Kitabı oku: «Grenzgänge», sayfa 3
«Am 28. November 1933», antwortete Charlotte mit schwacher Stimme.
«In Berlin?»
Nun kommt es raus, dachte sie. Doch es half ja nichts. «In Moskau», sagte sie, um Festigkeit in ihrer Stimme bemüht.
Der Oberkommissar sah auf und blickte sie an. «In Moskau!», sagte er mit einer gewissen Betonung und schrieb es auf.
FÜNF
WER IN BERLIN Jazz hören wollte, der ging in die «Badewanne», wo das Rediske Quintett modernen Cool darbot, oder er fuhr zum Dixieland mit den Spree City Stompers in die «Eierschale»am Breitenbachplatz. Im «Landhaus Dahlem» spielten die Salty Dogs mit ihrem Starschlagzeuger Baby Ko, und selbst im «Haus Berlin» an der Ost-Berliner Stalinallee jamten jeden Dienstag Musikanten aus Ost und West. Als Geheimtipp galt das «Studio 22» am Stuttgarter Platz. Der Gitarrist Coco Schumann, der das KZ überlebt hatte, war hier zu Hause. Im «Studio 22» trafen sich allwöchentlich die Musiker der modernen Richtungen zur Jam Session.
Peter Kappe, der sich nach unbefriedigenden Skiffle-Übungen auf dem Banjo seit einiger Zeit auf der Gitarre versuchte, hatte schon einige Abende im «Studio 22» verbracht. Bequemer und billiger war die Art Musik, die er mochte, kaum zu haben. Eintrittsgeld wurde nicht verlangt, und nach Hause waren es nur ein paar hundert Meter. Die Hoffnung, bei der Gelegenheit mal eine Mieze mit gleichen Interessen aufzureißen, hatte sich bisher nicht erfüllt. Das «Studio»war früher eine gewöhnliche Charlottenburger Eckkneipe gewesen und machte daraus auch keinen Hehl. Wahrscheinlich verzogen die Mädchen aus seiner Klasse deshalb das Gesicht, wenn er eines von ihnen aufforderte, ihn hierher zu begleiten. Es waren eben nur stumpfe Schrammen, zu Peters Bedauern. Die schwärmten für «Schlager der Woche» oder für dürftigen Rock ’n’ Roll und Elvis, dessen Verrenkungen Peter abschreckend fand. Das war alles nur nachgemachter schwarzer Rhythm and Blues, wie er wusste. Sein augenblickliches Gitarrenidol hieß Barney Kessel. In dessen Stil versuchte gerade ein plumper Bursche mit Ami-Bürste, auf dem kleinen Podium Melodielinien nachzuspielen, die Peter bekannt vorkamen.
«Dave Brubeck», sagte der Wortführer der beiden Burschen, an deren Tisch Peter Kappe einen Platz gefunden hatte.
Ihnen gegenüber saß ein Pärchen. Sie bot einen angenehmen Anblick, ihr Macker mochte schon um die dreißig sein. Er nickte bestätigend. «Klingt aber eher wie Eddie Condon.»
Bis auf die junge Frau lachten alle. Es war nicht schwer zu erkennen, dass der Gitarrist sich ebenso dilettantisch wie vergeblich bemühte, Brubecks rhapsodische Pianoläufe auf der Gitarre nachzufingern. Der Vergleich mit dem trunksüchtigen Dixieländer Condon war boshaft, aber nicht unpassend.
Der Macker und der Brubeck-Kenner, der vermutlich nicht viel älter war als Peter, gerieten sofort in eine Diskussion darüber, ob Brubeck überhaupt noch zum Jazz gehöre, wobei der Jüngling mit Kenntnissen und endgültigen Urteilen glänzte, die Peter beeindruckten. Clemens, wie ihn sein ansonsten eher schweigsamer Gefährte einmal ansprach, war ein großgewachsener Knabe mit dunkler Lockenpracht, der seine Ansichten gegenüber dem Älteren mit größter Selbstsicherheit vertrat. Dixieland sei eine tote Musik, deren Interpretation allenfalls Altmeistern wie Sidney Bechet oder Armstrong zustünde, und auch die hätten sich längst weiterentwickelt und spielten in Wahrheit Swing.
Das einzige weibliche Wesen am Tisch fühlte sich zu Recht vernachlässigt. Vermutlich fand sie das Gespräch genauso langweilig wie das Geschehen auf dem Podium, wo inzwischen ein Trio aus Bass, Schlagzeug und Altsaxophon zwirnsfadendünne Tonkaskaden abließ, die Clemens mit einem vernichtenden Urteil kommentierte. «Klingt wie eine verstimmte Trichtervioline. Ohne Piano geht so was gar nicht!», lautete sein abschließender Befund.
Sie blickte Peter an und lächelte, während ihr Begleiter sich mit Clemens über die harmonische Bedeutung des Klavierspiels im Jazz austauschte. Meinte die Ische wirklich ihn? Sie trug ihr blondes Haar zu einem Pferdeschwanz gebündelt und wirkte trotz ihrer spitzen Nase anziehend, besonders wenn sie lächelte. Peter schätzte sie auf Mitte zwanzig.
«Spielen Sie auch ein Instrument?», fragte sie ihn quer über den Tisch hinweg.
Peter nickte ein wenig gehemmt. «Gitarre», sagte er. «Aber ich bin noch ziemlich am Anfang.»
«Meine Mutter hat mich früher immer zum Klavierunterricht gezwungen», sagte sie und ließ ihre schlanken Finger auf der Tischplatte tanzen. «Schrecklich! Das hat mir die ganze Freude an der Musik verdorben.»
Ihren Scheich schien es nicht zu stören, dass sie sich anderweitig unterhielt. Clemens und er diskutierten über Erroll Garner und Oscar Peterson. Nur Clemens’ Gefährte, ein bebrilltes Jüngelchen mit nichtssagendem Gesicht, fühlte sich plötzlich angesprochen. «Ich spiele Trompete», sagte er selbstbewusst, wobei er die erste Silbe betonte. «So in der Art wie Chet Baker.»
Den kannte sie. «Der hat doch die Platte mit Caterina Valente gemacht!»
Und abgemeldet war Peter. So erging es ihm immer. Kam er wirklich mal mit einer Frau ins Gespräch, fand sich sofort ein oberschlauer Draufgänger, der sich dazwischendrängte. Bei den gleichaltrigen Mädchen in der Schule war ihm das inzwischen beinahe egal. Ihn reizten sowieso eher Frauen, die eine gewisse Reife und Klugheit ausstrahlten. Das hatte er allen Ernstes Marlies erklärt, der Enkelin seines Großonkels Hermann. Insgeheim hatte er dabei an seine wunderschöne Zeichenlehrerin gedacht, in die alle Jungs verknallt waren, aber auch an die auffallend hübsche Schwarzhaarige, die ihm jeden Morgen auf der Straße begegnete. Ein echt steiler Zahn! Die war bestimmt schon Mitte zwanzig. Er vermisste sie seit Tagen. Hoffentlich war sie nicht weggezogen!
Natürlich hatte Marlies ihn ausgelacht. Bei Onkel Hermanns siebzigstem Geburtstag war das gewesen. Eine tödlich langweilige Veranstaltung, bei der sie auch die Beförderung seines Vaters zum Oberkommissar gefeiert hatten. Der und der greise Onkel Hermann hatten die Gelegenheit beim Schopf gepackt und wechselseitig Anekdoten aus dem Leben von Kriminalkommissaren zum Besten gegeben. Da war ihm Marlies wie ein Lichtblick erschienen. Er hatte sie eine ganze Weile nicht gesehen. Zumindest äußerlich schien sie sehr zu ihrem Vorteil verwandelt. Abgesehen davon war sie das einzige Mädchen in seinem Alter in der ganzen Kappe-Sippe. Aber leider, wie sich schnell herausstellte, auch nur so eine Schlagermieze, die für Peter Kraus schwärmte – und der war nun wirklich das Letzte!
Wie gerne hätte Peter hier im «Studio 22» eine verständnisvolle Partnerin an seiner Seite gehabt und mit ihr zusammen die Musik genossen – soweit das Amateur-Getue genießbar war. Es durfte sich eben jeder versuchen, solange das Publikum geduldig blieb. Insgeheim nährte Peter die Hoffnung, die Zuhörer eines Tages mit seinen Gitarrenriffs zum Aufhorchen zu bringen. Bis dahin war es ein steiniger Weg, das wusste er.
Auf dem Podium brachte inzwischen ein swingendes Quartett Schwung in den Laden. Alle wippten mit den Füßen, nicht mal der kluge Clemens fand etwas auszusetzen. Sein Kumpel, der angebliche Trompeter, fingerte laienhafte Griffe in die Luft, um Eindruck auf die Mieze zu machen. Angesichts dessen besann sich deren Begleiter auf seine Rechte und Pflichten. Er drückte sie besitzergreifend an sich und begann, auf sie einzureden.
In Ermangelung eines anderen Diskussionspartners wandte sich Clemens zu Peter. «Du spielst Gitarre?», fragte er.
«Ein bisschen», gab Peter zu, und damit Clemens ihn nicht für einen Zickendraht à la Eddie Condon hielt, fügte er hinzu: «So in Richtung Barney Kessel.»
Den akzeptierte Clemens. «Von dem gibt es eine herrliche neue Scheibe mit den Poll Winners», sagte er.
Peter nickte. «Die habe ich schon», entgegnete er nicht ohne Genugtuung. Zum Beweis imitierte er eine Kessel’sche Improvisation von der Platte. Die Poll Winners waren die besten Instrumentalisten des Jahres ’57.
Clemens hörte mit fachmännischem Interesse zu. «Was sammelst du denn so?», wollte er wissen.
Endlich ergab sich eine Gelegenheit für Peter, mal ein bisschen mit seiner bescheidenen Plattensammlung zu renommieren. Da er den Oldtime Jazz vorsichtshalber wegließ, fand das meiste Clemens’ Zustimmung. «Und du?», erkundigte sich Peter. «Worauf stehst du?»
Unter anderem auf Ellington, Bebop und Jazz at the Philharmonic, wie sich herausstellte. Und auf Lionel Hampton. «Das ist der Größte!», behauptete Clemens. «Musikalisch und rhythmisch. So wie der swingt kein anderer.»
Peter widersprach nicht. Beim letzten Konzert des Maestros im Sportpalast hatte auch ihn die allgemeine Begeisterung angesteckt.
Es wurde ein langer Abend. Das Pärchen verzog sich irgendwann, zwei schwarze US-Krieger nahmen die Plätze ein. Keine Jazzer, wie sich herausstellte, sondern zwei brave GIs aus Oklahoma, die auf Rhythm and Blues und Chuck Berry standen und das schwarze Harlem nur aus furchterregenden Erzählungen kannten. Peter, der sich schon öfter mit Amis und britischen Soldaten unterhalten hatte, fand sich überraschend in der Rolle des Dolmetschers. Clemens’ Englisch war dürftig und das seines Kumpels nicht viel besser.
«Ich dachte, du studierst», sagte Peter, dessen Bewunderung für Clemens einen Knacks weg hatte. Und gleich einen zweiten bekam.
«Ich mache gerade Abitur», gab Clemens mit gedämpfter Stimme zu.
«Auch in Englisch?», wagte Peter zu fragen.
Clemens schüttelte den Kopf. «Das haben wir leider erst seit zwei Jahren.»
Peter sah ihn ungläubig an. Zwei Jahre Englisch und dann Abitur – so etwas hatte er noch nie gehört.
Clemens senkte seine Stimme. «Im Osten, verstehst du?»
Der nach dem Aufbruch des Pärchens wieder schweigsame Trompeter nickte trübe.
Peter verstand. Nun war ihm klar, weshalb sich die beiden den ganzen Abend an einer Coca festgehalten hatten, allen mahnenden Anfragen des Kellners zum Trotz. Er selbst hatte immerhin drei getrunken.
Ost-Berliner waren ihm schon hin und wieder begegnet. Eine nähere Bekanntschaft hatte sich nie ergeben. Wozu auch? Sein Vater war Polizeibeamter, der mit dem Osten nichts am Hut hatte. Gar nicht haben durfte. Das war so selbstverständlich wie die Abneigung seiner Mutter gegen alles Östliche und die Vorbehalte seiner Freunde und Klassenkameraden gegen den Osten. Hieß es nicht, der Jazz sei dort verboten?
«Quatsch!», widersprach Clemens. «Musik lässt sich nicht verbieten. Jazz gibt es sogar bei den Russen. Nur keine Platten. Das ist das Problem.»
Peters Problem bestand eher im hohen Preis der Langspielplatten. Die billigeren 45er knisterten nach einer Weile wie ein Lagerfeuer. Sein Taschengeld, das er durch allerlei Nebenarbeiten aufbesserte, reichte nie aus. Einmal in der Woche setzte er in einer Kneipe Kegel auf, für einen Stundenlohn von einer Mark. Das war schäbig genug, aber bei einem Wechselkurs von eins zu vier eine Menge Geld für die Billigkonkurrenz aus dem Osten.
Clemens’ schmale Künstlerhände sahen nicht aus, als hätten sie jemals Kegel aufgesetzt oder andere schwere Arbeiten ausgeführt. Wollte er allerdings eine LP kaufen – die meisten kosteten 19,90 DM –, so waren das in seiner Währung fast neunzig Mark.
«Hast du eine größere Plattensammlung?», fragte Peter dennoch.
«Nur das Wichtigste», antwortete Clemens. «Vom Oldtime nur die wahren Schöpfer: Armstrongs Hot Five, den frühen Sidney Bechet, allenfalls noch Really the Blues mit Tommy Ladnier.»
«Die habe ich auch!», bestätigte Peter stolz.
«Weißt du, dass Bechet und Ladnier zwar aus New Orleans stammen, sich aber erst in Moskau kennengelernt haben?»
Nun staunte Peter doch. «In Moskau? Wie kamen sie denn ausgerechnet da hin?»
Clemens wusste es. «In den zwanziger Jahren gab es dort Jazzkonzerte. Und in den Vierzigern hatten sie sogar ein staatliches Jazzorchester unter Eddie Rosner. Der machte ganz brauchbaren Swing. Natürlich auf sehr sowjetische Art.»
«Interessant», befand Peter. «Du weißt ja gut Bescheid. Bist du mal in Russland gewesen?»
Clemens’ Gesicht verdüsterte sich ein wenig, aber auf dem seines schweigsamen Kumpels breitete sich ein Grinsen aus. «Clemens ist in Moskau geboren», meldete er naseweis.
Clemens schien das für eine überflüssige Bemerkung zu halten. «Ich bin seit ’46 wieder in Berlin!», sagte er ein wenig unwirsch.
Aus Moskau wieder in Berlin? Wie meinte er das? Peter hätte gerne nachgefragt, wollte aber nicht indiskret sein. «Hast du russische Jazzplatten?», fragte er stattdessen.
Clemens bestätigte das. «Auch polnische LPs vom Jazzfestival in Sopot.»
Damit waren sie wieder bei den Platten. «Wäre schön, wenn man die eine oder andere Scheibe auf Band umschneiden könnte», schlug Clemens vor.
Daran war nichts auszusetzen. Peter stimmte zu. «Warum nicht. Wir könnten uns ja mal verabreden. Hast du ’ne vernünftige Bandmühle?»
Die besaß Clemens, im Gegensatz zu Peter, auf dessen Wunschliste ein mindestens halbprofessionelles Tonbandgerät ganz oben stand – also unerreichbar hoch vorläufig. Vielleicht klappte es zum Abi im nächsten Jahr. Im Osten gab es anscheinend wohlhabende Leute, die ihren Kindern, die noch dazu in Moskau geboren waren, großzügige Geschenke machen konnten.
Peter entsann sich, dass es von Hartmut, dem ältesten Cousin seines Vaters, hieß, er sei höherer Offizier bei der Kripo im Osten. In der Familie wurde er kaum erwähnt. Nicht mal zum Siebzigsten des eigenen Vaters war der aufgetaucht. Vermutlich verdienten solche Leute im Osten so viel, dass ihre Kinder im Westen hätten einkaufen können, es aber sicherlich nicht durften.
«Wenn du willst, können wir das bei mir machen», schlug Peter großzügig vor. «Ich wohne nur ein paar Ecken von hier.» In seinem Zimmer durfte ihn jeder besuchen. Weder Mutter noch Vater waren da kleinlich. Außerdem brauchte niemand zu erfahren, dass der Besucher aus dem Osten kam. Clemens sah überhaupt nicht danach aus.
«Ich weiß nicht …», sagte der zögernd. «Die Kiste ist ziemlich schwer und unhandlich. Damit müsste ich ja über die Grenze …»
«Müsste ich mit meinen Platten auch», wandte Peter ein.
«Das ist kein Problem! Du hast einen Westausweis. Bei uns in der Interessengemeinschaft Jazz halten öfter Personen aus dem Westen Vorträge. Die bringen alle ihre Platten mit.»
«Na, wenn du meinst.»
«Ich wohne in Biesdorf. Mit der S-Bahn sind das von hier kaum vierzig Minuten.»
Peter zögerte. In den Osten sollte er. Und dann auch noch so weit. Andererseits reizte ihn die Vorstellung. Wer kannte schon einen echten Jazzfan aus dem Osten? «Wann würde es dir denn passen?», fragte er.
«Am besten wäre es am Tage. Und in der Woche. Dann habe ich sturmfreie Bude.»
«Wir können ja mal darüber reden», sagte Peter.
SECHS
OBERKOMMISSAR OTTO KAPPE war guten Mutes, den Fall mit der Brandleiche in Frohnau aufzuklären. Den hatte er nun endgültig an der Backe. Der Rest der Inspektion war mit den Ermittlungen zu einem Raubmord in der Liegnitzer Straße in Kreuzberg beschäftigt. Unbekannte hatten dort vor einer Woche einen Taxifahrer schwer verletzt, einen 62-jährigen Vertreter erschossen und dessen Geldtasche mit 43 000 DM entwendet. Bis jetzt war nur der bei der Tat benutzte Pkw gefunden worden, den die Täter Wochen vorher in Zehlendorf gestohlen hatten.
Im Frohnauer Fall taten sich allmählich Schwierigkeiten auf. Der Anblick des stark verkohlten Leichnams blieb der Witwe auf Weisung von Kriminalrat Keunitz erspart. Metallreste an einem Finger der linken Hand identifizierte sie auf Photos schluchzend als den Siegelring ihres Gatten. Die Überbleibsel des rechten Schuhs und eine deformierte Gürtelschnalle gehörten ihrer Aussage nach zur Kleidung, die der am Sonntag vor dem Unglück getragen hatte.
Kappe blieb misstrauisch. Beim Gespräch des Obduzenten Dr. Konrad König mit der Witwe hatte er dessen Ausführungen zu Größe und Gewicht sowie zum Zahnstatus des Verbrannten mit einem warnenden Blick, den König glücklicherweise verstand, verhindert. Zu diesen Themen wollte Kappe sich erst einmal ausführlich informieren, bevor er sich auf die weitere Befragung der Leidtragenden einließ. Deren Reaktion auf Königs Feststellung, die Leiche weise eine tiefe Schädelverletzung am Hinterkopf auf, war ihm ein wenig zu prompt erfolgt. «Wahrscheinlich ist er gestürzt und hat sich dabei verletzt», hatte sie gesagt und dabei ihre großen Augen entsetzt aufgerissen.
In Königs Bericht, den Kappe jetzt durchging, klang das ein wenig anders. Nach der guten alten Hutkrempenregel war eine Selbstverletzung durch einen Sturz so gut wie auszuschließen, da die Wunde oberhalb der gedachten Krempe lag. Viel eher hatte den Mann ein Schlag mit einem stumpfen Gegenstand von schräg oben getroffen und zu Fall gebracht, bevor der Brand ausgebrochen war. Tot war er da noch nicht gewesen, wie die Rauchgase in seiner Lunge bewiesen.
Zufrieden pfiff Kappe vor sich hin. Es gab genügend Ansatzpunkte. Die Körpergröße beispielsweise, zu der sich der Mediziner nur unter Vorbehalt äußerte – sie sei bei einer Leiche in diesem Stadium der Verkohlung und in der dafür typischen zusammengekrümmten Fechter- oder Boxerstellung nur höchst ungenau zu ermitteln –, gab er mit maximal 1,68 Meter an. Noch auffallender trat die Diskrepanz zwischen den Angaben der Witwe und Königs Untersuchungsergebnissen bei der Eigenschaft auf, die neben den Papillarlinien der Finger und der Form der Ohrmuscheln jedes Individuum eindeutig vom anderen unterschied: dem Zustand der Zähne.
Günter Kynast polterte so unbekümmert herein, wie es seine Art war, und platzte los: «Nichts! Jedenfalls so gut wie.»
Kappe sah ihn missbilligend an und wartete. Mitunter zweifelte er, ob es günstig war, den James-Dean-Verschnitt und nicht etwa eine etwas gediegenere Erscheinung mit der Befragung älterer Zeugen zu beauftragen. Das Militär zum Einsatz zu bringen, wie es Galgenberg ironisch nannte. Piossek war der ehemalige Offizier noch immer anzumerken, und Rückert gebärdete sich gelegentlich auch ziemlich stramm. So jemand wie der blonde Engel Lilli fehlte im Team.
«Die Nachbarn halten sich bedeckt», berichtete Kynast. «Keiner will die Roeders näher gekannt haben. Da draußen wohnen übrigens fast nur alte Leute. Wussten Sie, dass die Grenze bis ’48 hinter Stolpe verlief? Die Franzosen sollten da ihren Flughafen bauen, aber die Russen …»
Otto Kappe winkte ab. «Olle Kamellen!», sagte er. «Als die Franzosen wegen der Luftbrücke anfingen, Tegel zu nutzen, haben die Russen sich Stolpe zurückgeholt. Hat das was mit unserem Fall zu tun?»
Das musste Kynast verneinen. «Jedenfalls kann keiner zuverlässig angeben, wann und mit welchen Insassen der Ford Taunus am Sonntag aufgebrochen ist. Wahrscheinlich fuhr er ein paarmal hin und her, sagt einer, der es aber nicht beschwören würde. Überhaupt will keiner etwas Auffälliges beobachtet haben. Lediglich am Sonnabendmittag ist ein schlechtgekleideter Fremder durch diesen besseren Laubenweg geschlichen und hat nach den Hausnummern geguckt, auf die Frage, ob er jemanden suche, aber den Kopf geschüttelt.»
«Wo der abgeblieben ist, haben Sie nicht herausgefunden?»
Kynast schüttelte den Kopf. «Das hat angeblich keiner gesehen.»
«Personenbeschreibung?»
Kynast blickte ihn an. «Wollen wir jetzt das Signalement aller Passanten überprüfen, die jemals an Roeders Gartenzaun entlanggelaufen sind?»
«Reden Sie keinen Unsinn! Falls es sich, wie ich vermute, bei dem Kellerfund nicht um die Leiche des Hausbesitzers handelt, muss der Verbrannte irgendwann von irgendwoher nach Frohnau gelangt sein.»
«Vielleicht haben sie ihn im Auto mitgebracht.»
«Vielleicht!», sagte Kappe unzufrieden. «Wenn auch nicht sehr wahrscheinlich. Und selbst dann müssen wir erfahren, ob der Mann groß oder klein oder bucklig war. Und ob er etwa schlechte Zähne hatte.»
«Das ist die nächste Niete», gab Kynast zu. «Im Umkreis von mehreren Kilometern praktizieren dort oben nur drei Zahnklempner. Patient Ronald Roeder – negativ.»
«Das beweist gar nichts. In Berlin gibt es Hunderte Zahnärzte. Vielleicht ist Roeder zu einem alten Bekannten gegangen, der Zahnarzt ist. Oder er ist zur Behandlung in der Gegend geblieben, in der er vorher gewohnt hat.»
Kynast verzog das Gesicht. «Na, dann herzlichen Glückwunsch!»
Kappe grinste verkniffen. «Wahrscheinlich finden wir den zuständigen Herrn Doktor sowieso nicht. König bescheinigt ihm nämlich ziemliche Pfuscherei.» Er deutete auf den Bericht. «Zwei Backenzähne fehlen. Es gibt zwei frische und mehrere länger zurückliegende Plombierungen, eine davon unfachmännisch und offensichtlich mit grobem Werkzeug ausgeführt.»
«Wie lange zurückliegend? Roeder kam doch aus der Zone.»
«Vor gut fünf Jahren hat er rübergemacht. Und nach Angaben seiner Frau mit kerngesundem Gebiss.»
Sie sahen sich an. «Davon mal abgesehen», sagte Kynast, «meinen Sie nicht, dass auch ein Zahnarzt in der Zone sein Bestes tut? Es sei denn …»
«Es sei denn, es handelte sich um gar keinen Zahnarzt. Wir wissen noch viel zu wenig über unseren Roeder. War der vielleicht irgendwo in Gefangenschaft?»
«Oder im Knast», sagte Kynast und sprach damit aus, woran auch Kappe schon gedacht hatte.
«Sie fahren morgen früh nach Marienfelde und gucken sich die Akte Roeder an! Mal sehen, ob sich daraus etwas Interessantes ergibt.»
Mit der Bitte um Auskünfte vom Flüchtlingslager in Marienfelde hatte Kynast keine durchweg guten Erfahrungen gesammelt. Sein pessimistischer Nachsatz lautete: «Sofern nicht wieder irgendeiner vom Dienst mit Schlapphut auf der Akte sitzt und uns auflaufen lässt.»
Das Problem kannte Kappe zur Genüge. «Dann sollen die gefälligst auch rausfinden, wer da wessen Leiche verbrannt hat!», sagte er ungehalten. Er schob Königs Bericht in einen Aktendeckel. «Die untröstliche Witwe lassen wir jedenfalls ein bisschen schmoren, bis wir Genaueres wissen. Für heute ist erst mal Feierabend.»
Als Otto Kappe mit seinem Käfer vom Kaiserdamm abbog, fiel ihm an der Ecke Wundtstraße der feuerrote Messerschmidt-Kabinenroller auf, den diese Frau Weidner erwähnt hatte. Eine passende Gelegenheit, den verdienten Feierabend noch ein bisschen zu verschieben! Er parkte den Wagen und ging hinüber zu dem Haus, vor dem das Gefährt stand. Bemerkt hatte er den Autoverschnitt schon oft, aber nie sonderlich beachtet. Jetzt warf er im Vorbeigehen einen Blick in die gläserne Kanzel. Dass da zwei Erwachsene hintereinander hineinpassten, war schon erstaunlich genug. Dass jemand eine Leiche darin verstauen und abtransportieren konnte, erschien ihm zweifelhaft.
Er klingelte bei Menzel/U. Losinski. Es knackte, gleichzeitig summte der Türöffner, und eine fröhliche Männerstimme sagte: «Komm rauf, du weißt ja, wo!»
Im zweiten Stock stand die Wohnungstür halb offen. Kappe klingelte noch einmal.
«Ja doch! Komm rein!», rief die Männerstimme.
Kappe schob die Tür auf und trat in den Korridor. Erst nach einer ganzen Weile tauchte aus einer der Türen ein junger Mann auf, dessen Gesicht Kappe in dem herrschenden Dämmerlicht nur in Umrissen erkennen konnte.
«Wer sind Sie denn?», erkundigte sich der Mann befremdet.
«Offensichtlich nicht der, den Sie erwartet haben», entgegnete Kappe. Er zückte seine Dienstmarke und stellte sich vor.
Dem anderen war trotz des schlechten Lichts anzumerken, wie wenig er den Besuch schätzte. «Was wollen Sie von mir?» Seine Ablehnung war mit den Händen zu greifen.
«Wollen wir das nicht besser in Ruhe in einem Ihrer Zimmer klären, falls Sie Herr Losinski sind?», schlug Kappe vor, doch sein Gegenüber protestierte: «Ich wüsste nicht, was es mit mir zu klären gäbe. Dass ich Losinski heiße, kann ich Ihnen auch hier im Flur glaubwürdig versichern.»
«Na, wenn Sie meinen.» Kappe hatte gelernt, seine Gefühlsaufwallungen zu beherrschen. Widerspenstige Zeugen oder nassforsche Verdächtige waren ihm nur allzu vertraut. Er griff in seine Innentasche. «Ich stelle Ihnen eine Vorladung ins Landeskriminalamt aus, der Sie bitte Folge leisten! Morgen früh um acht haben Sie sich in der Gothaer Straße einzufinden.»
«Morgen früh um acht? Ich habe um neun eine Vorlesung zu halten!»
Kappe begann zu schreiben. «Das ist Ihr Problem, um dessen Klärung Sie sich bitte bemühen!», sagte er trocken. Er hatte sich inzwischen an das trübe Licht gewöhnt und sah jetzt deutlich das unrasierte Gesicht seines Gegenübers über einem dunklen Rollkragenpullover. Losinski war ihm schon auf der Straße begegnet, ein schlaksiger Mensch um die dreißig, der immer ein bisschen ungepflegt wirkte. Im Gegensatz zu seiner Begleiterin, die Kappe plötzlich deutlich vor Augen stand: eine dunkelhaarige kleine Person mit dem Gesicht eines Engels und einer Figur, nach der man sich schon mal umgedreht hätte, wäre man schlecht erzogen und kein Kriminaloberkommissar und verheirateter Familienvater gewesen. Kappe reichte Losinski, der ihn mit einer Mischung aus unterdrückter Erregung und schlecht vorgeführter Selbstsicherheit belauerte, das Papier. «Wir können Sie auch vorführen lassen», sagte er dabei möglichst beiläufig.
«Das könnte Ihnen so passen!», bellte Losinski, der seine Sprache wiedergefunden hatte. «Was wollen Sie eigentlich von mir?»
Kappe spielte den Freundlichen. «Das klären wir besser morgen früh», sagte er beinahe herzlich. «Bis dahin also!» Grüßend hob er zwei Finger und wandte sich zum Gehen.
«Moment, Moment! Ihre aggressiven Polizeimethoden ziehen bei mir nicht! Sie dringen in meine Wohnung ein, drohen mir mit Vorführung und wollen mir nicht einmal sagen, was gegen mich vorliegt?»
«Es tut mir leid, wenn Sie das so empfinden», entgegnete Kappe kalt. Er blickte demonstrativ auf seine Armbanduhr. «Im Übrigen habe ich für heute Dienstschluss. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass Ihnen die Beantwortung von ein paar Fragen so viel Schwierigkeiten bereitet.»
Losinski stieß die Tür zu einem Zimmer auf. «Kommen Sie rein!», sagte er finster. «Leute wie Sie geben ja doch keine Ruhe.»
Kappe überlegte einen Moment, weiter auf die Feierabendkarte zu setzen. Andererseits interessierte es ihn, einen Blick auf die Wohnverhältnisse des Pärchens zu werfen. Morgen früh wartete genügend andere Arbeit auf ihn.
Das Wohnzimmer, wenn man es so bezeichnen wollte, glich aus Kappes Sicht dem mittleren Chaos einer unaufgeräumten Studentenbude. Auf den ersten Blick fielen zwei fremdsprachige Plakate auf, hinter deren Sinn Kappe nicht kam. Das eine gab über einer ausgestreckten Faust eine spanische Losung wieder, das zweite sah verdächtig russisch aus. Auf mindestens drei Tischen und halbhohen Regalmöbeln türmten sich Bücher, Zeitschriften und Schallplatten in buntem Durcheinander. Kappe identifizierte ein futuristisches Radio der Firma Braun und den dazugehörenden Plattenspieler, den er aus dem Zimmer seines Sohnes Peter kannte. Allerdings sah es in dessen Höhle dank Gertruds ständiger Mahnungen wesentlich wohnlicher aus als in dieser obskuren Bude, in der eine ordnende weibliche Hand zu fehlen schien.
Mit einer unwirschen Handbewegung forderte Losinski Kappe zum Sitzen auf, blieb jedoch selbst stehen. «Ich höre!», sagte er pikiert.
«Sie sagten, ich sei in Ihre Wohnung eingedrungen», begann Kappe, und Losinski widersprach sofort mit einer abwehrenden Handbewegung: «Ich weiß, dass die Tür offen stand.»
«Vielleicht nehmen Sie ebenfalls Platz!», bat Kappe höflich. Von oben herab ließ er nicht gerne auf sich einreden.
Losinski ließ sich so vorsichtig auf der mit Papier überhäuften Couch nieder, als befürchte er eine Explosion.
Geschäftsmäßig fragte Kappe: «Handelt es sich wirklich um Ihre eigene, persönliche Wohnung?»
«Was soll diese Frage? Ich wohne hier, das genügt doch wohl! Selbstverständlich zur Miete, wie denn sonst.»
«Als Haupt- oder als Untermieter?»
Die Frage brachte Losinski aus der Fassung. Er schluckte mehrmals. «Die Wohnung …», sagte er stockend, « … gehört meiner … meiner Bekannten. Fräulein Menzel, deren Name ja auf dem Türschild steht.» Schrittweise gewann er seine Selbstsicherheit zurück. «Sie ist im Augenblick nicht zu Hause.»
Kappe nickte verstehend. «Und wann kommt sie nach Hause? Ich meine, üblicherweise.»
«Sie ist … Sie weilt gegenwärtig … nicht in Berlin.»
«Darf man fragen, wo sie sich aufhält?»
«Man darf.» Losinski rang sich ein verklemmtes Lächeln ab. «Aber ich weiß es nicht.»
Kappe blickte ihn an. «Zumindest wollen Sie es mir nicht sagen.»
Sofort brauste Losinski auf. «Ich kann es Ihnen nicht sagen! Sie ist verreist, und sie ist mir keinerlei Rechenschaft über ihr Reiseziel schuldig!»
Kappe schwieg und ließ seinen Blick weiter auf Losinski ruhen, bis der unruhig wurde. «Auch wenn Sie es mir nicht glauben, ich weiß nicht, wo Frau Menzel sich gegenwärtig aufhält. Ich bin nicht für sie verantwortlich!»
«Das bleibt Ihnen unbenommen», bestätigte Kappe ruhig. «Aber sie ist doch Ihre … Partnerin. Sie leben zusammen mit ihr in ihrer Wohnung. In einer engen Lebensgemeinschaft sozusagen. Fräulein Menzel ist Studentin?»
«Ja.»
«Was studiert sie?»
Wieder eine Frage, die Losinski zu beunruhigen schien. «Journalistik, Politologie … Sie hat sich noch nicht endgültig entschieden.»
«Aber sie fährt mitten im Semester einfach los und sagt nicht einmal, wohin? Ob beispielsweise nach Heilbronn oder nach Stockholm? Wann ist sie denn weggefahren?»
Losinski tat, als überlege er. «Das mag etwa zwei Wochen her sein», sagte er. «Ich habe mir den Tag nicht aufgeschrieben.»
«Hatten Sie Streit miteinander?»
«Ich wüsste nicht, was Sie das angeht. Wir führen eine absolut offene Beziehung. Keiner mischt sich in die Angelegenheiten des anderen ein.» Losinski guckte unauffällig, wie er glaubte, auf die Uhr. «Waren das alle Fragen, die es zu klären galt?», erkundigte er sich spitz.
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