Kitabı oku: «Verhängnis in der Dorotheenstadt»
Es geschah in Preußen 1840
Jan Eik
Verhängnis in der
Dorotheenstadt
Von Gontards erster Fall
Criminalroman
Jaron Verlag
Jan Eik, geboren 1940 in Berlin als Helmut Eikermann, ist seit 1987 freiberuflicher Autor und Publizist. Er schrieb zahlreiche Kriminalromane und -erzählungen sowie Hör- und Fernsehspiele. Zu seinen Veröffentlichungen gehören u. a. »Der siebente Winter« (1989), »Der Geist des Hauses« (Ein Friedrichstadtpalastkrimi, 1998) und »Trügerische Feste« (2006). Im Jaron Verlag erschienen von ihm u. a. der Kriminalroman »Am Tag, als Walter Ulbricht starb« (2010, mit Horst Bosetzky), »Schaurige Geschichten aus Berlin« (2007) und »Der Berliner Jargon« (2009); für die Krimireihe »Es geschah in Berlin« verfasste er »Der Ehrenmord« (2007), »Nach Verdun« (2008, mit Horst Bosetzky), »Goldmacher« (2009) und »In der Falle« (2011).
Originalausgabe
1. Auflage 2011
© 2011 Jaron Verlag GmbH, Berlin
1. Digitale Auflage 2013: Zeilenwert GmbH
Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.
Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring, Berlin
Satz: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
ISBN 9783955520304
Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Impressum
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Acht
Neun
Zehn
Elf
Zwölf
Dreizehn
Vierzehn
Fünfzehn
Sechzehn
Siebzehn
Achtzehn
Neunzehn
Zwanzig
Einundzwanzig
Zweiundzwanzig
Nachbemerkung
Eins
Am Mittag des 16. Oktober 1840 erschien der Major Christian Philipp von Gontard in der Wohnung des jungen Physikers Doktor Heidenreich, um nach den Gründen für dessen Abwesenheit bei der Huldigungsfeier für den neuen König an der Vereinigten Artillerie- und Ingenieurschule zu forschen, an der sie beide als Lehrkräfte für die künftigen preußischen Artillerie-Offiziere tätig waren.
Im Grunde handelte es sich nicht um eine Wohnung. Gebhardt Heidenreich bewohnte ein eher ärmliches Quartier, eine Stube im zweiten Obergeschoss im Hause des Cichorienfabrikanten August Knoppe in der Dorotheenstädtischen Mittelstraße, wohin der Major von Gontard bis dahin nur einmal vorgedrungen war.
Zu seiner Überraschung erblickte Gontard vor dem schmalbrüstigen Bau, dessen Haustür weit offen stand, eine mit einem ausgemergelten Pferd bespannte Chaise, die ihm nicht unbekannt war. Als er näher trat, drang aus den oberen Stockwerken dumpfes Stimmengewirr bis in den Durchgang zu ihm, von dem sich der klagende Tonfall einer Frau abhob.
Was mochte hier vorgefallen sein?
Höflich zog er den Klingelzug neben der Tür. Oben schien man das jämmerliche Scheppern nicht zu hören.
Er klopfte, kräftig diesmal, dann trat er in das Halbdunkel des Flurdurchgangs und begann entschlossen, die gewundene Treppe mit dem altertümlichen Geländer zu erklimmen. Im ersten Stockwerk, das, wie er wusste, erst seit kurzem wieder vermietet war, gestattete eine offene Tür den Blick in ein frisch gekalktes Zimmer, in dem Kisten und Kasten durcheinanderstanden. Seinen Ruf beantwortete niemand, doch plötzlich kam jemand die Treppe herab, ein - soweit von Gontard das im Halbdunkel erkennen konnte - bürgerlich gekleideter Mensch kaum mittlerer Statur, der sich an ihm vorbeidrängte und ihm dabei höflich zunickte, ohne ihn wirklich anzublicken. Gontard, der über ein gutes Personengedächtnis verfügte, kam der Mann bekannt vor. Außer dem hohen Zylinder trug er nichts in der Hand.
Im Obergeschoss war es still geworden. Hinter einer Tür weinten Kinder. Als Gontards Kopf die Höhe des oberen Fußbodens erreichte, gewahrte er in der engen Diele drei Personen, die schweigend seiner harrten. Die Frau erkannte er sofort als die Tochter des Hauses Knoppe, die ihn selber einmal diese Treppe hinaufgeleitet hatte. Ihr zur Seite stand ein hochgewachsener Mensch in einem dunklen Anzug und mit ebenso dunklem Haar, das bärtige Gesicht mit dem goldgefassten Kneifer zu der sichtlich von Unglück Betroffenen geneigt, dem uniformierten Gontard dabei einen wachsamen Blick entgegenschickend.
Der Dritte, der unübersehbar und in seiner ganzen Breite die Tür zu Heidenreichs Gemach versperrte, war der Criminal-Commissarius Waldemar Werpel, dem Gontard bereits mehrfach begegnet war. Eine von der ersten Minute an unausgesprochene gegenseitige Abneigung hatte bisher verhindert, dass Gontard ein Wort mit dem Mann gewechselt hätte, dessen Geschäfte ihn dennoch brennend interessierten.
Die Konstellation der drei - insbesondere Werpels Anwesenheit und die sichtliche Bestürzung der Demoiselle Albertine - ließ von Gontard Schlimmes befürchten. Erst einige Abende zuvor war ihm aufgefallen, wie sehr sie sich um Heidenreichs Wohlergehen bemühte, und der sprach stets in wohlwollendem Ton von ihr.
»Sie kommen zu spät«, verkündete sie mit heiserer Stimme und schlug die Hände vors Gesicht. »Er ist tot.« Von Gontard, durchaus daran gewöhnt, Tatsachen als solche zu erfassen und hinzunehmen, gelang es diesmal nicht, seine Skepsis zu unterdrücken. »Heidenreich?«, fragte er ungläubig, als gäbe es in der hier angetroffenen Situation den geringsten Zweifel an der Identität eines möglichen Toten.
»Heidenreich!«, bestätigte der Commissarius denn auch in beinahe befriedigtem Tonfall. »Sind Sie mit ihm verwandt?«
»Ich bin sein Freund und Kollege. Major Christian Philipp von Gontard.«
Der Commissarius nickte hoheitsvoll. »Wer hat Sie von seinem Ableben verständigt?«
Gontard sah den Commissarius an, konnte jedoch dessen Gesichtszüge im Halbdunkel der Diele und gegen das schwache Licht aus Heidenreichs Stube nicht deutlich erkennen. Nur um sich nicht sofort mit ihm anzulegen, entschied er sich für eine Antwort auf die höchst überflüssige Frage. »Niemand. Ich bin gekommen, um nach ihm zu sehen. Was ist hier vorgefallen?«
»Das wird sich herausstellen!«, entgegnete der Commissarius förmlich. »Sie wussten also von seiner … nennen wir es Unpässlichkeit.«
Statt einer Antwort trat Gontard auf die Amtsperson zu und vermochte nun immerhin, einen Blick über dessen Schulter in die Stube zu werfen, in der Heidenreichs halbbekleideter Körper verkrümmt auf dem zerwühlten Bett lag. Auf einem Stuhl und auf dem Boden verstreute Kleidungsstücke verrieten wenig Sinn für Ordnung, Papiere und Bücher stapelten sich auf dem Tisch unter dem Fenster, und gleichermaßen vollgestopft wirkte auch der restliche Raum.
»Hat man einen Arzt verständigt?«, erkundigte Gontard sich ungehalten.
Gemessen verbeugte sich daraufhin der schwarzgekleidete Bärtige und stellte sich vor: »Doktor Henricus Bächerle, wenn Herr Major gestatten. Doctor medicinae und seit jüngstem hierorts ansässig und demnächst praktizierend.«
Gontard verstand. »Sie wohnen hier im Hause?« Bächerle verbeugte sich erneut, diesmal noch ein Stück tiefer. »Seit nunmehr drei Tagen.«
Die dunkle Haarpracht des Arztes wies eine schüttere Stelle auf, wie Gontard bemerkte. Seine sanfte Stimme klang angenehm und erinnerte an Heidenreichs singenden Tonfall.
»Er war gestern Abend noch kerngesund«, stellte Gontard fest, was nicht ganz dem Zustand entsprach, in dem er den Freund verlassen hatte. Aber ein paar Gläser Wein brachten einen unverwüstlichen Kerl wie Gebhardt Heidenreich nicht um! Hatte man ihn auf dem Heimweg überfallen und ausgeraubt?
Bächerle sah ihn durch seinen Kneifer mit mildem Blick an. »Mit Verlaub, Herr Major«, sagte er verhalten, »er war ganz offensichtlich stark betrunken.«
»Sie haben also den gestrigen Abend mit ihm verbracht?«, mischte sich der Commissarius ein. »Ihren Freund möglicherweise sogar nach Hause begleitet?«
Nein, das hatte er nicht, und das war vermutlich ein nicht wiedergutzumachendes Versäumnis, wie Gontard sich augenblicklich eingestand. Dass Heidenreich tot da drinnen lag, versetzte ihm einen Schock. »Ich muss ihn sehen!« Ungestüm versuchte er, den Commissarius beiseitezudrängen, der noch immer den Zugang zu Heidenreichs Stube versperrte, als gelte es, deren düsteres Geheimnis für die Ewigkeit zu bewahren. »Hat er irgendwelche Verletzungen?«
Werpel wich nicht von der Stelle. »Erwarten Sie solche?«, fragte er bedeutungsvoll.
Gontard verlor die Geduld. »Ich erwarte vor allem, dass man mich die Leiche betrachten und in gebührender Achtung von einem teuren Freund Abschied nehmen lässt«, äußerte er in scharfem Ton.
Aus Albertine Knoppe brach es heraus: »Er sieht so furchtbar aus! Als hätte er sich schrecklich quälen müssen, der Arme.«
Gontard senkte seine Stimme. »Sie haben ihn gefunden?«, erkundigte er sich mitfühlend.
Sie nickte unter Tränen, und der Doktor Bächerle setzte zur Erläuterung, vielleicht auch zu ihrer Beruhigung hinzu: »Infolge einer Überdosis an Alkohol Verstorbene bieten selten einen erfreulichen Anblick …«, worauf die Demoiselle in heftiges Schluchzen ausbrach.
Der Commissarius Werpel schien einzusehen, dass es nach dieser Erklärung nicht länger sinnvoll oder notwendig war, Gontard von der Leiche fernzuhalten, und gab endlich den Weg frei.
So leicht aber war Gontard nicht zu beruhigen. »Darf man fragen, weshalb Sie hierher gerufen wurden?«, wandte er sich an Werpel. »Um welche Art von Criminalvergehen handelt es sich Ihrer Meinung nach?«
»Das wird die Untersuchung ergeben«, antwortete der in steifem Amtston. »Die Criminal-Ordnung schreibt vor, dass der Körper eines Menschen, dessen Tod durch Gewalt, Zufall, Selbstmord oder eine bis dahin unbekannte Ursache bewirkt ist, niemals eigenmächtig beerdigt werden darf. Ein solcher Vorfall muss von demjenigen, der ihn entdeckt, sofort der Ortspolizeibehörde zur weiteren Veranlassung angezeigt werden.«
Unter Schluchzen brachte Albertine Knoppe wie zu ihrer Entschuldigung hervor: »Ich habe einen Jungen zum Herrn Commissarius gesandt. Der Herr Doktor Heidenreich hatte mir doch anvertraut, es bestünde eine sehr große Gefahr …«
Von Gontard horchte auf. Auch ihn hatte Heidenreich am gestrigen Abend mit dunklen Andeutungen überrascht, auf die er betrüblicherweise wenig gegeben hatte. Gespannt fragte er: »Um welche Art von Gefahr sollte es sich dabei handeln?«
»Das eben kann oder will das Fräulein nicht näher ausführen!«, trompetete der Commissarius unzufrieden.
»Dem Trunke Verfallene neigen gelegentlich zu irrigen Annahmen oder leiden unter überspannten Trugbildern …«, ergänzte Doktor Bächerle mit seiner sanften Stimme.
Gontard sah ihn an und schüttelte den Kopf. »Kannten Sie Doktor Heidenreich näher?«, fragte er.
Bächerles bärtigem Gesicht war keine Gefühlsregung abzulesen. »Nein«, entgegnete er höflich, »ich habe ihn lediglich mehrmals auf der Treppe gehört.«
Albertine hatte sich inzwischen gefasst. Gontard schien es, als wolle sie ihm etwas mitteilen, doch drängte Werpel nun plötzlich: »Wollen Sie Ihren Freund und Kollegen sehen oder nicht? Der Leichenwagen ist bereits angefordert. Wir warten nur noch die Ankunft des Hauseigentümers ab.«
Gontard war drauf und dran sich zu empören. Den toten Freund mit dem »Nasenquetscher« zum Koppe’schen Armenhaus zu befördern - etwas Widersinnigeres fiel einem empfindungslosen Menschen wie Werpel nicht ein! Jeder in der Residenz kannte das armselige Gefährt mit dem flachen Behältnis darauf, das die Selbstmörder, all die Unglücks- und Wasserleichen und die unter fragwürdigen Umständen irgendwo und irgendwie aus dem Leben Geschiedenen in das gerichtliche Obduktionshaus, das berüchtigte Türmchen in der Auguststraße expedierte.
Dem Commissarius schien die eilige Entscheidung angesichts Gontards Auftauchen und dessen Entrüstung wohl selbst nicht mehr ganz angemessen, weshalb er es für nötig befand, sie zu verteidigen: »Demoiselle haben uns versichert, dass hierorts keine Angehörigen des Verstorbenen ansässig sind.«
»Herr Doktor Heidenreich steht in Königlich Preußischen Militärdiensten!«, war alles, was Gontard darauf in aller Deutlichkeit zu erwidern wusste und damit dem Commissarius endgültig das Ausmaß der Fehlentscheidung klarmachte.
Was Werpel darauf erwiderte, überhörte Gontard. Er war an das Totenbett Gebhardt Heidenreichs getreten, ein schmales Matratzenlager nur, das der Dahingegangene in seinem Todeskampf anscheinend beschmutzt hatte.
Minutenlang stand Gontard stumm und starrte auf den Leichnam. Heidenreich trug ein nicht sehr reinliches Hemd, den Unterkörper verbarg eine Decke. Auf der tief eingebeulten Lagerstatt war der gekrümmte Leichnam mit ausgestreckten Unterarmen auf die Seite gerollt. Es sah aus, als hätte jemand vergeblich versucht, die Leiche auf dem Rücken auszustrecken und deren Hände zu falten.
Von Gontard, obwohl seit frühester Jugend Soldat, hatte nie an einer Schlacht teilgenommen, ja in seinem Leben überhaupt nur wenige Leichen gesehen. Diese hier erschien ihm besonders entsetzlich.
Trotz des ekelhaften Geruchs, der von dem Erbrochenen auf dem Kissen ausging, beugte er die Knie, um dem Toten in das verzerrte Gesicht unter dem wirren Blondhaar zu blicken. Erschüttert suchte er, die vertrauten Züge des Freundes zu entdecken, dessen erstarrte Arme sich ihm flehend entgegenreckten. Unter den nicht gänzlich geschlossenen Augenlidern schien Heidenreich ihn anzublinzeln, als sei alles nur ein böser Spaß.
»Haben Sie ihn gänzlich untersucht?«, fragte Gontard den Arzt, der hinter ihn getreten war. Der nickte gemessen, wies aber darauf hin, dass er noch nicht über die hiesige Approbation verfüge und demzufolge ein weiterer Kollege den Tod und die wahrscheinliche Ursache bescheinigen müsse.
»War das der Herr, dem ich auf der Treppe begegnet bin?«
Bächerle schüttelte den Kopf und blickte Werpel an. Der machte eine abwehrende Geste. »Dieser Herr hat mit dem vorliegenden Fall nicht das Geringste zu tun«, erklärte er so kategorisch, dass Gontard fragend die Augenbrauen hob. »Es handelt sich um einen Besucher des prinzlichen Vorreiters Spielvogel, der mit seiner Familie die Nebenstube bewohnt.« Werpel wies auf die Tür, hinter der noch immer ein Kind greinte. »Ich habe ihn bereits befragt.«
Wieder erschien es Gontard, als habe Albertine Werpels Aussage etwas hinzuzufügen, wage es jedoch angesichts dessen grimmiger Miene nicht.
Mit einem gewissen Unbehagen fasste Gontard seinen Eindruck zusammen: »Die ganze Angelegenheit erscheint mir reichlich mysteriös …«
»Na eben!«, mischte sich Werpel sofort ein. »Deswegen muss die Leiche umgehend zur Obduktion gelangen!«
»Dafür werde ich Sorge tragen«, sagte Gontard entschieden. Ihm lag daran, dass sein Freund Friedrich Kußmaul den Toten begutachten würde. Möglicherweise würde man Heidenreichs Leichnam vor den Studenten und fremden Ärzten im anatomischen Theater sezieren, doch das erschien ihm allemal würdiger als das erniedrigende Türmchen. Schon lange kämpfte der Professor der Staatsarzneikunde Johann Ludwig Casper um eine der Residenz angemessene Morgue, wie London oder Paris sie besaßen. Der Bau eines solchen Leichenhauses war nunmehr auf dem Charitégelände vorgesehen.
Überraschenderweise stimmte Werpel Gontards Entschluss sofort zu. Der hatte ihn im Verdacht, mit dem Leichen-Commissarius in der nahen Friedrichstraße in Absprache zu stehen, der für das gesamte Beerdigungswesen der Hauptstadt zuständig war. Ein lukrativer Posten, wie jedermann sich vorstellen konnte.
Schweren Schrittes trat von Gontard aus der engen Stube. Albertine war schon halb die Treppe hinunter, doch er konnte sie noch aufhalten. »Wann haben Sie ihn gefunden?«, fragte er.
Sie starrte ihn an, aus furchtsamen Augen, wie ihm schien, und sagte leise: »Mir fiel nicht auf, dass er heute Morgen das Haus gar nicht verlassen hat …«
Für Gontard war das keine ausreichende Auskunft. Er fragte noch einmal: »Aber wann haben Sie ihn gefunden?«
»Als ich seine Stube aufräumen wollte. Heute ist Freitag, da werden die Dielen gescheuert.«
»Als er gestern Abend nach Hause kam - ist Ihnen da etwas an ihm aufgefallen?«
Albertine blickte an ihm vorbei auf Werpel oder den Arzt, das vermochte Gontard nicht zu erkennen, und schüttelte den Kopf. »Er war wie immer …«
»Und seine Tür war nicht verschlossen?«
Für Gontards Geschmack zögerte sie zu lange mit der Antwort. »Ich kann sie öffnen …«, gab sie schließlich zögernd zu und wies ein an ihrem Schürzenband befestigtes Schlüsselbund vor.
Gontard sah ein, dass einer weiteren Befragung im Augenblick kaum Erfolg beschieden sein würde, zumal Geräusche aus dem Erdgeschoss auf die Ankunft der Eltern Knoppe hindeuteten.
»Was war das für eine große Gefahr, von der Doktor Heidenreich gesprochen hat?«
»Ich habe alles Notwendige protokolliert«, wandte Werpel sichtlich verärgert ein. »Von einer Gefahr hat sie mir gegenüber nur in sehr allgemeinen Worten gesprochen …«
»Albertine!«, tönte eine ängstliche Frauenstimme mit sächsischem Tonfall von unten. Und noch einmal, dringlicher diesmal: »Albertine!«
Und bevor Gontard zu sagen vermochte, dass er unbedingt noch einmal mit ihr reden müsse, war sie schon die Treppe hinuntergeeilt.
»Sie entschuldigen mich wohl«, sagte nun auch Doktor Bächerle. Werpel gestattete es gnädig. Der Doktor verbeugte sich beinahe ehrerbietig auch vor Gontard.
»Falls Sie noch Fragen haben bezüglich des Ablebens Ihres Freundes …«, äußerte er in teilnahmsvollem Ton, »Sie treffen mich jederzeit hier an.«
Von Gontard nickte ihm zu. »Davon werde ich gewiss Gebrauch machen«, sagte er. Und sei es nur, um zu erfahren, um wen es sich bei dem geheimnisvollen Fremden auf der Treppe handelte, den Werpel so eilfertig aus der Angelegenheit herauszuhalten suchte.
Zwei
Seiner Dienststellung nach hatte Traugott Liborius es keineswegs nötig, sich oder sein Handeln zu verbergen. Er war ein beamteter Inspector des Königlichen Polizeipräsidiums am Molkenmarkt, den allerdings gute Gründe zwangen, seine Person und seine Tätigkeit vor jedermann geheim zu halten. Die Begegnung auf der Treppe des Knoppe’schen Hauses erschien ihm deshalb höchst fatal, hatte er bis dato doch jedes Zusammentreffen mit dem Major von Gontard geschickt vermieden. Dass Gontard als der engste Freund des hinreichend verdächtigen Unruhestifters Gebhardt Heidenreich gelten musste, war ihm selbstverständlich ebenso geläufig wie die Tatsache, dass die beiden gemeinsam und im Geheimen angebliche Studien betrieben, hinter deren Sinn und Zweck zu kommen man sich amtlicherseits bisher vergeblich bemüht hatte.
Liborius, mit dem Jahrhundert geboren und demzufolge just vierzig Jahre alt, hatte sich zeit seines Lebens nur mit einem einzigen, höchst bemerkenswerten Objekt befasst, dem Menschen, und war dabei mit allen Abgründen menschlicher Verworfenheit in Berührung gekommen. Obwohl er sich niemals weiter als bis Jüterbogk aus der preußischen Residenz entfernt hatte, kannte er die Welt und durchschaute sie bis ins Kleinste. Die Menschen waren überall gleich. Und gleich gefährlich. Um das herauszufinden, bedurfte es lediglich eigener Anschauung und nicht des Studiums dicker Bücher. Wäre ihm das Schreiben leichter gefallen, hätte er seine diesbezüglichen Erkenntnisse dennoch gerne weitergegeben - natürlich nur an vertrauenswürdige Personen, deren es nicht allzu viele gab. Die Ketzerei, wie man solche Rebellion in früheren Zeiten bezeichnet hatte, machte vor niemandem Halt, nicht einmal vor Militärs und den höheren Ständen. Handwerker taten sich zusammen, um gegen die gottgewollte Ordnung zu opponieren, Schulen und Universitäten entwickelten sich zu Brutstätten staatsgefährdender Ideen, vor denen weder Zeitungen noch Theater sicher waren. Von der sogenannten Wissenschaft ganz zu schweigen. Mehr als zwanzig Jahre Erfahrung und gründliche Beobachtung gestatteten es Liborius, Begriffe wie Physik und Philosophie, Elektrizität oder Pädagogik als fremdartige und höchst nutzlose Auswüchse menschlichen Geistes einzuschätzen, sämtlich von Männern ersonnen, denen es an Gottesfurcht und Königstreue mangelte.
So war er auf diesen Doktor Heidenreich gestoßen oder vielmehr gestoßen worden, denn Liborius tat in der Regel, was der Geheime Rath von Bewerstorff am Molkenmarkt von ihm verlangte, der wiederum seine Befehle aus höheren Sphären empfing, wohin der gemeine Untertanenverstand üblicherweise nicht reichte. Dessen ungeachtet war Liborius darin geübt, auf Zwischentöne zu lauschen, Andeutungen zu erkennen und Zusammenhänge zu deuten, wo solche insgeheim bestanden, wie beispielsweise zwischen dem auffälligen Interesse Heidenreichs am Stammbaum des Königshauses, einer gewissen weiblichen Bekanntschaft des Doktors und einem weiteren Lehrer an der Artillerieschule. Den, einen alten Krieger von rechtem Schrot und Korn, wusste Liborius leicht für seine Zwecke zu gewinnen, ohne etwas von den vermuteten Hintergründen preiszugeben. Die kannte er nicht wirklich. Dass sie ein Mitglied des Herrscherhauses betrafen, war jedoch mehr als eine Ahnung.
Um wen konnte es sich handeln? Prinzen und Prinzessinnen gab es im fruchtbaren Stammhaus Hohenzollern dutzendweise. Der hochselig dahingegangene König, dessen jüngster Bruder noch unter den Lebenden weilte, hatte neben dem Kronprinzen und Nachfolger drei weitere Söhne und vier Töchter hinterlassen, über die das eine oder andere harmlose Histörchen kursierte - mehr nicht. Wer von denen in eine wie auch immer geartete Verbindung zu diesem Heidenreich und dem Oberst-Lieutenant verwickelt sein mochte, blieb ein Rätsel.
Durch einen blanken Zufall und keineswegs ganz ohne eigene Überlegung war Traugott Liborius auf eine vielverheißende Spur gestoßen, nachdem der Geheime Rath von Bewerstorff in seiner Gegenwart Einblick in ein schmales Aktenstück mit der Aufschrift P. A. genommen und ihn anschließend aufgefordert hatte, alle Anstrengungen bezüglich Heidenreich zu vermehren. »Finden Sie alles heraus, was der Kerl treibt, was er denkt, mit wem er umgeht und so fort!«
P. A., hatte Liborius gedacht und sich das Hirn zermartert, wen die geheimnisvolle Akte wohl betreffen könnte. Bis ihm im Gespräch mit einem seiner niederen Vigilanten an der Artillerieschule wie von selbst die Erleuchtung kam. »Ich glaube, der Herr Oberst-Lieutenant verdankt seine Stellung hier im Hause vor allem der Einflussnahme Seiner Königlichen Hoheit, des Prinzen August«, hatte der Zuträger treuherzig geäußert, der dort selbst nur das Gnadenbrot kaute und für gewöhnlich nichts als Geschwätz an Liborius weitergab.
Prinz August! Dass er darauf nicht selber gekommen war! Der Prinz, eine immer noch eindrucksvolle Gestalt mit schlohweißem Haar und großem Charme, galt in Berlin beinahe als ein volkstümliches Original. Seit drei Jahrzehnten Chef der preußischen Artillerie und damit auch Kurator der Vereinigten Artillerie- und Ingenieurschule, die er begründet hatte, war er seiner strengen Inspektionen und Prüfungen wegen ebenso gefürchtet, wie er bei Mannschaften und Offizieren beliebt war.
Es war allgemein bekannt, dass es sich bei dem 1779 im Schloss Friedrichsfelde geborenen Prinzen August um den letzten Spross aus der Hohenzollern-Generation des großen Friedrich handelte. Er war der Sohn von dessen jüngstem Bruder Ferdinand, der seine und Friedrichs Nichte Anna Luise von Brandenburg-Schwedt geheiratet hatte. Augusts unvergessener Bruder Louis Ferdinand war 1806 auf dem Schlachtfeld den Heldentod für Preußen gestorben und genoss noch immer allgemeine Verehrung.
Es fiel Liborius nicht schwer herauszufinden, dass ihre militärischen Ruhmestaten keineswegs das einzige waren, was die Brüder auszeichnete. Hatte bereits Louis Ferdinand nicht nur dank seiner Körpergröße und seiner musikalischen Talente bei den Damen aufsehenerregende Erfolge verbucht, so schien es auch August darauf angelegt zu haben, weibliche Schönheiten gleich im Dutzend mit seiner Huld zu beglücken. Liborius sträubten sich die spärlichen Haarfusseln unter der Perücke, und der Schweiß lief ihm den Nacken hinunter, als er sich nach und nach mit des Prinzen höchst privater Tatkraft in diesem galanten Fach vertraut machte. Wenn alle diese Angaben über den hochgeborenen Frauenliebling in unrechte Hände - sprich in die eines Doktor Heidenreich und seiner demagogischen Kumpane - gerieten, dann, so Liborius’ unmaßgebliche Meinung, verfügten die Feinde der Monarchie über explosivere Munition als Augusts gesamte Artillerie.
Leider verleitete ihn seine wohldurchdachte Annahme zu einer Unvorsichtigkeit, die beinahe bedauerliche Folgen gehabt hätte. Dem Geheimen Rath gegenüber, der ihn schon des Öfteren seines mangelnden Scharfsinns wegen getadelt hatte, erwähnte er in einer beiläufigen, aber nicht ganz absichtslosen Bemerkung den Namen des Prinzen und erzielte damit eine ungeahnte Wirkung.
»Falls in diesem Bureau und in Verknüpfung mit angewiesenen geheimen Untersuchungen noch einmal der Name eines Mitgliedes der Königlichen Familie fällt, sind Sie ein toter Mann, Liborius!«, brüllte von Bewerstorff.
»Zumindest finden Sie sich als Constabler im letzten Winkel der posenschen Provinz wieder. Haben Sie das begriffen? Der Königliche Hof hat außerhalb aller Ihrer dümmlichen Erwägungen zu stehen!«
Liborius verstand nur allzu gut, gedachte jedoch, sich nur mit Einschränkungen daran zu halten. Immerhin hatte ihm der Wutausbruch Seiner Exzellenz die Richtigkeit seiner Mutmaßung bestätigt. Zwar wusste er noch immer nicht, wie ausgerechnet die Subjekte, auf deren Spuren er wandelte, unmittelbar mit der Person des Prinzen verkettet waren, aber das beabsichtigte er, allmählich herauszubringen. Auf diesen Heidenreich und seinen Umgang schien es hauptsächlich anzukommen. Also hatte er im Laufe von Monaten entsprechende Vorsorge getroffen, jederzeit über dessen Handeln informiert zu sein, ja, er war sich nicht einmal zu schade, die Wege des Delinquenten mitunter aus angemessener Entfernung selbst zu überwachen, wie er es am vergangenen Abend getan hatte. Ein grober Fehler, wie ihm schwante, nachdem er dem Major von Gontard begegnet war.
Wie sollte es jetzt weitergehen mit seinen Ermittlungen, nachdem das Objekt seiner Aufmerksamkeit eines so unerwarteten Todes gestorben war? Am Molkenmarkt würde man allerlei Fragen stellen. Weshalb hatte er alle Schritte dem Criminal-Commissarius überlassen und nicht sofort allen irdischen Besitz des Toten mit Beschlag belegt? Dazu hätte er sich der Knoppe-Tochter und dem fremden Doktor gegenüber aus seiner Deckung begeben müssen. Wie aber sollte es ihm jetzt, nach Gontards Auftauchen, noch gelingen, verräterisches Schrifttum im Besitz oder aus der Feder des Verstorbenen sicherzustellen?
Sorgenvoll machte sich Traugott Liborius auf den Weg zum Molkenmarkt. Er ahnte, dass ihm Unannehmlichkeiten bevorstanden. Wenn er Glück hatte und seine Begegnungen mit Gontard verschwieg, setzte der Rath ihn gegebenenfalls auf den Major an. Eine erste Verbindung in dessen nächster Umgebung war bereits geknüpft, und die zur Artillerieschule ließen sich weiter nutzen. Nur er selber musste sich vorläufig fernhalten von diesem Gontard mit dem scharfen Blick.
Während er an der Schlossfreiheit vorbei hinüber zur Breiten Straße eilte, erinnerte er sich an das Zusammentreffen auf der Treppe. Hatte sich im Gesicht des Majors so etwas wie ein Wiedererkennen gespiegelt? Er selbst war am Vorabend viel zu sehr mit Heidenreich und seinen trunkenen Reden beschäftigt gewesen, um auf Gontard zu achten. Was mochte Heidenreich dem zugeflüstert haben?