«
»Heimweisen?« antwortete der Wärter, halb verdrießlich, halb mitleidig. »Wohin denn heim? Wo bist du denn daheim, du Unglückswurm? In dem unterirdischen Loch vielleicht? Nennst du das daheim?«
»Der Du soll kommen,« sagte Caspar klar, langsam und hell.
»Der wird sich hüten,« versetzte Hill, bärbeißig lachend.
»Der Du kommt, bald kommt,« beharrte Caspar, und er schaute mit einem Ausdruck feierlicher Inbrunst gegen den abendlichen Himmel, als sei er überzeugt, daß der Du durch die Lüfte schreiten könne. Dann erhob er sich in seiner mühevollen Weise, nahm sein Spielpferdchen und versuchte es zu tragen, denn dies allein wollte er von den Gegenständen, die er geschenkt erhalten, mitnehmen, wenn der Du käme, sonst nichts.
Hill begriff sein Vorhaben. »Nein, Caspar,« sagte er, »jetzt mußt du schon in dieser Welt bleiben. Daß sie dir nicht gefallen mag, versteh’ ich wohl. Mir gefällt sie auch nicht, aber dableiben mußt du.«