Kitabı oku: «Kaspar Hauser oder die Trägheit des Herzens», sayfa 6
Daumer besah das Büchlein mit feindseligen Augen und sagte matt: »Das ist deutlich. Was will der Mann? Was ficht ihn an?«
»Es ist ein gehässiges Pamphlet, tritt aber höchst plausibel auf,« erwiderte der Archivdirektor. »Es sind da mit Fleiß und Geschick alle Verdachtsgründe, die schon längst in mißtrauischen Gemütern spuken, gegen den Findling zusammengetragen. Der Verfasser prüft alle Angaben Caspars auf ihre Verdächtigkeit hin, auch gibt er Beispiele aus der Vergangenheit, wo ähnliche Lügenkünste, wie er sich ausdrückt, zu verspäteter Enthüllung gelangt sind. Sie, lieber Professor, und Ihre hiesigen Freunde kommen dabei nicht zum besten weg.«
»Natürlich; kann ich mir denken,« murmelte Daumer, und mit der flachen Hand auf das Buch schlagend, rief er aus: »Nicht unwahrscheinlich ein Betrüger! Da sitzt so ein mit allen Hunden gehetzter Herr in Berlin und wagt es, wagt es –! Himmelschreiend! Man sollte ihm diesen nicht unwahrscheinlichen Betrüger vorführen, man sollte ihn zwingen, dem Engelsblick standzuhalten, ach, schändlich! Der einzige Trost dabei ist, daß doch niemand das Zeug lesen wird.«
»Sie irren sich,« versetzte der Archivdirektor ruhig, »das Heft findet reißenden Absatz.«
»Nun gut, ich werde es lesen,« sagte Daumer, »ich werde damit zum Redaktor Pfisterle von der ›Morgenpost‹ gehen, der ist der richtige Mann, um dem famosen Polizeirat Widerpart zu halten.«
Der Archivdirektor maß den aufgeregten Daumer mit einem gleichgültig-schnellen Blick. »Ich möchte eine solche Maßregel nicht ohne weiters gutheißen,« bemerkte er diplomatisch; »ich glaube auch im Sinn des Herrn von Feuerbach zu sprechen, wenn ich Ihnen davon abrate. Wozu das Zeitungsgeschreibe? Was soll es nützen? Man muß handeln, in aller Vorsicht und Stille handeln, das ist es.«
»In aller Vorsicht und Stille? Was wollen Sie damit sagen?« fragte Daumer ängstlich und argwöhnisch.
Der Archivdirektor zuckte die Achseln und schaute zu Boden. Dann erhob er sich, sagte, er wolle am folgenden Nachmittag wiederkommen, um Caspar zu sehen, und reichte Daumer die Hand. Als er schon auf der Treppe war, eilte ihm Daumer nach und fragte, ob es ihn nicht störe, wenn er morgen fremde Leute hier im Hause treffe, es hätten sich einige Herrschaften zu Besuch angesagt. Der Archivdirektor verneinte.
Es gehörte zu den Charaktereigentümlichkeiten Daumers, daß er sich in einmal gefaßte Ideen bis zur offensichtlichen Schädlichkeit verrannte. Trotz der Abmahnung des besonnenen Herrn Wurm begab er sich, kaum daß er das Buch des Berliner Polizeirats gelesen hatte, was weniger denn eine Stunde Zeit brauchte, voll Erbitterung in die Redaktion der ›Morgenpost‹. Der Redaktor Pfisterle war ein hitziges Blut; wie der Geier aufs Aas stürzte er sich auf diese Gelegenheit, seine immer in Vorrat vorhandene Wut und Galle loszulassen. Er wollte Material haben, und Daumer bestellte ihn für den Mittag des folgenden Tages zu sich in die Wohnung.
Am Abend herrschte eine sonderbar schwüle Luft im Daumerschen Haus. Während des Nachtessens wurde wenig geredet, und Caspar, der von all dem, was rings um ihn vorging, nicht im mindesten etwas ahnte, war verwundert über manchen prüfenden Blick oder über das düstere Schweigen auf eine herzliche Frage. Er hatte die Gewohnheit, vor dem Schlafengehen noch ein Buch zur Hand zu nehmen und zu lesen; das tat er auch heute, und es geschah nun, daß sein Blick, als er das Buch aufgemacht, auf eine bestimmte Stelle fiel, die ihn veranlaßte, entzückt in die Hände zu schlagen und in seiner herzlichen Art zu lachen. Daumer fragte, was es gebe; Caspar deutete mit dem Finger auf das Blatt und rief: »Sehen Sie nur, Herr Professor!« Seit einiger Zeit hatte er aufgehört, Daumer zu duzen, und zwar ganz von selbst und eigentümlicherweise fast an demselben Tag, an welchem er zum ersten Male Fleisch genossen und danach krank geworden war.
Daumer blickte ins Buch. Die von Caspar aufgegriffenen Worte lauteten: »Die Sonne bringt es an den Tag.«
»Was gibt’s dabei zu staunen?« fragte Anna, die über die Schulter des Bruders gleichfalls in das Buch schaute.
»Wie schön, wie schön!« rief Caspar aus. »Die Sonne bringt es an den Tag. Das ist wunderschön.«
Die drei andern schauten einander voll seltsamer Gefühle in die Augen.
»Überhaupt ist es schön, wenn man so liest: die Sonne!« fuhr Caspar fort. »Die Sonne! Das hallt so.«
Als er gute Nacht gewünscht hatte, sagte Frau Daumer: »Man muß ihn doch lieb haben. Es wird einem ordentlich wohl, wenn man ihn in seiner artigen Geschäftigkeit beobachtet. Wie ein Tierchen webt er für sich hin, niemals langweilt er sich, nie fällt er durch Launen zur Last.«
Wie verabredet, kam Pfisterle am nächsten Tag kurz nach Tisch, blieb jedoch über Gebühr lange sitzen und verstand nicht die ungeduldigen Andeutungen Daumers, der ihn gern vor dem Eintreffen der erwarteten Gäste losgeworden wäre. Als diese um drei Uhr erschienen, saß er noch immer auf seinem Fleck und blieb auch da. Wahrscheinlich hatte es seine Neugierde gereizt, daß ihm Daumer den Namen einer der drei Personen mitgeteilt hatte; es war dies ein damals vielgelesener Schriftsteller aus dem Norden des Reichs. Die andern beiden waren eine holsteinische Baronin und ein Leipziger Professor, der auf einer Romreise begriffen war; ein Unternehmen, welches zu jener Zeit, wenigstens in Nürnberg, einem Mann den Nimbus eines kühnen Forschers verlieh.
Daumer empfing die Herrschaften sehr liebenswürdig, und nachdem er Caspar herbeigeholt hatte, zündete er trotz der frühen Stunde die Lampe an, denn der Nebel lag dicht wie graue Wolle vor den Fenstern. Der Leipziger Professor zog Caspar in eine Unterhaltung, aber er sprach mit ihm wie von Turmeshöhe herunter. Auch ließ er keinen Blick von ihm, und die gelblichen Augen hinter den kreisrunden Brillengläsern schimmerten bisweilen boshaft. Währenddem kamen noch Herr von Tucher und der Archivdirektor, ließen sich den Fremden vorstellen und nahmen auf dem Sofa Platz.
»In deinem Kerker war es also immer dunkel?« fragte der Romfahrer und strich langsam seinen Bart.
Caspar antwortete geduldig: »Dunkel, sehr dunkel.«
Der Schriftsteller lachte, worauf ihm der Professor vielsagend mit dem Kopf zunickte.
»Haben Sie den Unsinn gehört, der hier in der Stadt über seine fürstliche Abkunft geredet wird?« ließ sich jetzt die holsteinische Baronin hören, deren Stimme wie aus einem Kellerloch kam.
Der Professor nickte wieder und sagte: »In der Tat, es werden hier starke Zumutungen an die Leichtgläubigkeit des Publikums gestellt.«
Eine Zeitlang schwiegen alle, wie von einem Schuß erschreckt. Endlich entgegnete Daumer mit heiserer Stimme und mit der Höflichkeit eines schlechten Komödianten: »Was veranlaßt Sie, meine Ehre zu beschimpfen?«
»Was mich veranlaßt?« prasselte der cholerische Herr auf. »Diese Gaukelfuhr veranlaßt mich dazu. Der Umstand, daß man ein ganzes Land skrupellos mit einem albernen Märchen füttert. Muß denn der gute Deutsche immer wieder das Opfer von Abenteurern à la Cagliostro werden? Es ist eine Schmach.«
Herr von Tucher hatte sich erhoben und blickte dem Aufgeregten mit so unverhohlener Geringschätzung ins Gesicht, daß dieser plötzlich schwieg.
»Wir sind natürlich überzeugt,« mischte sich der Schriftsteller, ein klapperdürrer Herr mit kahlem Schädel, vermittelnd ein, »daß Sie, Herr Daumer, im besten Glauben handeln. Sie sind Opfer, wie wir alle.«
Jetzt konnte sich Pfisterle, den die Wut förmlich aufgeschwellt hatte, nicht länger halten. Mit geballten Fäusten sprang er vom Stuhl empor und schrie: »Ja, zum Teufel, warum sollen wir uns denn das gefallen lassen? Da kommen sie her, niemand hat sie gerufen, kommen her, um dagewesen zu sein und mitreden zu können, haben von Anfang an alles besser gewußt, und wenn sie blind wie die Maulwürfe sind, werfen sie sich noch stolz in die Brust und rufen: Wir sehen nichts, also ist nichts da. Warum soll denn das ein Unsinn sein, geehrte Dame, was man von seiner Abstammung erzählt? Warum denn, bitte? Leugnen Sie etwa, daß hinter den Mauern, wo unsre Großen wohnen, sich Dinge ereignen, die das Tageslicht zu scheuen haben? Daß dort die Verträge des Bluts für nichts geachtet und Menschenrechte mit Füßen getreten werden, wenn der Vorteil eines Einzelnen es erheischt? Soll ich mit Tatsachen dienen? Sie können es nicht leugnen. Bei uns wenigstens sind die paar Dutzend Männer noch nicht vergessen, die ihre mutige Freiheitsfahne durch das Land getragen und mit brennenden Fackeln in die Lügendämmerung der Paläste geleuchtet haben.«
»Genug, genug!« unterbrach der Professor den rabiaten Zeitungsmann. »Mäßigen Sie sich, Herr!«
»Ein Demagoge!« sagte die Baronin und stand mit erschrockenen Augen auf. Der Archivdirektor heftete einen vorwurfsvollen und kühlen Blick auf Daumer, der den Kopf gesenkt und die Lippen eigensinnig geschlossen hatte. Als er emporschaute, blieb sein Auge mit gerührtem Ausdruck auf Caspar ruhen, der frei und arglos dastand, den lächelnden klaren Blick von einem zum andern gleiten ließ, nicht als ob von ihm gesprochen würde und er daran teilhätte, sondern als ob das bewegte Spiel der Mienen und Gebärden lediglich seine Schaulust erwecke. In der Tat verstand er kaum, wovon die Rede war.
Der Leipziger Professor hatte seinen Hut ergriffen und wandte sich noch einmal, an Pfisterle vorübersprechend, gegen Daumer. »Was ist denn bewiesen von den Mutmaßungen törichter Köpfe?« fragte er gellend. »Nichts ist bewiesen. Fest steht nur, daß aus irgendeinem gottverlassenen Dorf in den fränkischen Wäldern sich ein Bauerntölpel in die Stadt verirrt, daß er nicht ordentlich sprechen kann, daß ihm alle Werke der Kultur unbekannt sind, das Neue neu, das Fremde fremd erscheint. Und darüber geraten einige kurzsichtige, sonst ganz wackere Männer außer sich und nehmen die plumpen Aufschneidereien des geriebenen Landstreichers für bare Münze. Wunderliche Verschrobenheit!«
»Ganz wie der Polizeirat Merker,« konnte sich der Archivdirektor nicht enthalten zu bemerken. Auch Pfisterle wollte dawiderreden, wurde aber durch eine energische Kopfbewegung des Herrn von Tucher zum Schweigen gebracht.
Plötzlich wurde von der Straße draußen das Rollen einer Kutsche hörbar. Direktor Wurm ging zum Fenster, und nachdem der Wagen vor dem Haus gehalten hatte, sagte er: »Der Staatsrat kommt.«
»Wie?« entgegnete Daumer rasch. »Herr von Feuerbach?«
»Ja, Herr von Feuerbach.«
In seiner Benommenheit versäumte Daumer die Pflicht des Hausherrn, und als er sich aufraffte, um den Präsidenten zu empfangen, stand dieser schon auf der Schwelle. Mit seinem Imperatorenblick überflog er die Gesichter aller Anwesenden, und als er den Archivdirektor gewahrte, sagte er lebhaft: »Gut, daß ich Sie treffe, lieber Wurm, ich habe etwas mit Ihnen zu sprechen.«
Er trug die einfache Kleidung eines Privatmannes, und außer einem kleinen Ordenskreuz neben dem Halsaufschlag des Rockes war keinerlei Schmuck an ihm zu sehen. Die außerordentlich stolze Haltung des gedrungenen, massigen Körpers und das steif Aufrechte, soldatisch Gebietende seines stets etwas zurückgeworfenen Hauptes erweckten ehrfurchtsvolle Scheu; sein Gesicht, auf den ersten Anblick dem eines verdrießlichen alten Fuhrmanns ähnlich, wurde durch die dunkelglühenden Augen, in denen die Unrast geistiger Leidenschaften lag, und durch die festgeschlossenen, kühngebogenen Lippen geadelt.
Er machte nicht den Eindruck eines Mannes, der viel Zeit hat. Trotz der Würde, die ihm sein Amt verlieh und die er nicht verringerte, hatte sein Auftreten etwas Heftiges, und in der Art, wie er die im Zimmer Versammelten begrüßte, war Förmlichkeit und Strenge enthalten. Es wirkte darum erschreckend auf alle, als ihm Caspar ungezwungen entgegentrat und ihm von selbst die Hand hinstreckte, die Feuerbach auch ergriff, ja sogar eine Zeitlang in der seinen behielt.
Caspar war es wunderlich wohl geworden, seit der Präsident eingetreten war. Er hatte oft an ihn gedacht, seit er mit ihm auf dem Gefängnisturm gesprochen hatte, und seit dem ersten Händedruck liebte er besonders die Hand des Präsidenten, eine warme, harte, trockene Hand, die sich wohlverschloß beim Gruß, als ob sie glaubwürdige Versprechungen gäbe, und die eigne Hand ruhte dabei so sicher in ihr wie der müde Körper abends im Bett.
Daumer geleitete den Präsidenten und den Direktor Wurm in sein Studierzimmer und kehrte dann zurück. Die fremden Gäste schickten sich an zu gehen, sie hatten durch die Dazwischenkunft Feuerbachs etwas von ihrer überlegenen Haltung verloren. Caspar wollte der Dame in den Mantel helfen, doch sie machte eine abwehrende Geste und folgte eilig ihren Begleitern. Herr von Tucher und Pfisterle entfernten sich ebenfalls.
Caspar nahm ein Schreibheft aus der Lade und setzte sich zur Lampe, um seine lateinische Arbeit anzufertigen, da kamen der Präsident und Direktor Wurm wieder ins Zimmer. Feuerbach ging auf Caspar zu, legte die Hand auf sein Haar, bog den Kopf des Jünglings leicht zurück, so daß der Lampenschein voll in Caspars Gesicht fiel, betrachtete seltsam lange und mit bohrender Aufmerksamkeit das seinem Blick stillhaltende Antlitz und murmelte endlich, gegen Wurm gewendet, tief atmend: »Keine Täuschung. Es sind dieselben Züge.«
Der Archivdirektor nickte stumm.
»Das und die Träume ... zwei wichtige Indizien,« sagte der Präsident mit dem gleichen Ton von Vertieftheit. Er schritt zum Fenster, die Hände auf dem Rücken, und sah eine Weile hinaus. Darauf wandte er sich zu Daumer und fragte unvermittelt, wie es mit Caspars Ernährung stehe.
Daumer erwiderte, er habe in letzter Zeit versucht, ihn an Fleischkost zu gewöhnen. »Zuerst hat er sich sehr gewehrt, auch hat es den Anschein nicht, als ob die veränderte Diät ihm sehr zuträglich sei. Es ist sogar zu befürchten, daß sie seine inneren Kräfte wesentlich vermindert. Er wird zusehends stumpfer.«
Feuerbach zog die Stirn empor und deutete gegen Caspar. Daumer verstand den Wink und forderte Caspar auf, zu den Frauen hinüberzugehen. Er wartete nicht ab, bis der Jüngling das Zimmer verlassen hatte, sondern fuhr mit beklommenem Eifer fort: »An demselben Tag, wo Caspar zum erstenmal Fleisch genoß, schnappte der Hund unsers Nachbars, der ihm bis dahin höchst zugetan war, nach ihm und bellte ihn wütend an. Das war mir eine wunderbare Lehre.«
Der Präsident entgegnete finster: »Dem mag sein, wie ihm wolle. Aber ich mißbillige die zahllosen Experimente, die Sie mit dem jungen Menschen vornehmen. Wozu das alles? Wozu magnetische und andre Kuren? Man berichtet mir, daß Sie gegen gewisse krankhafte Zustände homöopathische Heilmittel anwenden. Wozu? Das muß einen so zarten Organismus aufreiben. Die Jugend ist es, die die Krankheiten heilt.«
»Ich bin erstaunt, daß Eure Exzellenz dagegen etwas einzuwenden haben,« versetzte Daumer kalt und demütig. »Der menschliche Körper wird oft von vorübergehenden Leiden befallen, denen auf homöopathischem Weg am besten beizukommen ist. Erst vorigen Montag hat, wie ich bestimmt versichern kann, eine kleine Dosis Silizea Wunder gewirkt. Kennen Eure Exzellenz nicht den schönen, alten Spruch:
Ein kluger Arzt, der nimmt da seine Hilfe her, von wo der Schaden kömmt,
Löst Salzsucht auf durch Salz, löscht Feuer aus durch Flammen.
Ihr Kinder der Natur, ihr zieht die Kunst zusammen,
Macht weniges aus viel und wirket viel durch wenig.«
Feuerbach mußte unwillkürlich lächeln. »Mag sein, mag sein,« polterte er, »aber damit ist nichts bewiesen, und wenn auch, so trifft es die Sache nicht.«
»Meine Sache steht auch nicht darauf.«
»Um so besser. Vergessen Sie nicht, daß hier ein Recht durchzusetzen ist, das Recht eines Lebens. Ist es nötig, deutlicher zu sein? Ich glaube kaum. Gar bald, ich hoffe es, wird das Dunkel sich lüften, das über den rätselhaften Menschen gebreitet ist, und der Dank, den ich und andre Ihnen schon jetzt schulden, lieber Daumer, wird nicht durch ein Mißvergnügen geschmälert sein, das sich an Ihre vielleicht schädlichen Irrtümer heften muß.«
Das klang feierlich.
Man kanzelt mich ab wie einen Schulbuben, dachte Daumer erbittert, als der Präsident und Direktor Wurm sich verabschiedet hatten; was ist mir doch in den Kopf gefahren, daß ich die Sache des heimatlosen Findlings zu meiner eignen machen mußte? Wär’ ich nur bei meinem Leisten geblieben, in meiner Einsamkeit.
Es geht mich wenig an, was sie da über sein Schicksal fabeln, fuhr er in seinen verdrossenen Überlegungen fort; allerdings, der Ton des Präsidenten läßt auf etwas Ungewöhnliches schließen; das seltsame Gerede über Caspars Herkunft, sollte es wirklich einen Bezug haben? Gleichviel, was wäre das mir? Ob eines Bauern, ob eines Fürsten Sohn, was würde es besagen? Freilich, wenn so ein hoher Herr einem in den Weg läuft, gibt man sich als beflissenen Diener; verbriefter Adel und erlauchte Abstammung fordern nun einmal den Respekt des Bürgers. Doch ein andres ist das Leben und ein andres die Idee; ein andres, den Mächtigen zu willfahren, weil es zwecklos ist, ihnen zu trotzen, und ein andres, ihrer zu vergessen, eingeschlossen und gefeit in der goldenen Wohnung der Philosophie. Zwischeninne führt die Grenze, die den Menschen aus Staub von dem Menschen aus Geist trennt. Sollte ich in meinem Optimismus zu weit gegangen sein, wenn ich in Caspar den Menschen aus Geist sah? Noch steht es zu bezweifeln.
Ein Gedankengang, der nicht frei von ahnungsvoller Betrübnis war.
Daumer stellt die Metaphysik auf die Probe
Der Präsident blieb länger als eine Woche in der Stadt. Während dieser Zeit kam er entweder ins Daumersche Haus, um Caspar zu sprechen, oder er ließ den Jüngling zu sich in den Gasthof rufen. Feuerbach liebte nicht Zeugen seines Zusammenseins mit Caspar. Seit er an einem der ersten Tage mit ihm durch die Straßen gegangen war (wo der früh gealterte, doch mächtig anzuschauende Mann neben dem zarten, ein wenig gebückt gehenden jungen Menschen allenthalben Aufsehen erregt hatte) und an einer Ecke, an der die beiden vorüber mußten, ein Kerl wie aus der Erde gewachsen plötzlich neben ihnen hergeschlichen war, verzichtete der Präsident darauf, sich mit seinem Schützling öffentlich zu zeigen.
Seine Gespräche mit Caspar, so geschickt sie auch eine Beziehungslosigkeit bisweilen vortäuschen mochten, verfolgten natürlich einen ganz bestimmten Zweck. Caspar, der davon wenig merkte, teilte sich seinem hohen Gönner ohne Befangenheit mit, und durch sein unschuldiges Geplauder wurde Feuerbachs Herz oft sonderbar bewegt, so daß er, dem Wort und Sprache in Fülle gegeben waren, sich nicht selten zum Schweigen verurteilt fand. Ja, er verlor an Sicherheit; »Caspars Blick gleicht dem Glanz eines morgendlich reinen Himmels, bevor die Sonne aufgeht,« schrieb er an eine altvertraute Freundin, »und manchmal ist mir unter diesem Blick zumute, als hielte der rasend dahinstürmende Schicksalswagen zum ersten Male still; die ganze Vergangenheit steht auf, erlittene Willkür und der Trug des Rechts, die Kränkungen des Neides und manche Tat, deren Früchte faul und ekel am Wege liegen. Dazu kommt, daß ich in betreff seiner unbekannten Herkunft auf einer Spur bin, die mich, ich fürchte sehr, an den Rand eines verderblichen Abgrunds führt, wo es gilt, sich den Göttern zu vertrauen, denn Menschen werden dort keinem Gesetz mehr untertan sein.«
Am letzten Tag der Anwesenheit Feuerbachs schickte sich Caspar eine Stunde vor Abend zum Ausgehen an, da der Präsident ihn zu sich bestellt hatte. Er trat ins Wohnzimmer, um zu sagen, daß er gehe, und fand Anna Daumer allein. Sie saß am Fenster und las gerade das Büchlein des Polizeirats Merker. Kaum daß Caspar die Tür geöffnet, versteckte sie das Heft rasch und erschreckt unter der Schürze. »Was lesen Sie denn da und warum verbergen Sie es denn?« fragte Caspar lächelnd.
Anna errötete und stotterte etwas. Darauf schaute sie mit feuchten Augen empor und sagte: »Ach, Caspar, die Menschen sind doch gar zu schlecht.«
Er entgegnete nichts, sondern lächelte noch immer. Das erschien Anna auffallend, aber Caspar dachte sich weiter gar nichts dabei. Es war eine seiner Seltsamkeiten, daß er sich nie entschließen konnte, eine Frauensperson ganz ernst zu nehmen; Frauenzimmer können nichts als dasitzen und ein wenig nähen oder stricken, pflegte er zu sagen; sie essen und trinken unaufhörlich und alles durcheinander und deswegen sind sie immer krank; auf andre Weiber schmähen sie und wenn sie dann mit ihnen beisammen sind, tun sie schön und lieb. Als er einmal in solcher Weise redete, beklagte sich Frau Daumer, doch er antwortete ihr: »Sie sind kein Frauenzimmer, Sie sind eine Mutter.« Auch ereignete es sich einst, daß er bei einem Paradezug von Seiltänzern einem zu Pferd sitzenden Mädchen, dessen bunter Putz und Reitkunst seine Aufmerksamkeit erweckt hatte, ein paar Straßen weit folgte; darüber ärgerte er sich nachher gewaltig, und er meinte, nun sei ihm doch auch einmal geschehen, was bei andern, wie er höre, zuweilen der Fall sei, er sei einem Weibe nachgelaufen.
Er sagte, daß er zum Nachtessen wieder zu Hause sein werde, aber Anna erwiderte, das sei wohl zu spät, ihr Bruder habe davon gesprochen, daß er den Abend mit Caspar bei der Magistratsrätin Behold verbringen wollte; die Rätin habe schon einige Male darum gebeten, sie sei eine einflußreiche Person, und wenn Daumer sich nicht eine Feindin an ihr machen wolle, müsse er der Einladung folgen.
»Der Herr Präsident geht vor,« sagte Caspar verdrossen und ging.
Es war mildes Wetter, der Schnee war längst verschwunden, weiße Wolken zogen über die spitzgiebligen Dächer hin. Als Caspar in das Zimmer trat, das der Präsident bewohnte, saß dieser am Schreibtisch und blickte mit zurückgelehntem Körper düster sinnend ins Leere. Erst nach einer Weile wandte er sich zu Caspar und redete ihn, aus seinem dunkeln Nachdenken heraus, ohne Begrüßung an. »Ich kehre morgen nach Ansbach zurück, Caspar, wie Sie ja wissen,« begann er und verdeckte die Augen mit der Hand; »Sie werden mich einige Wochen, ja vielleicht monatelang nicht sehen. Ich möchte hie und da von Ihnen Nachricht haben, von Ihnen selbst, will Sie aber nicht auffordern, mir regelmäßig zu schreiben, damit Ihnen nicht eine ungern erfüllte Pflicht daraus erwachse. Nun dachte ich mir, Ihnen eine Gelegenheit zur Mitteilung zu geben, bei der Sie mehr auf sich selbst als an andre gewiesen sind. Sie sollen nicht zur Rechenschaft befohlen sein, aber was Sie einem Freund oder sagen wir Ihrer Mutter vertrauen würden, das sollen Sie hier bewahren.«
Damit reichte er Caspar ein in blauen Pappendeckel gebundenes Schreibheft. Caspar ergriff es mechanisch und las auf einem weißen herzförmigen Schildchen: Tagebuch – Stundenbuch für Caspar Hauser. Er schlug es auf und gewahrte, auf der ersten Seite eingeklebt, das Bild Feuerbachs und darunter, von der Hand des Präsidenten geschrieben, die Worte: Wer die Stunde liebt, der liebt Gott; der Lasterhafte entflieht sich selbst.
Caspar schaute den Präsidenten mit großen Augen ängstlich an. Er wiederholte für sich im stillen, mit sichtbarer Bewegung der Lippen, die geschriebenen Worte und dann, was der Präsident zu ihm gesagt; alles verfloß im Nebel und, des feierlichen Tones halber, in eine Ahnung von Gefahr.
Es pochte an der Tür und auf das Herein des Präsidenten brachte ein Eilbote einen Brief. Kaum hatte Feuerbach, ohne das Schreiben zu öffnen, einen Blick auf das Siegel geworfen, als er die Handglocke läutete und dem eintretenden Diener den Befehl gab, es solle sogleich angespannt werden. »Ich muß noch diesen Abend reisen,« sagte er zu Caspar.
In unbestimmtem Lauschen und Warten blieb Caspar stehen. Der Postillon im Hof knallte mit der Peitsche. Ein Hauch der Ferne umwehte Caspar, er spürte plötzlich etwas von der Größe der Welt, und die Wolken am Himmel schienen Arme herunterzustrecken, um ihn emporzuheben. Als ihm der Präsident die Hand zum Abschied reichte, bat er schmeichelnd, mit verlangendem Lächeln: »Möcht’ auch mitfahren.«
»Wie, Caspar!« rief der Präsident in gespielter Überraschung, und plötzlich wieder das frühere Du der Anrede wählend, »willst du denn fort von den Nürnbergern? Hast du denn vergessen, was du deinem gütigen Pflegevater schuldig bist? Was würde Herr Daumer sagen, wenn du ihn so undankbar verließest? und viele andre wackere Männer, die sich deiner angenommen haben? Es erstaunt mich, Caspar. Bist du denn nicht gern hier?«
Caspar schwieg und senkte die Augen. Hier ist immer dasselbe, dachte er. Er sehnte sich fort; er dachte, einmal könne man fortgehen, man könnte in der Nacht das Tor öffnen und könnte gehen, ohne den Weg zu wissen. Vielleicht käme dann einer, um zu fragen: wohin, Caspar? Und er führte ihn zu einem Schloß, vor dem viel Volks versammelt ist; drinnen ruft eine Stimme Caspars Namen, die Leute machen Platz und viele Arme deuten auf das Tor, dem er zuschreitet.
»Sprich!« mahnte der Präsident barsch.
»Sie sind alle gut mit mir,« flüsterte Caspar mit zuckenden Lippen.
»Nun also!«
»Es ist nur –«
»Was? Was ist –? Heraus mit der Sprache!«
Caspar schlug langsam die Augen auf, machte mit dem Arm eine weite Geste, als wolle er den ganzen Erdkreis in das Wort einbeziehen und sagte: »Die Mutter.«
Feuerbach wandte sich weg, ging zum Fenster und blieb schweigend stehen.
Eine Viertelstunde später schritt Caspar durch die engen Gassen beim Rathaus und kam alsbald auf den menschenverlassenen Egydienplatz. Es war schon dunkel geworden, vor der Kirche brannte eine Öllaterne, und während er nach links abbog, wo das niedere Buschwerk einer Gartenanlage den Platz gegen die Laufergasse schloß, gewahrte er einen ruhig stehenden Mann, der gebeugten Kopfes nach ihm hersah. Caspar ging ein wenig langsamer, plötzlich sah er, daß der Mann den Arm erhob und mit dem Finger winkte.
Caspars Herz klopfte laut. Irgend etwas zwang ihn, der stummen Aufforderung des Unbekannten zu folgen. Der Mann fuhr fort, mit dem Finger zu winken, und wie hingezogen tat Caspar ein paar Schritte auf ihn zu. Da ging der Mann tiefer in das Gehölz, hörte aber nicht auf zu winken. Caspar konnte sein Gesicht nicht sehen, das unter dem weit in die Stirn gedrückten Hut versteckt war.
Er folgte dem Menschen, obwohl alle Fibern seines Leibes widerstrebten, mit Grauen fühlte er sich Schritt um Schritt gezogen, seine Augen waren aufgerissen, Staunen und Schrecken lagen in seinem Gesicht, und die Hände hielt er mit gespreizten Fingern von sich gestreckt.
Schon war er dem Unbekannten so nahe, daß er dessen gelbe Zähne zwischen den Lippen schimmern sah, und wer weiß, was geschehen wäre, wenn sich nicht in diesem Augenblick auf der andern Seite des Gebüsches ein Trupp betrunkener junger Leute hätte hören lassen; der fremde Mann stieß einen gurrenden Laut aus, bückte sich rasch und war unter dem Schutz des Laubwerks im Nu verschwunden.
Auch Caspar kehrte um und rannte gegen die Kirche; er lief geradeswegs mitten in die Schar der Lärmmacher hinein, die ihn aufzuhalten suchten, und so vermischte sich ein Schrecken mit dem andern. Nur mit Mühe riß er sich los, einige folgten ihm schreiend, er verdoppelte seine Eile, der Hut fiel ihm vom Kopf, er ließ ihn liegen, rannte, so schnell er konnte, durch die Judengasse und weiter und ging erst wieder langsamer, als er sich auf der Brücke zur Insel Schütt befand.
Daumer war schon unruhig geworden und wartete vor dem Haustor. Betroffen hörte er Caspars hastigen und unklaren Bericht an, und nach einiger Überlegung meinte er, er glaube nicht recht an das Abenteuer; »da hat dir wohl deine allweil erregte Phantasie einen törichten Streich gespielt,« sagte er ungewöhnlich streng. »Nein, es ist wirklich wahr,« beteuerte Caspar. Dann klagte er, daß er den Hut verloren habe, und schließlich zeigte er, auf einmal ganz heiter geworden, das Heft, das ihm der Präsident geschenkt und das er während der ganzen Zeit krampfhaft in der Hand festgehalten hatte.
Zerstreut besah es Daumer. »Hat dir Anna nicht gesagt, daß wir zur Magistratsrätin gehen?« fragte er mißgelaunt. »Es ist höchste Zeit; mach flink und zieh dir den Sonntagsrock an.«
Caspar schaute ihn mit schrägem Blick von unten an und ging zögernd ins Haus. Daumer, der schon im Gesellschaftskleid war, wandelte zweimal bis zum Pegnitzufer und wieder zurück; eine halbe Stunde verfloß und Caspars langes Ausbleiben machte ihn endlich ungeduldig. Er eilte die Stiege hinan und betrat Caspars Zimmer, wo eine Kerze brannte. Zu seinem Ärger nahm er wahr, daß Caspar angekleidet auf dem Bette lag und schlief. Er rüttelte ihn an der Schulter, ließ aber plötzlich ab, durchmaß ein paarmal das Zimmer, ohne seines Mißmuts Herr zu werden, dann stieß er zornig hervor: »Ach was, soll die Neugier der guten Leute um ihren Schmaus betrogen werden!«
Durch den finstern Flur schritt er ins Gemach der Schwester, die vor dem Klavier saß und spielte. Er legte ihr den Fall vor und Anna gab ihm ohne weiteres recht, daß er Caspar zu Hause lasse. »Dann muß jemand zur Rätin und unser Ausbleiben entschuldigen,« sagte Daumer in einem Ton, als ob das Versäumnis sonst schlecht ausgelegt werden könne und er Unannehmlichkeiten zu befürchten habe. Anna erwiderte, die Magd sei nicht da, und nach einigem Besinnen erklärte sie sich bereit, den Gang selbst zu tun.
Als sie fort war, setzte sich Daumer zu den Büchern, rückte die Lampe zurecht und las. Doch er hatte ein schlechtes Gewissen und fuhr bei jedem Laut zusammen. Nach einer geraumen Weile hörte er Schritte; Anna trat hinter seinen Stuhl und sagte hastig, die Magistratsrätin sei mitgekommen, um Caspar zu holen. Daumer sprang auf; »das heiße ich den Spaß zu weit getrieben,« murmelte er entrüstet. Anna legte ihm die Hand auf den Mund, denn schon stand die Rätin in der Türe; reich geschmückt, im Seidenmantel, ein kostbares Spitzentuch um den Kopf.