Kitabı oku: «Watch Dogs: Legion – Tag Null», sayfa 3

Yazı tipi:

3: TOWER HAMLETS SOUTH

Als Olly Limehouse und die Werkstatt erreichte, war es ihm gelungen, sich einigermaßen zu beruhigen. Er hatte einen Zwischenstopp eingelegt, um seinen blutbefleckten Hoodie auszuziehen und ihn in einen Müllcontainer zu werfen. Jetzt trug er nur noch ein T-Shirt, doch das war um einiges sauberer. Er hatte den Hoodie ohnehin von der Heilsarmee, also war es kein großer Verlust. Die DNA-Spuren daran machten ihm etwas Sorgen, doch wenn er sich klug anstellte, gab es Möglichkeiten, das zu umgehen.

Er checkte seinen Newsfeed nach Updates über den Anschlag – denn er war sicher, dass es genau das gewesen war. Selbst wenn er nicht gesehen hatte, woher der Schuss gekommen war. Widersprüchliche Berichte tanzten über sein Display. Immer wieder wurde eine Videoaufnahme des Moments abgespielt und war unmöglich zu ignorieren.

Er dachte an den Gesichtsausdruck des Toten. Dieser plötzliche Stillstand – wie ein verlöschendes Licht, aber nicht ganz. Ein kurzer Moment entsetzlicher Erkenntnis, gefolgt von einer Schlaffheit, als alles in der menschlichen Maschine zum Erliegen kam. Noch nie zuvor hatte er jemanden sterben sehen. Und er war sicher, dass er es auch niemals wieder sehen wollte.

Die Werkstatt war verrammelt und dunkel. Schmiedeeiserne Fensterrahmen, die inzwischen mit Brettern vernagelt waren, starrten blind auf die Straße. Laderampen auf der gegenüberliegenden Seite öffneten sich in Richtung des Limehouse Cut, auch wenn er sich nicht erinnern konnte, dass irgendjemand sie je geöffnet hatte.

Das Gebäude war nicht immer eine Werkstatt gewesen. Ollys Feed füllte sich mit Lokalkolorit, als er sich näherte. Früher hatte es sich erst um den Laden eines Segelmachers, dann um einen Kerzengießer gehandelt – was auch immer das war –, bevor es als Lager und schließlich als Werkstatt gedient hatte.

Die Werkstatt hatte leer gestanden, solange Olly denken konnte, auch wenn ein Schild sie immer noch als TÜV-Zentrum auswies. Vor dem Eingang befand sich ein mit Ölflecken und Unkraut übersäter Parkplatz und der Eisenzaun war zugepflastert mit Schildern, die eine niedrige Miete versprachen, wenn man den Immobilienmakler kontaktierte.

Doch Olly wusste, dass das zuständige Maklerbüro ebenfalls pleitegegangen war. Und es war nicht das einzige. Der Immobilienmarkt war vor ein paar Jahren zusammengebrochen und hatte sich nie wieder ganz erholt. Doch selbst so schnüffelte alle paar Monate jemand von irgendeiner Firma herum, in der Hoffnung, alles abzureißen und Luxusapartments zu bauen, so wie sie es mit den umliegenden verfallenen Läden und Wohngebäuden getan hatten. Doch sie schlichen immer enttäuscht davon. Dafür sorgte DedSec.

Er schlüpfte durch ein Loch im Zaun und zerrte sein Rad hinter sich her. Das Grundstück war übersät mit nicht mehr identifizierbaren verrosteten Metallteilen. Es sah aus wie Trümmer einer verlorenen Schlacht. Einige waren mit Bewegungssensoren versehen, die einen stummen Alarm an jedes DedSec-Mitglied in der Gegend schickten. Überwachungskameras nahmen ab jetzt jeden seiner Schritte auf. Nicht dass es in seinem Fall viel zu sehen gegeben hätte.

Hoch über ihm summten Drohnen durch die Luft, doch im Dach der Werkstatt war ein Sender versteckt, der alle drei Sekunden ein Störsignal an jedes fremde Aufnahmegerät in Reichweite sendete. Dadurch wurde die Werkstatt – und jeder, der raus- oder reinging – so gut wie unsichtbar.

Falls ihn jemand von der anderen Straßenseite beobachtete, spielte das natürlich keine Rolle. Doch Olly bekam keine Pings von anderen Optiks, also war er sich ziemlich sicher, dass er nicht verfolgt wurde. Das bedeutete aber nicht, dass er länger draußen bleiben wollte als unbedingt nötig.

Das Rolltor war immer verschlossen, außer jemand musste schnell ein Auto verstecken. Er schob sein Rad zum Seiteneingang, winkte in die verborgene Sicherheitskamera und hielt sein Optik gegen das Schloss. Ein verborgener Sensor piepte und öffnete die Tür. Sobald Olly drin war, zog er sie hinter sich zu. Das Schloss und das damit verbundene Sicherheitssystem aktivierten sich wieder. Wenn man nicht die richtige Software auf seinem Optik installiert hatte, ging der Alarm los und ein verstärktes Sicherheitsgitter wurde hinter der schlichten alten Holztür heruntergelassen.

Wenn jemand entschlossen war hineinzukommen, würde es ihn nicht lange abhalten können. Doch es verschaffte jedem, der drinnen war, ein paar zusätzliche Minuten, um zu entkommen. Das fasste DedSecs Standardvorgehensweise ziemlich gut zusammen: beobachte, störe, verzögere – und lauf weg, um an einem anderen Tag weiterzukämpfen.

Olly war nie ein großer Freund von Weglaufen gewesen. Selbst als Kind hatte er versucht, sich gegen die größeren Jungs zu behaupten. Es hatte nie gut funktioniert, aber das nächste Mal hatte er es einfach nur noch härter versucht. Er hatte viel Prügel kassiert, doch er hatte gelernt, sie wegzustecken. Und wie man zurückschlug, ohne erwischt zu werden.

Genau darum war es bei der Sache mit den Auffüllrobotern gegangen – zurückzuschlagen. Oder zumindest hatte er sich das eingeredet. Das war doch eine alte britische Tradition, oder? Von den Reichen stehlen und so. Ein richtiger Robin Hood war er. Nur dass er statt Pfeil und Bogen ein geklontes Optik und eine Hacker-App benutzt hatte. Er war gleichzeitig stolz auf sich gewesen und hatte sich vor Angst in die Hose gemacht. Er hatte darauf gewartet, dass die Bullen an seiner Tür klopfen. Doch es waren nicht die Bullen gewesen.

DedSec hatte ihn kontaktiert und Olly hatte sich ihnen ohne langes Zögern angeschlossen. Er hätte sich gern eingeredet, dass er sie beeindruckt hatte, wusste aber, dass sie jeden rekrutierten, der die notwendigen Fähigkeiten besaß. DedSec war nicht das einzige Hacktivist-Kollektiv in London, aber das am besten organisierte. Zumindest behaupteten sie das. Manchmal kam es Olly allerdings so vor, als sei das Gegenteil der Fall. Ständig wechselten die Ansprechpartner und manchmal widersprachen sich ihre Anweisungen. Und es gab niemanden, bei dem man sich hätte beschweren können, selbst wenn er den Mut dazu aufgebracht hätte.

Versager hatten sich nicht zu beschweren und Olly war einer. Er hatte es zweimal verbockt – ein drittes Mal und er wäre raus. Vielleicht würde er auch im Pentonville-Gefängnis landen, wenn seine Kontaktleute besonders rachsüchtig waren. Das erste Mal war ein aufrichtiger Fehler gewesen – er hatte ein Paket der falschen Person gegeben. Beim zweiten Mal hätte er fast dafür gesorgt, dass er selbst und ein paar andere verhaftet worden wären.

Olly legte die Hand auf seine Jacke und spürte den Umschlag. Diesmal hatte er es nicht verbockt. Obwohl das Universum sein Bestes getan hatte. Er atmete tief durch. Es roch nach Staub und Schimmel. Das Innere des Gebäudes war genauso heruntergekommen wie die Fassade. Das Dach bestand hauptsächlich aus Glas in einem Metallrahmen, der von Rost und Vogelscheiße aufgefressen wurde.

Metallstege verliefen unter der Decke an den Wänden entlang, doch vom Erdgeschoss aus konnte man sie praktisch nicht erreichen. Schwere Winden und Ladehaken hingen von einer Schiene unter dem Dach. Verrostete Generatoren und andere Teile obsoleter industrieller Ausrüstung lagen entlang der Wände. Im Mauerwerk in der Ecke, die dem Fluss und den Verladedocks am nächsten war, breitete sich Schimmel aus. Überall im kaputten Boden bildeten sich bei Regen kleine Pfützen, die nach Fluss rochen.

Olly sah sich um und fragte sich, ob es das war, was die Leute mit »Verfall der Städte« meinten. Er verstaute sein Rad in einem verborgenen Ständer hinter einem kaputten Stück Wand. Es waren bereits zwei andere dort, beide besser als seines. Es war also jemand zu Hause.

Er ging in ein ehemaliges Büro. Vergessene Aktenschränke, überzogen von schwarzem Schimmel und Rostflecken, standen wie einsame Wächter in den Ecken und ein schäbiger Schreibtisch nahm die Mitte des Raums ein. Über dem Schreibtisch hing eine kaputte Deckenlampe und darin befand sich ein versteckter Fiberoptiksensor. Feuchtraumgeeignet, wie jedes elektronische Teil in diesem Gebäude. Das musste es auch sein, denn sonst würde es alle paar Tage durchschmoren.

Er rief eine weitere App auf seinem Optik auf und bewegte es über seinem Kopf. Ein kleines grünes Aufblicken sagte ihm, dass sie die Schlösser nicht ausgetauscht hatten. Ein dumpfes Klicken ertönte, dann spürte er, wie sich der Boden unter seinen Füßen bewegte. Er kniete sich hin und tastete auf den schimmligen Teppichfliesen herum. Als er die Zugangsklappe gefunden hatte, zog er mit aller Kraft daran und rutschte zurück, als sich die versteckte Luke langsam an ihren pneumatischen Scharnieren öffnete.

Die Luke war gerade groß genug für eine Person. Metallstufen führten in einen schwach beleuchteten Raum unter der Werkstatt. Das Gebäude hatte eine Art Keller gehabt, als DedSec die Immobilie gekauft hatte. Jetzt war es kein Keller mehr, sondern ein Versteck für Unruhestifter.

Vorsichtig ging er die Stufen hinunter und die LED-Beleuchtung war gerade hell genug, um den nächsten Schritt erkennen zu können. Während er hinabstieg, versiegelte sich die Luke zischend wieder. Am unteren Ende der Treppe befand sich eine Stahltür mit Tastenfeld und schnell gab er den aktuellen Code ein. Jede Woche gab es einen neuen, manchmal sogar täglich, je nachdem.

Er schloss die Tür hinter sich und sah sich um. Der Keller machte nicht viel her, aber er war ein Zuhause. Olly hatte eine Wohnung, aber dort war er nicht oft. Sie war zu deprimierend. Hier war es nicht viel besser, aber zumindest funktionierte die Herdplatte und es war was los.

Der Keller war über die Jahre immer weiter verstärkt und ausgebaut worden und hatte sich von einem einzigen Raum in einen Kaninchenbau aus gemauerten Tunneln und kleinen Räumen verwandelt. Irgendwo gab es sogar einen Zugang zum Fluss, auch wenn Olly ihn nie gesehen hatte.

Feldbetten und Sofas standen herum, wo der Platz nicht von einem improvisierten Durcheinander aus Computerbildschirmen und -ausrüstung eingenommen wurde. Stromkabel liefen über den Boden wie Lianen und hingen in Bündeln von Wänden und Decke, um sich über die Gänge in das halbe Dutzend kleinerer Räume zu verteilen. Die meisten dieser Räume waren nur Schlafgelegenheiten, aber einer war die Dusche und ein anderer die Waffenkammer mit ihren summenden 3-D-Druckern und Regalen voll vorgedruckter hülsenloser Munition.

Auf einigen Fernsehern liefen Nachrichtensender ohne Ton und im Hintergrund spielte leise Musik. Die Luft roch feucht und elektrisch und ließ Ollys Haut kribbeln.

Bagleys Stimme ertönte aus seinem Optik. Willkommen zurück. Trautes Heim, Glück allein. Jetzt bist du in Sicherheit.

Olly sah sich um. Es waren ein paar andere hier, aber niemand, den er kannte. Alles in allem waren sie kein freundlicher Haufen. Hacker und andere zwielichtige Typen, den Blick fest auf ihre Bildschirme gerichtet, die Finger mit der Tastatur verwachsen. Sie kämpften von ihren Sofas aus für die gute Sache.

Ein paar waren wie Olly – Witzbolde und Möchtegernvolkshelden, die falsch abgebogen waren. Andere hatten Kryptowährungskonten geplündert oder jahrelang Sozialhilfe abgegriffen, bevor auch nur die Spur einer Idee des Widerstands aufgekeimt war. Und dann gab es noch die ganz üblen Typen.

Von ihnen gab es jeden Tag mehr. Männer mit Knasttattoos und Narben auf den Fingerknöcheln. Frauen, die Knarren in ihren Handtaschen mit sich herumtrugen. Diese eine alte Schachtel, die einen mit einem Kugelschreiber und etwas Handdesinfektion durch einen Notluftröhrenschnitt leiten konnte. Nicht die Art von Leuten, mit denen sich Olly normalerweise umgab.

Die meisten Newsfeeds konzentrierten sich auf die TOAN-Konferenz. Aber einer zeigte eine vertraute Szene – eine wacklige Amateuraufnahme von der Schießerei in Lister House. Und da war Olly, der mit Blut an den Händen aufstand und wegrannte.

Sie haben dein Gesicht nicht. Deine Fingerabdrücke und DNA sind natürlich eine andere Sache.

»Das beruhigt mich nicht besonders«, sagte Olly. »Wo ist Krish? Ich muss das hier abgeben und mir dann ein Versteck suchen.«

»Da hast du verdammt recht«, erklang eine vertraute Stimme. Olly drehte sich um. Krish marschierte mit einem unzufriedenen Gesichtsausdruck auf ihn zu. Es war in gewisser Weise ein Trost. Krish sah immer so aus. Er war groß und schlaksig und zog sich an, als hätte er sich von einem illegalen Rave hierher verirrt und wäre darüber nicht besonders glücklich. »Wo zum Teufel warst du, Alter? Ich hab dich vor zehn Minuten erwartet. Ich dachte, du wärst erwischt worden. Da ist überall Polizei. Wir sind im Lockdown.«

»Wo zum Teufel ich war? Hast du mal die Nachrichten gesehen?«, blaffte Olly. Er warf Krish den Umschlag zu und deutete auf die Fernseher. Die anderen drehten jetzt ihre Köpfe und hörten zu. Ein guter Ausraster war besser als jede Konservenunterhaltung.

»Natürlich. So ein Typ wurde erschossen, drüben in …« Krish sprach nicht weiter, sondern musterte Olly. »Ist das Blut auf deinen Schuhen?«

»Ist nicht meins«, antwortete Olly.

»Was ist passiert?«, wollte Krish wissen. »Was hast du getan?«

»Das würde ich auch gern wissen.« Er kannte die Stimme nicht – es war eine Frau und sie stand hinter ihm. Bevor er sich umdrehen konnte, folgte ein unverwechselbares Geräusch – das Klicken einer Pistole, die entsichert wurde.

Sarah Lincoln berührte die Pop-up-Benachrichtigung und rief eine Nachrichtenstory auf. Sie hatte ihr Optik so eingestellt, dass es sie einmal täglich über die Erwähnungen ihres Namens auf dem Laufenden hielt. Sie überflog den nachmittäglichen Newsfeed mit einer Mischung aus Zufriedenheit und Verärgerung. Wie sie gehofft hatte, wurde sie stets als Erste genannt, obwohl sie eigentlich nur unbeteiligte Zuschauerin gewesen war – aber niemand erwähnte ihre Konfrontation mit Albion. Sie kaute auf ihrer Unterlippe herum und klickte die Benachrichtigung weg. Verärgert lehnte sie sich zurück und sah aus dem Fenster.

Whitechapel gehörte momentan zu ihrem Zuständigkeitsbereich. Tower Hamlets war im vergangenen Jahrzehnt immer wieder neu aufgeteilt und die Wahlbezirke in zwanzig Jahren zweimal umbenannt worden. Der Bezirk hatte früher zu Tower Hamlets North gehört und seine Neuzuteilung war immer noch ein wunder Punkt. Sie lächelte. Dazu war er auch noch so etwas wie ein zweischneidiges Schwert.

Whitechapel war nicht weit von Londons Zentrum entfernt, dennoch galt es als eine der ärmsten Gegenden der Stadt. Selbst die geplante Wiederbelebung des Bahnhofs von Whitechapel war durch ungeschickte Sparmaßnahmen zum Erliegen gekommen.

So arm Whitechapel auch war, handelte es sich dennoch um das administrative Herz von Tower Hamlets. Alles ging durch den Bezirk und Sarah hatte sich dementsprechend Büros mit Ausblick auf das Grundstück des ehemalige Royal London Hospital eingerichtet.

Das Grundstück war für ein Rathaus vorgesehen gewesen, doch genau wie beim Bahnhof war der Bau vor ein paar Jahren zum Erliegen gekommen, als die Wirtschaft den sprichwörtlichen Bach runtergegangen war. Jetzt handelte es sich nur noch um einen Schandfleck. Das verwaiste Gerüst und die verblichenen Bauschilder erinnerten sie daran, dass Dinge, die im einen Moment noch wie eine sichere Sache wirkten, im nächsten als Fehler angesehen werden konnten.

Eine Lektion, die jeder Politiker lernen musste, wenn er an der Macht bleiben wollte. Und Sarah Lincoln wollte unbedingt und mit allen Mitteln an der Macht bleiben. Selbst wenn das bedeutete, dem Druck nachzugeben und den Albion-Deal mitzutragen.

Ihr Blick fiel auf den Stapel frisch gedruckter Zeitungen auf ihrem Schreibtisch. Sie bevorzugte ihre Nachrichten, wenn möglich, in Papierform. So waren sie leichter zu lesen und leichter zu entsorgen. Sie lehnte sich vor und begann, die Seiten zu überfliegen. Während sie las, machte sie sich am Rand Notizen, um sich an die Fragen zu erinnern, die sie später stellen musste.

Es gab bei jeder Transaktion Sand im Getriebe, ganz egal wie reibungslos der Deal wirkte. Und die Sache mit Albion hatte mehr Sand als üblich. Sie hatte sich genau zweimal mit Nigel Cass, dem derzeitigen Kopf von Albion und Sohn des Gründers, getroffen. Er war ihr immer wie ein Schläger vorgekommen, der den Gentleman spielte. Ein Söldner, der sich einen Krieg kaufen wollte.

Sie kannte sich mit Krieg aus, auch wenn sie selbst nie einen erlebt hatte. Ihre Eltern hatten zu einer christlichen Minderheit in Somalia gehört und waren während des Bürgerkriegs nach London geflohen, um der Verfolgung zu entgehen und neu anzufangen. Hier hatten sie eine andere Art Konflikt vorgefunden – nicht so brutal vielleicht, aber genauso gefährlich.

Glücklicherweise hatten die beiden ein wenig Geld gehabt und ihr Vater hatte noch mehr verdient. Er hatte hart gearbeitet und das auch seiner Tochter beigebracht. Ihre Mutter hatte sie andere Dinge gelehrt. Wie man richtig saß, atmete, interessiert wirkte. Ihr Vater hatte Sarah ihre Arbeitsmoral mitgegeben und ihre Mutter die Fähigkeiten, die sie brauchte, um sie am gewinnbringendsten einzusetzen.

Manchmal sah sie aus dem Fenster und dachte an das, was ihre Eltern über den Bürgerkrieg erzählt hatten. Wie schnell alles auseinandergefallen war. Wenn die Dinge aus dem Ruder liefen, musste man schnell handeln, um nicht vom Chaos überwältigt zu werden. Resignation tötete so sicher wie eine Kugel. Sie hatte nicht vor, sich mit dem gegenwärtigen Stand der Dinge abzufinden.

Sie machte sich eine Notiz, ihr Gesuch um eine Besichtigung der vorläufigen Albion-Zentrale in Limehouse Basin zu erneuern. Sie hatte dieses Gesuch seit ihrem letzten Treffen mit Cass schon dreimal gestellt und war jedes Mal geflissentlich ignoriert worden. Sie tippte mit ihrem Kugelschreiber auf die Zeitungen und dachte nach. Sie aktivierte ihr Optik. »Hannah?«

Ihre Assistentin steckte ihren Kopf durch die Tür. Sarah sah auf. »Wissen wir schon, warum unsere paramilitärischen Freunde am Tatort herumgeschnüffelt haben?«

»Noch nicht. In letzter Zeit geben sich alle wahnsinnig zugeknöpft.«

»Hmm. Wahrscheinlich haben sie Angst, den Deal zu versauen.« Sarah lehnte sich noch weiter zurück und musterte die alten Wasserflecken an der Decke. Wenn Albion nervös wurde, umso besser. Cass wollte diesen Deal unbedingt abschließen. Und verzweifelte Männer waren oft offen für Kompromisse. »Schicken Sie noch ein Gesuch um eine Besichtigung ihrer Einrichtung. Betonen Sie, dass die Presse ausgeschlossen wird.« Sie hielt inne. »Hat Winston schon angerufen?«

»Zweimal in der letzten Stunde.«

Sarah lächelte. »Gut. Wenn er noch mal anruft, sagen Sie ihm, dass er uns in einem netten Lokal einen Tisch reservieren soll – aber hier in der Nähe. Am besten auf neutralem Boden.«

Hannah runzelte die Stirn. »Sie wollen mit ihm Mittag essen? In der Öffentlichkeit?«

»Ich muss seine Stimmung einschätzen. Ich will sehen, ob er mein Gesuch um eine Besichtigung unterstützt. Ich weiß, dass es ihn selbst in den Fingern juckt, sich das anzusehen. Wenn wir uns zusammenschließen, kommen wir vielleicht endlich weiter.« Sarah balancierte den Kugelschreiber auf ihrem Zeigefinger, bevor sie ihn in die Luft warf und wieder auffing. »Und machen Sie einen Termin im Revier von Bethnal Green. Ich will meine Zeugenaussage persönlich machen und herausfinden, wie die Ermittlungen laufen.«

»Darf ich fragen, warum?«

Sarah legte den Stift hin und drehte sich wieder zum Fenster um. »Nennen Sie es Neugier.«

4: REDQUEEN

Liz Burton sah den Mann, der sich Alex Dempsey nannte, zum dritten Mal in ebenso viel Minuten sterben. Er wirbelte herum und ging zu Boden, während auf seiner Brust ein roter Krater aufriss. Herumwirbeln und fallen, herumwirbeln und fallen. Immer wieder. Jedes Mal, wenn er auf dem Boden aufschlug, spielte sie die Szene erneut ab und hoffte, betete, dass sie diesmal anders ablief. Dass er diesmal nicht fallen würde.

Der Tag hatte gut begonnen. Es lief alles wie geschmiert. Sie hatte viele neue Eisen im Feuer. Die gesammelten Daten über ein halbes Dutzend potenzieller Rekruten liefen in einer endlosen Kette von Banalitäten über ihr Display. Ein entrechteter Anarcho-Sozialist mit radikalen Ansichten und einem Einstellungsproblem. Ein traurig dreinblickender Türsteher, der Voltaire las und gern Faschisten schlug. Ein paranoides Genie, das aus Draht und Spucke ein RFID-Implantat bauen konnte, wenn er nicht gerade darüber schwadronierte, dass die Royals alle Reptiloide waren. Selbst ein ehemaliger Spesnaz-Offizier auf der Suche nach moralischer Klarheit war dabei.

DedSec würde sie alle willkommen heißen. Früher oder später würde jeder mit einem Gewissen oder einem persönlichen Interesse Mitglied des Widerstands sein. So sah Liz es zumindest. Eine Wundertütenarmee der Ungehörten und Ungewaschenen. Genug, um Hobbes’ Leviathan zu Fall zu bringen.

Aber an so etwas dachte sie momentan gar nicht. In diesem Moment dachte sie darüber nach, jemanden zu töten. Und genau darum drückte sie dem Neuen gerade die Mündung ihrer Px4 an den Hinterkopf. Nicht fest, gerade genug, um ihn wissen zu lassen, dass sie da war. »Olly, richtig?«, sagte sie mit sanfter Stimme. »Dreh dich um.«

»Liz«, begann Krish. Er klang nervös. Krish spielte gern den harten Kerl, aber Gewalt – echte Gewalt – machte ihm eine Scheißangst. So war es mit den meisten hier im Raum. Von ihnen allen hatte nur Liz bis jetzt eine echte Waffe abgefeuert. Und sie war gerade wütend genug, um es wieder zu tun.

Sie sah den jüngeren Mann an. »Halt die Klappe, Krish. Ich will mit unserem neuen Rekruten plaudern. Dreh dich um, Olly.«

Olly tat mit erhobenen Händen, was ihm gesagt worden war. Er war jünger, als sie gedacht hatte. Praktisch noch ein Kind. Schmal und abgemagert, als hätte er mehr als ein paar Mahlzeiten verpasst. Leger angezogen, keine offensichtlichen Tätowierungen oder Narben. Nur ein weiterer Proll, der einen auf starker Mann machte.

Ihn nur anzusehen sorgte dafür, dass sie sich alt fühlte. Sie ging auf die Vierzig zu und auch wenn sie sich in Form hielt, gab es Tage, an denen sie spüren konnte, wie all diese Erfahrungen sie zu erdrücken drohten wie die Hand Gottes. Heute war einer dieser Tage.

Sie musterte Olly von Kopf bis Fuß und schnaubte. »Wie alt bist du?«, fragte sie verächtlich.

Kein besonders beeindruckendes Exemplar, gebe ich zu. Aber das ist kein Grund, ihn zu erschießen, Elizabeth.

»Wenn ich deine Meinung hören will, Bagley, frage ich danach.« Die KI nervte sie. Die falsche Freundlichkeit seiner Persönlichkeit irritierte sie aus Gründen, die sie nur schwer in Worte fassen konnte. Sie war zu alt, um etwas zu vertrauen, dass auf dem ctOS-Netzwerk basierte.

Ein bisschen empfindlich heute, was?

»Klappe«, sagte sie scharf. »Ich musste mir gerade ansehen, wie ein Freund von mir auf offener Straße erschossen wurde.« Noch während sie es aussprach, dachte sie darüber nach. Alex war kein Freund gewesen, nicht wirklich. Etwas mehr, etwas weniger. Sie hatte nie versucht, es zu benennen – und jetzt war es zu spät.

Alex hatte eigentlich gar nicht zu DedSec gepasst. Ein kleiner Dieb, der in seinem ganzen Leben nie auch nur einen politischen Gedanken gehabt hatte. Die Art Mensch, die fand, dass Proteste gut fürs Geschäft waren – was stimmte, wenn das Geschäft Taschen- und Identitätsdiebstahl war.

Aber er hatte gute Ohren und ein gutes Gedächtnis gehabt. Er lauschte und gab weiter, was er gehört hatte, wenn sie fragte. Und das alles nur für den Preis eines Drinks oder vielleicht einer Mahlzeit. Es gab schlimmere Leute, mit denen man zu Abend essen konnte. Alex hatte lustig sein können, wenn er gewollt hatte.

Doch jetzt würde es keine Witze mehr geben. Es blieb nichts übrig außer ein bisschen mehr Wut, die sich zu der übrigen gesellte. Sie zuckte mit der Px4 und Olly riss die Augen auf. »Du warst dort. Ich will wissen, warum.«

»Ich war das nicht!«

Liz lächelte bitter. »Wenn ich das denken würde, wärst du bereits tot.« Sie sah zu Krish. »Ist das der Typ, den du für die Albion-Übergabe losgeschickt hast?«

Krish nickte. »Er ist gut, Liz.«

Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Olly und rief ihr Optik-Display auf. Dann scrollte sie sich durch einen Wust an Informationen, die meisten davon waren auf eine effiziente, wenn auch ungeschickte Weise zensiert worden. Sie fragte sich, ob er das selbst getan hatte. »Oliver Soames. Anfang zwanzig, Lieblingseiscreme Rum-Rosine. Du hast dich mal für einen Junggesellenabschied eines Kumpels als Frau verkleidet …«

Olly wurde rot. »Das haben wir alle gemacht«, protestierte er. Den anderen entfuhr unterdrücktes Gelächter. Liz brachte sie mit einer Geste zum Schweigen. Sie war die Älteste hier, de facto die Autorität. Die anderen hatten eine Scheißangst vor ihr und sie nutzte das aus, so gut sie konnte. Hacktivists und Codeknacker waren so fügsam wie Katzen. Die alten waren stur, die jungen selbstgerecht und einige von ihnen einfach nur Psychopathen.

Liz fand, sie hatte ein wenig von allen drei. Darum ließ man sie Tower Hamlets babysitten und dafür sorgen, dass die Dinge auf einem ruhigen Kurs blieben. Manchmal bedeutete das, sanft zu reden, manchmal, dass sie ihre Knarre rausholen musste.

Eine Waffe war eine gute Möglichkeit, um jedermanns Aufmerksamkeit zu bekommen und sie davon zu überzeugen, dass man es ernst meinte, alles in einem Aufwasch. Aber jetzt, wo sie die Aufmerksamkeit hatte, gab es keinen Grund mehr, weiter damit herumzuschwenken. Sie ließ die Halbautomatik sinken und starrte Olly an. »Also, was ist passiert? Und mach es kurz.«

Olly schluckte und sah zu Krish, der nickte. »Ich war … Ich hatte die Übergabe gemacht und wollte ’ne Abkürzung durch Lister House nehmen …«

»Warum?«

Ich habe es ihm geraten. Es hätte seine Route um …

Sie ließ Olly nicht aus den Augen. »Meinetwegen. Du hast also diese Abkürzung genommen und …?«

»Er … er ist mir vors Rad gelaufen. Direkt in mich rein!«

»Er ist gelaufen?«

»Ich … ich weiß nicht.« Olly gestikulierte. »Ich bin aufgestanden, wir haben uns angebrüllt und dann – peng – ging er zu Boden.« Sie sah das Entsetzen in seinen Augen. Sie spiegelten ihr eigenes wider. Welche Rolle er auch gespielt haben mochte, sie war sicher, dass er nicht abgedrückt hatte.

»Sein Name war Alex«, sagte Liz leise. Sie schob die Px4 wieder in das verborgene Holster an ihrem Rücken und sah Krish an. »Dieser Stick – die Albion-Infos?«

Krish nickte. »Sollte es sein.«

»Gut. Scan ihn und fang an, sie an die üblichen Verdächtigen zu verteilen. Bagley, analysiere die Bilder des Vorfalls.« Sie sah sich um. »Ich will alles wissen, was es über den Moment, in dem Alex gestorben ist, zu wissen gibt. Ich will die Geschwindigkeit der Kugel, ich will Marke und Modell der Waffe. Alles.«

Ich habe bereits damit angefangen.

Sie sah zu Olly. »Ich will, dass du mir jeden Schritt erzählst, den du heute gemacht hast. Von dem Moment an, als du heute Morgen auf dem Klo warst, bis jetzt. Komm mit.«

»Wohin gehen wir?«

»Nach unten.«

Olly blinzelte überrascht. »Ich dachte, wir wären unten.«

Liz lachte. »Das ist nur die verdammte Lobby, Kiddo. Und jetzt komm einfach mit.«

Olly sah zu Krish. Der andere Mann hob kapitulierend seine Hände. Liz hatte mehr zu sagen als er. Olly wusste, dass sie damals in den schlimmen alten Tagen eine Superhackerin gewesen war – man hatte sie »Redqueen« genannt, auch wenn er den Grund dafür nicht kannte. Vielleicht gefiel ihr einfach nur, wie es klang.

Er wusste nur, seit Krish ihn an Bord gebracht hatte, hatte sie noch keine zwei Worte mit ihm gewechselt. Sie war älter als er, ihre dicken, geflochtenen Haare waren grau und ihr Körper vom Alter gezeichnet. Sie trug eine abgewetzte Motorradhose, Kampfstiefel und ein T-Shirt mit dem Logo einer Band darauf, die seit einem Jahrzehnt nicht mehr angesagt war. Ihre Arme waren schlank, aber muskulös, mit einem Tribal am Bizeps. Sie hatte auch einige Narben – nicht nur an ihren Armen, sondern auch im Gesicht – und ihre Augen waren hell und durchdringend. Sie machte ihm eine Scheißangst. Nicht nur wegen der Waffe – auch wenn das ein wichtiger Teil davon war –, sondern wegen ihres ganzen Auftretens und was es vermittelte. Sie hielt die Füße nicht still. Sie war eine verdammte Freiheitskämpferin und es war ihr egal, wer es wusste.

Er hatte erst wieder zu atmen begonnen, als sie ihre Knarre gesenkt hatte. Jetzt sollte er ihr nach unten folgen … wohin? »Wir befinden uns bereits unter dem Gebäude«, protestierte er. »Noch tiefer und wir landen im Fluss.«

Liz lachte. »Ach ja? Und wohin führt dann diese Tür?« Sie deutete auf eine Wand und Olly drehte sich um. Noch nie hatte er dort eine Tür bemerkt. Vielleicht weil sie hinter einem billigen Regal voller Festplatten und Kabel versteckt war. Oder vielleicht weil sie überhaupt nicht wie eine Tür aussah, sondern eher wie ein Stück genieteter Stahl, das bündig mit der Wand abschloss.

Liz führte ihn am Regal vorbei und er entdeckte einen Fingerabdruckscanner, der in der Wand installiert war. Er war klein und leicht zu übersehen. Nicht versteckt, aber auch nicht offensichtlich. Liz steckte ihren Daumen in den Schlitz. Ein tiefes Summen ertönte und ein grünes Licht blinkte auf. Dann erklang das Geräusch von Metallzylindern, die sich drehten. Die Tür schwang nach innen auf. Eine Steintreppe führte nach unten. Anders als der Rest des Orts waren die Wände hier sauber und rochen nach Antischimmelspray.

Liz sah den Ausdruck in seinem Gesicht. »Die Wurzeln von Limehouse reichen tief. Schmuggler haben – und tun es immer noch – den Cut als Transportweg genutzt. Überall entlang des Kanals gibt es Verstecke. Die meisten sind nicht größer als ein Schuppen, aber mit ein bisschen Schweiß und Muskelschmalz kann man es sich überall wohnlich machen. Ab nach unten.«

Türler ve etiketler
Yaş sınırı:
0+
Hacim:
372 s. 4 illüstrasyon
ISBN:
9783966584173
Tercüman:
Yayıncı:
Telif hakkı:
Bookwire
İndirme biçimi:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

Bu kitabı okuyanlar şunları da okudu