Kitabı oku: «Heimkehr», sayfa 3
«Unsere Mauern brechen, unsere Herzen nicht», hatte es zum Schluss geheißen. Da war Almas Herz längst gebrochen. Für den Führer schlug es jedenfalls nicht mehr, nachdem Karl und Emmi auf so furchtbare Weise ums Leben gekommen waren und von Heinz jede Nachricht fehlte.
Irgendwer im Haus musste sie dennoch als Pg., als Parteigenosse also, denunziert haben. Seit einer Woche lag die Vorladung in der Schale auf dem Vertiko. Entnazifizierungskommission – wie sich das schon anhörte! Wer wollte da den Stab über sie, eine alte, gehbehinderte Frau, brechen? Eine Horde von Männern sicherlich, alles vorbildliche Antifaschisten. Wo die wohl alle den Krieg verbracht hatten? Wahrscheinlich würden sie versuchen, sie als Trümmerfrau zwangszuverpflichten. Das hatte sie schon von anderen Frauen gehört. Davor schützte sie glücklicherweise ihr lahmes Bein.
Jetzt aber stand erst mal dieser verdächtige Landser vor ihr im Treppenflur. «Was wollen Sie denn eigentlich?», fuhr sie ihn an und schielte gleich erschrocken zur Nachbarwohnung. Von da war keine Hilfe zu erwarten. Die Nachbarin war zur Markthalle gegangen. Wenn es dort etwas gab, konnte es Stunden dauern.
«Ich wollte mit Heinz reden», sagte der Landser. Es klang müde. «Das hatten wir so verabredet vor unserer Entlassung. Er weiß ja in Berlin viel besser Bescheid …»
Der junge Mensch machte einen ziemlich erschöpften Eindruck. War er tatsächlich mit Heinz zusammen entlassen worden? «Was wissen Sie denn sonst noch von Heinz?», fragte Alma, immerhin um einige Grade freundlicher.
Er winkte ab. «Wir sind beide halbe Invaliden», sagte er müde. «Ihn hat’s im Rücken und an der Hüfte erwischt und mich am Kopf.» Er wies auf den schmutzigen Verband.
«Das meine ich nicht. Hat er Ihnen sonst nichts von seiner Familie erzählt?»
Der Mann schien sie nicht gleich zu verstehen. Schließlich sagte er zögernd: «Seine Frau heißt Irmgard. Und die Eltern hießen Karl und Emmi. Sie sind in der Annenstraße umgekommen …»
Alma atmete auf. Das konnte er nur von Heinz wissen. Wenn er ihr hätte etwas antun wollen, war dazu ausreichend Gelegenheit gewesen. «Kommen Sie rein!», sagte sie kurz entschlossen. Die Nachbarin würde ihr die Hölle heiß machen wegen dieser Unvorsichtigkeit. Das war jetzt egal. Der Mann wusste etwas über ihren Heinz. Nur darauf kam es an.
In der Küche stand der Kuchen auf dem Tisch, und sein hungriger Blick entging ihr nicht. «Ich habe mich nicht einmal vorgestellt», sagte er. Er war größer als Heinz und wahrscheinlich älter. «Werner Böhnisch.» Er streckte seine Hand aus, die sie zögernd ergriff. «Aus Gartz an der Oder. Aber da liegt alles in Trümmern …» Er war unrasiert und roch streng.
Sie bot ihm einen Stuhl an.
Er sank darauf nieder, als hätte er seit Wochen nicht mehr gesessen. «Hat Heinz meinen Namen nicht erwähnt?», fragte er. «Wann kommt er denn zurück?»
«Das frage ich Sie!», entgegnete Alma, und die Tränen traten ihr in die Augen. «Hier hat er sich jedenfalls noch nicht gemeldet.» Sie baute sich mit einigen Schritten Abstand vor ihm auf und musterte ihn erwartungsvoll. «Ich denke, Sie sind zusammen entlassen worden?»
Er schüttelte den Kopf. Seine blonden Haare über dem schmutzigen Verband sahen ungewaschen und strähnig aus. Hoffentlich hatte der keine Läuse!
«Nicht direkt», sagte er. «Wir sind nur bis Frankfurt/Oder zusammen gewesen. Er müsste eigentlich schon vor zwei, drei Tagen entlassen worden sein.»
Alma nickte. So lange erwartete sie ihn ja. Ihr fiel etwas ein. «Aber Sie heißen Böhnisch mit B, und er heißt Umbreit mit U.»
Wieder schüttelte Böhnisch den Kopf. «Bei den Russen geht es nicht nach dem Alphabet», sagte er. «Die haben ihr eigenes System. Wer mit dem Hintern nicht mehr hochkommt, den entlassen sie. Die anderen …», er machte eine ungewisse Handbewegung, «… ab nach Sibirien.»
Alma schauderte es. «Sie meinen, dass die Heinz noch in letzter Minute …»
«Das glaube ich eigentlich nicht. Er hatte alle Papiere und hat sich von mir verabschiedet. ‹Wiedersehen in Berlin›, hat er gesagt. ‹Vergiss die Adressen nicht!›» Er blickte Alma, deren zerfurchtes Gesicht sich auf gleicher Höhe mit dem seinen befand, ungläubig an. «Und nun sagen Sie, er ist hier noch gar nicht aufgetaucht?»
Alma nickte beklommen. Das hatte sie insgeheim die ganze Zeit befürchtet, dass alles nur Propaganda war und gar nicht alle entlassen wurden, deren Namen in der Zeitung standen. Vielleicht hatte Heinz gutgläubig ihren Namen genannt und ihre Adresse, und sie hatten herausgefunden, dass sie demnächst vor diese Kommission musste, und hielten ihn deshalb zurück. Aber das konnte sie diesem Böhnisch nicht erzählen, wer weiß, was das für einer war. Zwölf Jahre lang hatten die Leute Angst davor gehabt, denunziert zu werden, und nun war alles noch genauso schlimm …
Ach was! Entschlossen ging sie zum Gaskocher und griff nach dem Kessel. «Ich brühe Ihnen wenigstens einen Kaffee auf», sagte sie. «Was anderes kann ich Ihnen nicht anbieten.»
Mit seinem Blick verschlang er den Kuchen.
«Den habe ich für Heinz gebacken», sagte Alma widerstrebend, bevor sie das Schubfach aufzog, um ein Messer herauszunehmen.
FÜNF
«WANN sind die Fotos fertig?», wollte Kappe wissen.
Schieck hob die Schultern. «Erst muss mal der Film entwickelt werden und trocknen. Vor morgen Mittag ist da nichts zu machen.»
Mit Mühe hatten sie sich in Buch in die S-Bahn gedrängt, die jetzt in den Bahnhof Gesundbrunnen einfuhr, wo viele umstiegen.
«Morgen Mittag?», erkundigte sich Kappe, als hätte er sich verhört. «Früher hatte ich so was nach zwei Stunden auf dem Tisch!» Er wusste, dass er mit dieser Bemerkung Schiecks Zorn erregte.
«Ja, ja, ihr hattet ein sagenhaftes Auto und studierte Techniker, und alles war überhaupt viel besser!», keifte der Fotograf ärgerlich und gleichwohl bemüht, nicht alle dicht um sie Gedrängten über ihren Gesprächsgegenstand aufzuklären. Dennoch konnte er sich nicht zurückhalten, leise und scharf hinzuzufügen: «Und alle waren bei der SS!»
«Die meisten», entgegnete Kappe ruhig. Er hatte genug davon, dass dieser Oberpimpf ihn ewig anstänkerte. Im Grunde war es gleichgültig, wann die Fotos vorlagen. Ein paar Stunden mehr oder weniger machten in dem Fall kaum etwas aus. Und ob die Frau sich damit identifizieren ließ, stand in den Sternen.
«Bringst du mir das mit dem Filmentwickeln bei?» Das war Holtefret, dem Schieck in der Hoffnung auf einen potenziellen jungen Genossen und damit auf einen Verbündeten gegen Kappe gleich das Du angeboten hatte.
Udo Schieck tat sich wichtig, lehnte aber nicht ab. «Kommt alles auf die Qualität der Chemikalien und die richtige Temperatur an», klärte er den künftigen Lehrling auf. «Da braucht man viel Fingerspitzengefühl.»
Eddie Holtefret nickte zufrieden. Als Junge hatte er eine Agfa-Box sein Eigen genannt und damit manchen, wie er jedenfalls fand, schönen Schnappschuss gemacht. Aber es dauerte, bis man die Bilder endlich in der Hand hielt, und es kostete. Wenn dieser Udo ihm das Entwickeln und das Vergrößern beibrachte, konnte er damit vor Roswitha glänzen, und sie brauchte nicht länger nach einem zuverlässigen Fotografen zu suchen. Vielleicht hatte die Mordkommission, abgesehen vom Leichengeruch, doch ihr Gutes.
In der Linienstraße verschwanden die beiden Fotokünstler in der ehemaligen Damentoilette, die Schieck sich als Dunkelkammer gesichert hatte und zu der nur er einen Schlüssel besaß.
Kappe wusch sich in der Herrentoilette die Hände und kehrte an sein Schreibmöbel zurück. Alles schien unverändert, nur der Stuhl fehlte. Wortlos, doch voller Ingrimm griff Kappe Schiecks Hocker und ließ sich darauf nieder. In einer Stunde war Feierabend. Er war noch nicht mal dazu gekommen, seine mittägliche Scheibe Brot zu essen. Dass ihm der Magen knurrte, darauf achtete er schon gar nicht mehr. Er trank einen Schluck von Klaras lauer Kaffeeplörre und verzog angewidert das Gesicht. Mein Gott, was man sich alles freiwillig antat!
Während er sich bemühte, das Brot möglichst langsam und sorgfältig zu kauen, sichtete er seine Notizen über die aufgefundene Leiche, die inzwischen hoffentlich bei den Gerichtsmedizinern gelandet war. Vielleicht fanden die etwas Brauchbares heraus. Seine eigenen Erkenntnisse lohnten kaum das Aufschreiben:
Nach anonym eingegangenem Anruf beim Polizeirevier in Buch Auffinden einer unbekannten weiblichen Leiche unbekannter Herkunft und unbekannten Alters. Todeszeitpunkt und -ursache ungewiss. Verwertbare Spuren: bisher keine.
Jemand hatte ihm ein Blatt auf den Schreibtisch gelegt, eine Pressenotiz, die der Polizeipräsident herauszugeben gedachte: Rückgang der Morde in Berlin.
Die Zahl war im August 1946 erstaunlicherweise tatsächlich auf 11 gegenüber 24 im Juni und 14 im Juli gesunken. Sogar die Selbstmorde hatten sich von 175 auf 133 vermindert, und nur 99 Verkehrstote standen 177 aus dem Juni gegenüber.
Woran das wohl lag? Im Gegensatz zu seinem Präsidenten gab Kappe sich da keiner Illusion hin. Elf Morde in einem Monat waren wahrlich noch immer genug, und täglich mehr als drei Tote auf den Straßen reichten bei dem bescheidenen Verkehrsaufkommen allemal. Für einen Augenblick dachte er an den Potsdamer Platz, wie er ihn einst gekannt hatte. War das länger als ein Menschenleben her? Würde nicht ein weiteres Menschenleben vergehen, bis der Verkehr dort wieder so rege floss wie einst?
Ohne anzuklopfen, betrat jemand den Raum. Irritiert blickte Kappe auf, er vermochte das Gesicht des Mannes jedoch in dem schlechten Licht nicht genau zu erkennen. Ein großer und in besseren Zeiten sicherlich kräftiger junger Mann jedenfalls, gekleidet in der bunten Tracht der Zeit: umgefärbte Uniformteile und darüber eine Art Joppe mit kariertem Muster, aus einer Decke vermutlich. Der Mann sagte: «Guten Tag! Bin ich hier richtig bei Kriminalinspektor Kappe?»
Kappe schoss das Blut zum Herzen. Für einen Augenblick glaubte er, ohnmächtig von Schiecks Hocker zu sinken. Die Stimme! Unter Tausenden hätte er sie erkannt. Und den Mann natürlich auch. Kappe stützte sich auf die Tischplatte und stand auf. «Hartmut!», entfuhr es ihm dumpf, und er schämte sich der Tränen nicht, die ihm nun in den Augen standen. Unbeholfen trat er auf seinen ältesten Sohn zu und umarmte ihn. Das war seit mindestens zehn, zwölf Jahren nicht mehr vorgekommen. Aber die Rührung durfte einen wohl übermannen, wenn der Kronprinz der Familie so plötzlich und unerwartet und noch dazu ohne erkennbare äußerliche Schäden vor einem stand.
Hartmut, einen halben Kopf größer als sein Vater, klopfte ihm mit der Handfläche auf den Rücken. «Ist ja schon gut», sagte er. «Ich bin wieder da.»
«Warst du schon zu Hause bei Mama?»
Hartmut schüttelte den Kopf. «Bin ja gerade erst angekommen», sagte er.
Kappe zog seinen Sohn näher zur Fensterluke und betrachtete ihn eingehend. Der Junge sah nicht einmal schlecht aus. «Wie hast du mich denn so schnell gefunden?»
Hartmut lachte. «Wo das Polizeipräsidium ist, habe ich mühelos erfahren …»
«Aber ich hätte ja auch …» Kappe ließ den Satz unvollendet.
Hartmut verstand dennoch. «Da hättest du dich aber sehr ändern müssen», sagte er. «Was sollten sie denn sonst mit so ’nem alten Mordkommissar wie dir anfangen?»
Kappe blieb ernst. «Hast du ’ne Ahnung! Hier sind schon ganz andere Leute verlorengegangen.»
«Na ja, das große Aufräumen ist wohl nötig», befand Hartmut leichthin. «Man hört ja, dass überall noch die Braunen drinstecken und ihre Köpfe recken.»
Kappe fragte nicht, wo der Sohn das gehört hatte, wenn er doch eben erst in Berlin eingetroffen war. Und was hieß «die Braunen»? War Hartmut nicht selber als begeisterter HJ-ler zu den Fliegern eingerückt? Hatte er als sein Vater nicht oft genug mit dem Jungen über die politischen und strategischen Fehler des größten Führers aller Zeiten gestritten, und hatte Hartmut ihn nicht seiner gefährlichen Ansichten wegen verwarnt?
Nun ja, die Zeiten hatten sich geändert, und Hartmut auch. Die Russen vollbrachten ja wahre Wunder der Umerziehung, wie Schieck oder der Polizeipräsident Markgraf bewiesen. Oder der Generalfeldmarschall Paulus, den sie im Februar vor dem Nürnberger Tribunal präsentiert hatten.
«Hast du schon eine Unterkunft?», erkundigte sich Kappe. Mit leichtem Schrecken dachte er daran, was für neue Probleme auf sie zukamen.
Hartmut jedoch winkte ab. «Mach dir keine Sorgen! Dafür ist gesorgt.»
Kappe konnte es noch immer kaum glauben. Immer wieder schüttelte er den Kopf. «Mein Gott, was wird deine Mutter sagen!»
«Ich hoffe, es geht ihr einigermaßen gut.»
«Na, du wirst sie ja nachher sehen. Das gibt ja ein richtiges Familienfest, wenn wir beide nach Hause kommen!»
«Karl-Heinz ist bei euch?»
Kappe nickte bedrückt. «Dein kleiner Bruder macht uns Sorgen», sagte er. «Aber damit will ich dich jetzt nicht behelligen. Wir haben ja noch den ganzen Nachhauseweg und den Abend miteinander.»
«Aber sonst kommt ihr zurecht?»
«Was bleibt uns anderes übrig? Verhungert sind wir jedenfalls noch nicht. Und irgendwas werden wir heute Abend auch zu deinem Empfang auf den Tisch bringen!»
«Ich fürchte, daraus wird nichts. Heute Abend hab ich leider etwas anderes vor. Grüß Mama erst mal von mir! Wir sehen uns am Wochenende.»
Was war das nun wieder? Befremdet blickte Kappe seinen Ältesten an. Was gab es Wichtigeres für den als die Familie? Dann begriff er. «Du triffst dich mit einer Frau», sagte er verständnisvoll. «Da muss Mama erst mal zurückstehen. Sie wird es nur nicht einsehen.»
Hartmuts nüchterne Antwort, im Augenblick gäbe es wichtigere Dinge als Frauen, überraschte Kappe. Was war mit dem Jungen los? Kam nach langen Jahren direkt aus der Kriegsgefangenschaft und spielte den Abgeklärten. «Hast du dich schon nach Arbeit umgeguckt?», wollte Kappe wissen.
Ein leichtes Grienen überzog Hartmuts Gesicht. «Deswegen bin ich ja hier», sagte er. «Sonst hätte ich dich kaum so schnell gefunden.»
Wieder dauerte es einen Augenblick, bis Kappe verstand. «Du willst zur Polizei?», fragte er ungläubig.
Hartmuts Antwort war nicht geeignet, seine Verwunderung zu mildern. «So ist es vorgesehen …»
Kappe stellte keine weitere Frage. Wenn etwas «so vorgesehen» war, dann kam es von ganz oben und blieb unwidersprochen. «Dann darf ich dich möglicherweise künftig zu meinen Chefs zählen», vermutete Kappe, bemüht, es nicht wie eine Frage klingen zu lassen.
«Ich glaube nicht», beruhigte ihn der Sohn. «Ich soll vorerst irgendwo aufs Revier.»
Im britischen oder amerikanischen Sektor, dachte Kappe, ohne es auszusprechen. Das war die übliche Taktik der Russen, ihre Leute als Ersatz für die Kommunisten unterzubringen, die von den Westalliierten entlassen worden waren. «Na gut, Herr Kollege in spe», sagte Kappe, und eine Spur von Bitterkeit klang in seiner Stimme mit. «Das sind ja eine ganze Menge Überraschungen auf einen Haufen. Nur wie ich deiner Mutter beibringen soll, dass du sie erst in ein paar Tagen sehen willst, weiß ich noch nicht.»
Kappes Ton brachte Hartmut doch ein wenig in Verlegenheit. «Wenn ich es schaffe, komme ich morgen Abend bei euch vorbei. Ich habe wirklich eine Menge um die Ohren, bis alle Papiere fertig sind …»
Kappe klopfte ihm auf die Schulter. «Tu Mama den Gefallen!», bat er väterlich. «Hast du überhaupt unsere Adresse?»
Hartmut nickte. «Die hat man mir schon gegeben.» Er drückte seinen Vater noch einmal an sich und verließ eilig den Raum.
Ein seltsamer Duft blieb zurück. Machorka, wie Kappe erkannte. Schwerfällig ließ er sich wieder hinter seinem Schreibtisch nieder. Was für ein unwahrscheinliches Glück: Beide Söhne hatten den Krieg überlebt. Und doch konnte Kappe nicht leugnen, so etwas wie Unzufriedenheit zu verspüren. Das mit Karl-Heinz ließ sich vielleicht noch hinbiegen, wenn die Zeiten erst wieder normaler waren. Bezüglich Hartmuts Wandlung war er da weniger zuversichtlich.
Kurz darauf betrat der Neue den Raum. «Kann ich noch irgendwas tun?», fragte er. Besonders unternehmungslustig klang es nicht.
Kappe blickte ihn melancholisch an. «Ist was drauf auf dem Film?», lautete seine Gegenfrage. Er misstraute Schiecks Fähigkeiten. Der hatte unlängst einen Film versaut und behauptet, es habe am Entwickler gelegen.
«Soweit ich das beurteilen kann, ist was zu erkennen. Muss aber erst trocknen.»
«Dann soll Schieck meinetwegen einen Fön nehmen!»»
Der Neue blickte ihn erstaunt an. «Der ist schon weg. Er musste ganz eilig zu einer Versammlung. Hat er Ihnen das nicht gesagt?»
Kappe griente bissig. «Da hat er dich nicht gleich mitgenommen?» Das Du floss ihm sonst nicht so leicht über die Lippen, aber bei dem Milchgesicht kam es wirklich nicht darauf an.
«In welcher Partei ist er denn?», erkundigte sich Holtefret.
Kappe hätte jetzt sagen können: In derselben, zu der mein ältester Sohn mit einiger Gewissheit bald gehören wird. Doch er hielt sich zurück. «Na rate mal!», sagte er. «Für Schieck gibt’s nur eine, und wenn es nach ihm ginge, wären wir alle längst seine Genossen.»
Holtefret hob die Schultern und sagte: «Ich mach mir nicht viel aus Politik.»
SECHS
ALFRED KNISPEL hatte den Russlandfeldzug als Kriegsversehrter und mit einem Dutzend Granatsplitter in verschiedenen Teilen seines ausgemergelten Körpers überstanden. Er besaß nur noch einen Arm und war dennoch ein fröhlicher Mensch geblieben. «Sie haben mich bei Welikije Luki nicht umgebracht, da werde ich wohl das bisschen Nachkrieg überstehen», lautete seine durch nichts zu erschütternde Devise, der seine Frau Martha kaum etwas abgewinnen wollte. Die Tochter Sonja dagegen teilte den Optimismus des Vaters und war mit dem Leben nicht unzufrieden. Immerhin bewohnte sie in der Knispel’schen Wohnung in der Petersburger Straße eine eigene schmale Kammer und verdiente selbst ihr Geld. Die Knispels waren mancherlei Entbehrungen gewohnt. Bei ihnen war es immer bescheiden zugegangen. Erst 1936 hatte Alfred nach fünf Jahren Arbeitslosigkeit eine schlechtbezahlte Anstellung in seinem Beruf als Polsterer gefunden, die ihn nicht davor bewahrte, 1942 zuerst nach Jugoslawien und dann gen Osten geschickt zu werden.
Bei Licht besehen war Alfred Knispel ein alter Sozialdemokrat. Jedenfalls hatte er bis 1933 SPD gewählt. Das beabsichtigte er auch bei der bevorstehenden Wahl zu tun, was man an seiner Arbeitsstelle gewiss nicht gerne sah, wo neuerdings nur noch von der SED als künftigem Heilbringer die Rede war. Alfred Knispel arbeitete nämlich beim Berliner Rundfunk. Zuerst hatte sich die neunzehnjährige Sonja in der Masurenallee erfolgreich als technische Assistentin beworben, und dann war Alfred dort bei der Hauskontrolle eingestellt worden – eine Tätigkeit, die ein Einarmiger gut ausüben konnte, wenn er wachsam war und Passierscheine auszufüllen verstand. Alfred schrieb mit seiner Linken besser als mancher Redakteur mit rechts. Das war einer der Scherze von Sonja, die beständig mit dieser sich ungeheuer wichtig gebärdenden Berufsgruppe zu tun und sich gegen ihre dreisten Annäherungsversuche zur Wehr zu setzen hatte. Sie hielt von den meisten nicht viel und machte daraus kein Hehl. Zuerst musste sie das Cuttern erlernen, was das Schneiden und Kleben von Tonbändern bedeutete und «Köttern» ausgesprochen wurde. Inzwischen aber war sie aufgestiegen und durfte die Folien, Schallplatten und Bänder für die Sendungen des Berliner Rundfunks auflegen und abspielen. Diese Arbeit machte ihr zwar Spaß, war jedoch zum Kummer ihrer Mutter auch nachts und sonntags notwendig.
Da sie im Schichtdienst tätig waren, hatten Vater und Tochter zwar öfter freie Zeit in der Woche, doch selten genug gemeinsam. Heute aber war so ein Tag, auf den Alfred Knispel sich schon lange gefreut hatte, wollte er doch endlich mal in die Pilze gehen. Sonja begleitete ihn, um ihm eine Freude zu machen. Außerdem tat ihr nach drei Nachtdiensten die frische Luft ganz gut. Martha verwies gerne auf ihre schmerzende Hüfte, wenn die beiden einen größeren Ausflug unternahmen.
Ausgerechnet an diesem Morgen waren anscheinend eine ganze Menge Leute auf die gleiche Idee gekommen wie Alfred Knispel. Jedenfalls war die S-Bahn voll. Oder fuhren die alle zum Hamstern? Die Strecke nach Erkner war eigentlich nicht die Gegend dafür. Dörfer gab es da so gut wie keine, es sei denn, man fuhr weiter in Richtung Fürstenwalde. Zu Alfreds Beruhigung verließen in Wilhelmshagen nur wenige Passagiere die S-Bahn. Der Wald rings um die Grenzberge nördlich der Bahnlinie war sein persönlicher Geheimtipp für die Pilzsuche. Früher war er mit dem Rad bis Hangelsberg gefahren, doch von der Petersburger Straße einarmig so weit zu radeln erschien ihm denn doch als ein zu gewagtes Abenteuer.
Er freute sich auf den Tag mit seiner Tochter. Zu reden gab es genug miteinander, das Funkhaus und seine zahllosen Mitarbeiter stellten einen unerschöpflichen Born für ihre Gespräche dar. Zu Hause regte sich Martha oft genug darüber auf, weil sie die Leute nicht kannte, über die da geredet wurde, und weder Alfred noch Sonja sich stattdessen ihren Hausfrauenklatsch anhören wollten. Heute konnten sie nach Herzenslust miteinander schwatzen, vor allem auf dem ersten Teil des Weges, der sie allmählich tiefer in den Wald führte.
«Die Amerikaner haben jetzt einen eigenen Sender aufgemacht», sagte Alfred. «Das Funkhaus ist wie ein Bienenkorb deswegen.»
«Es ist nur ein ganz schwacher Sender, sagen unsere Ingenieure. Man kann ihn kaum hören», widersprach Sonja. «Die sitzen im Verstärkeramt in der Winterfeldtstraße, wo sie nicht mal ein richtiges Studio haben.»
«Wahrscheinlich nur ein Provisorium vor der Wahl», vermutete Alfred. «Den Amis stinkt es, dass die Kommunisten im Äther den Ton angeben. War eben ziemlich schlau von den Russen, sich das Funkhaus mit allen Anlagen zu sichern. Dagegen kommt so schnell keiner an.»
«Was meinst du, wie lange das so bleiben wird mit den vier Sektoren in Berlin?»
«Vermutlich ewig und drei Tage. Sofern die Alliierten sich nicht noch mehr in die Haare geraten und die Russen die Amis nicht rausschmeißen.»
«Bei uns sagt jeder was anderes. Manche meinen sogar, es gäbe wieder Krieg …»
Alfred lachte. Es klang nicht fröhlich. «Das könnte den Herren so passen. Nicht mit uns!»
Eine Weile stapften sie wortlos durch den Sand.
«Vielleicht haben die Russen doch Recht mit der Vereinigung von Kommunisten und Sozialdemokraten», sagte Alfred dann. «Das gibt wenigstens ’ne starke Arbeiterpartei.»
Sonja war überrascht. «Ich denke, du hast dagegen gestimmt?»
«Hab ich auch!», sagte Alfred grantig. «Weil ich denen nicht traue. Die versprechen das Blaue vom Himmel runter. Genau wie die Kirche, bloß dass der Papst in Rom sitzt und Stalin in Moskau. Als Stellvertreter Gottes fühlen die sich beide.»
Sonja packte ihn am Ärmel. «Lass das bloß keinen hören!», warnte sie ihn. «Den Schmittke von der Musik haben sie einfach abgeholt. Der soll was gegen die Russen geäußert haben.»
«Quatsch!» Alfred wusste es besser. «Das ist ein alter Nazi, wie er im Buche steht, weiter nichts. Von der Sorte gibt es noch viel zu viele im Haus.»
«Woher willst du denn das wissen?»
«Du wirst schon sehen, da werden noch etliche verschwinden. In der Beziehung kennen die Russen kein Pardon.»
Sonja trottete träumend vor sich hin. «Manche von denen sind ja ganz nett», sagte sie. «Dieser Micha Storm zum Beispiel, der sieht nach was aus und spricht so gut Deutsch, dass man gar nicht glauben will, er sei ein Russe.»
«Das ist auch keiner. Das ist ein deutscher Emigrant.»
«Dazu ist der doch viel zu jung!»
«Ach Mädel, viele Kommunisten sind mit ihren Kindern nach Russland gegangen. Dein Onkel Georg beispielsweise …» Alfred verstummte.
«Ich denke, der ist im KZ umgekommen? Habt ihr jedenfalls erzählt.»
«Stimmt ja auch», murmelte Alfred mit gesenktem Kopf, «die Russen haben ihn an die Nazis ausgeliefert …»
Sonja blieb stehen. «Die Russen an die Nazis? Was ist denn das nun wieder? Die haben doch Krieg gegeneinander geführt!»
Alfred seufzte. «Ich erzähl’s dir später mal. Wir wollen uns nicht den schönen Tag verderben. Guck mal, da drüben steht der erste Pilz!»
Es war nur ein kahler Krempling, aber immerhin ein Anfang. Sie trennten sich und streiften rechts und links des Weges durch das Unterholz. Von Zeit zu Zeit riefen sie einander etwas zu. Alfred achtete darauf, seine Tochter nicht völlig aus den Augen zu verlieren. Die Zeiten waren unsicher. Wie leicht konnte so einem Mädel was passieren.
Die Pilzausbeute hielt sich in Grenzen. Als nach anderthalb Stunden die ersten Häuser von Woltersdorf in Sicht kamen und sie den Inhalt ihrer Körbe verglichen, kam da kaum eine Mahlzeit für die ganze Familie zusammen.
«Wir laufen im großen Bogen zurück», schlug Alfred vor. «Vielleicht haben wir auf dem Rückweg mehr Glück.»
Doch von Glück konnte keine Rede sein. Alfred, der seine Augen überall herumschweifen ließ, hatte nicht erwartet, dass der Reisighaufen, auf den er trat, unter seinem Gewicht nachgeben würde. Sein linker Fuß versank in einer Vertiefung, und auch der rechte fand plötzlich keinen Halt mehr. In weitem Bogen flogen die Pilze auf den Waldboden. Er stieß einen wütenden Schreckenslaut aus, aber der half ihm auch nicht. Bis weit über die Knie hatte er sich in dem Reisig verheddert, und unter seinen Füßen spürte er etwas Unangenehmes, in dem er langsam zu versinken drohte. «Sonja!», rief er, so laut er konnte. Erst beim dritten Mal antwortete sie. Es dauerte ein Weilchen, bis sie ihn fand. Inzwischen war es ihm gelungen, sich aus dem abgedeckten Loch zu befreien, aus dem ihm ein unangenehmer Geruch in die Nase stieg. Vergeblich versuchte er, seinen rechten Schuh im Waldgras von dem schmierigen Schmutz zu reinigen, der daran klebte.
Sonja, beruhigt, ihn auf beiden Beinen herumstiefeln zu sehen, machte sich daran, die Pilze aufzusammeln. «Ich dachte schon, dir ist was Schlimmes passiert», sagte sie. «Aber du bist bloß gestolpert, oder?»
Alfred sagte gepresst: « Mir ist nichts passiert …»
Sonja blickte auf. «Aber?», fragte sie. Sie kannte ihren Vater gut genug, um zu bemerken, dass ihm etwas Unangenehmes widerfahren sein musste. Besorgt fragte sie: «Hast du dich verletzt?»
Alfred schüttelte den Kopf. «Geh nicht so nahe an das Loch ran», sagte er mit rauher Stimme.
«Wieso, was ist denn damit?» Natürlich ging sie auf das Loch zu, und jetzt roch sie es auch. «Igitt, das stinkt ja so süßlich!» Im selben Augenblick erkannte sie den Geruch. So hatten die Leichen gerochen, die man aus dem Luftschutzkeller des Nebenhauses geborgen und auf der Straße abgelegt hatte. Sie verzog das Gesicht zu einer Grimasse und sagte: «Komm bloß weg hier, aber schnell!»
Alfred Knispel zögerte. «Ich weiß nicht so recht …», sagte er. «Geh du mal ’n paar Schritte weiter! Ich guck nach.»
«Wozu denn das? Vielleicht ist es ein totes Wildschwein oder so was.»
Alfred schüttelte den Kopf und machte sich schon an dem Reisig zu schaffen.
«Lass das doch! Das ist ja widerlich!», forderte Sonja, aber er ließ sich nicht beirren. Angeekelt wandte sie sich ab.
«Dachte ich mir», sagte Alfred nach einer Weile. «Ein Soldat, wie es aussieht.» Schwerfällig tappte er auf seine Tochter zu und legte den Arm um sie. «Armer Kerl …»
«Mein Gott, es sind so viele umgekommen. Ich verstehe nur nicht, weshalb es jetzt noch so stinkt, wo er doch bestimmt schon anderthalb Jahre hier liegt.»
«Eben nicht», sagte Alfred ernst, «der ist höchstens ein paar Tage tot.»
«Woher willst du denn das wissen?»
Alfred sah seine Tochter aus großen Augen an. Einmal mehr fiel ihr auf, wie grau und elend er aussah. «Ach Mädel», sagte er, «ich habe bei Welikije Luki genügend Leichen begraben …»
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