Kitabı oku: «Verhängnis in der Dorotheenstadt», sayfa 2
Drei
An jenem Abend war Heidenreich seinem Freund Gontard munterer und besser aufgelegt erschienen als in den Monaten zuvor. Die lärmende Meute, dicht um den Doktor gedrängt, musste selbst einem Tauben auffallen, betrat er den verräucherten Keller in der mittleren Friedrichstraße nahe Unter den Linden, der sich prahlerisch als Kasperskis Weinstube ausgab und dabei eher einer billigen Tabagie glich.
Gontard, mit dreißig Jahren im besten Mannesalter, war weder hörgeschädigt, wie es bei Artilleristen nicht eben selten vorkam, noch ein Kostverächter. Manchen Abend hatte er hier in Heidenreichs Gesellschaft gezecht. Im Augenblick allerdings verspürte er keine Neigung, sich dem ausgelassenen Kreis um den Kollegen anzuschließen. Er war müde. Lärm und überflüssige Reden hatte er tagsüber wahrhaftig genügend ertragen müssen. Er war nur durstig und nicht bereit, an diesem besonderen Tag auf den gewohnten Schlummertrunk zu verzichten.
Gab es nicht allen Grund zum Feiern? Der König ist tot, es lebe der König - das galt für den inzwischen 45-jährigen ewigen Kronprinzen allemal, der lange auf diesen Tag hatte warten müssen. Seine Untertanen fühlten mit ihm und hofften auf ihn. Es konnte ja nur besser werden. Zumindest anders. In den vergangenen zehn Jahren hatte sich in Preußen nicht viel bewegt, sah man von den ausufernden Aktivitäten der Polizei und ihrer ungezählten Zuträger einmal ab und davon, dass seit zwei Jahren eine Eisenbahn zwischen Berlin und Potsdam verkehrte. Auf dem Gelände der alten Scharfrichterei entstand gerade der Stettiner Bahnhof.
»Bleierne Jahre« nannte Heidenreich das Jahrzehnt stets, um im nächsten Atemzug einen Vortrag über die vorzüglichen elektrischen Eigenschaften ebendieses unedlen Metalls anzustimmen. Hingewiesen auf den in seinen Worten schlummernden Widerspruch bei der Bewertung des grauen Elements, wusste Heidenreich seinen Exkurs sogleich auf die positive wie negative Wirkungsweise und Richtung des elektrischen Stroms auszudehnen, was endlich auch den letzten Zuhörer die Ohren verschließen ließ. Es sei denn, es handelte sich um einen jener übereifrigen Schüler, die jede Äußerung aus Heidenreichs Mund für Manna nahmen, während andere sie heimlich mitschrieben, um sie höheren Ortes anzubringen, wo man sie ebenfalls nicht recht zu deuten wusste. Heidenreichs ergänzende Behauptung zur bleiernen Zeit, es könne bekanntlich noch so dumm kommen, man lerne immer etwas dazu, forderte einen Vorwitzigen immerhin zu der Frage heraus, wie er das wohl meine. Worauf Heidenreich empört seine wilde Mähne schüttelte und den Fragenden durch seinen Kneifer fixierte. »Doch wohl so, wie Sie es verstehen, werter Herr!«
Das war Gebhardt Heidenreich, wie er leibte und lebte, und an diesem Abend schien er ganz in seinem Element, bemerkte jedoch in einem wachen Moment den eben eingetretenen Freund und erhob sich zu dessen übertrieben unterwürfiger Begrüßung. Dass er damit nur die vormitägliche Huldigung von Friedrich Wilhelm IV. durch die untertänigen Berliner Bürger karikierte, fiel vermutlich nicht alleine von Gontard auf. Auch ihn hatte das Stunde um Stunde währende Zeremoniell zunehmend angewidert, all diese Lobhudeleien und Ergebenheitsadressen an einen Monarchen, der sich im Gegensatz zu seinem einsilbigen Vater und Vorgänger, auf den er sich ausdrücklich berief, als erstaunlich redselig erwies und im Laufe der Feierlichkeiten mehrfach das Wort ergriff, ohne dabei allerdings Wesentliches verlautbaren zu lassen. Verstanden hatten ihn ohnehin nur diejenigen, die der eigens errichteten hölzernen Empore nahe genug standen, einem mit einer geschmückten Balustrade und weiten Treppenaufgängen versehenen Vorbau vor der Lustgartenfassade des Schlosses, unter deren höchster Überdachung Friedrich Wilhelm in seinem Thronsessel die Zeremonie genoss.
Gontards Geschmack traf derlei Pomp und Aufwand nicht, doch hatte er als Militär gelernt, seine persönlichen Anschauungen für sich zu behalten. Eigene Meinungen waren in Preußen nicht gefragt. Das würde sich kaum ändern. Anscheinend fiel es den wenigsten Staatsbürgern auf, dass vom neuen König öffentlich nicht nur vom Herrscher, sondern auch vom »Beherrscher« die Rede war.
Dabei hatte dessen Herrschaft im Sommer durchaus hoffnungsvoll begonnen. Der huldvolle Monarch hatte die vor Jahren zum Tode verurteilten Burschenschafter endgültig freigegeben und im Laufe seiner ersten Regierungsmonate noch mancherlei getan, was die Erwartungsvollen wie die Unzufriedenen beruhigte. In fröhlicher Runde konnten Heidenreich und Gontard die Gläser auf die neuernannten Leuchten der Wissenschaft an der Universität erheben, die wegen ihrer Unbotmäßigkeit in Göttingen abberufenen Gebrüder Grimm, die nunmehr das Berliner Geistesleben beflügeln würden. Was von dem erzkonservativen Stahl kaum zu erwarten war, wie Heidenreich sofort eingewandt hatte. Dass man zahnlose Greise wie den alten Turnvater Jahn nicht länger unter Polizeiaufsicht zu halten gedachte und betagte Alt-Politiker wie Herrn von Boyen wieder zu Generälen berief, hielt er kaum für ein Anzeichen künftiger Liberalität. Die Verfassungsfrage, so dozierte er, sei der entscheidende Faktor, an dem sich jede Progression der Monarchie messen lasse.
Die im Mai 1815 im Überschwang des Sieges über die Franzosen von Friedrich Wilhelm III. versprochene Verfassung war im Laufe der Jahre zumindest beim König selbst gänzlich in Vergessenheit geraten - nicht jedoch bei seinen Landeskindern. Bald hatten die drakonischen Demagogenverfolgungen das ihre dazu beigetragen, die Erfüllung jenes Versprechens besser nicht anzumahnen. So blieb es 25 Jahre lang.
Im September 1840 hatte der neue Monarch die Erbhuldigung der Stände des Königreichs Preußen und des Großherzogtums Posen hinter sich gebracht und bei dieser Gelegenheit sechs neue Grafen und einen Freiherrn ernannt, zehn Rittergutsbesitzer in den Adelsstand erhoben und 53 Orden verliehen. In Berlin hatte Ähnliches in weitaus größerem Maße stattgefunden. Alles nur billiger Protz, wie Heidenreich schon vorher gegenüber von Gontard anzumerken wusste, der ihm nicht widersprach.
Immerhin hatte sich bereits in Königsberg erwiesen, wie der neue Friedrich Wilhelm auf das eigentliche Problem Brandenburg-Preußens reagierte. Dort hatte sich der Landtag des alten Rechts besonnen, anlässlich der Huldigung Bitten und Beschwerden vorzubringen. Mit großer Mehrheit wurde der Antrag auf reichsständische Verfassung gemäß dem königlichen Versprechen vom 22. Mai 1815 vorgetragen, was der König höchst ungnädig aufgenommen und im Landtagsabschied glatt abgelehnt hatte. Der vorige König, so ließ Friedrich Wilhelm IV. den in allen Landen ernüchtert aufhorchenden Untertanen verkünden, sei nach reiflicher Überlegung von der allgemeinen Volksvertretung zurückgekommen und habe sich zu der provinzial- und kreisstädtischen Verfassung als dem der deutschen Volkstümlichkeit entsprechenden Weg entschlossen. Diesen Weg werde auch er selbst unabänderlich verfolgen.
Damit war alles gesagt. Von Gontard, seitens der Familie von durchaus königstreuer Herkunft und an Unabänderliches gewöhnt, missbilligte Heidenreichs Erregung dennoch nicht, fürchtete jedoch, dass den Freund noch mancherlei Schwierigkeiten erwarteten.
Zum Ritterstande gehörig, durfte von Gontard zusammen mit den Standesherren und dem hohen Klerus an der Huldigung im Weißen Saal des Schlosses teilnehmen, während sich bürgerliche Naturen wie Heidenreich nach dem Défilé im verregneten Lustgarten eilig in die trügerische Geborgenheit des Kasperski’schen Weinkellers zurückzogen. Wie lange sie hier schon beieinanderhockten, war der Lebhaftigkeit und Lautstärke ihrer Gespräche anzumerken, wobei sie sich bezüglich der Themen keineswegs die übliche Zurückhaltung auferlegten. Es schien, als fürchte an diesem Abend niemand die tausend Ohren der Geheimen Polizei, die in Kasperskis Etablissement so sicher lauschten wie an jedem öffentlichen Ort. Unweit der dichtgedrängten Heidenreich’schen Schar, die Kasperski persönlich bediente, hockte auch hier einer ganz allein an einem Tischchen, schlecht getarnt durch ein Journal, in dem er vorgab zu lesen, und ließ die Kugelaugen hin und her blitzen.
Auch dieses Spähers wegen hielt es von Gontard für geraten, sich mit einer abwehrenden Handbewegung bei Heidenreich zu entschuldigen und ihn mit einer weiteren Geste vor allzu großer Kühnheit zu warnen, bevor er sich einen ruhigeren Platz suchte. Zu seiner Überraschung fand er den im Nebenraum, wo eine weitere muntere Runde bei einem guten Schoppen am Tisch saß, darunter der Schriftsteller Julius Eduard Hitzig. Was mochte den an einem solchen Abend ausgerechnet in Kasperskis schlecht beleumdetes Etablissement getrieben haben?
»Nun? Wie sieht es mit unserem Freund Bathurst aus?«, rief der lebhafte kleine Mann von Gontard fröhlich entgegen. »Dürfen wir die Reste seines Leichnams demnächst in Augenschein nehmen, oder haben Sie ihn lebend in Frankreich aufgespürt?«
Hitzigs gealtertem Kindergesicht hinter der Brille sah man den ehemaligen Criminalrath und Kammergerichtsdirector nicht ohne weiteres an. In Preußens Leidensjahren aus dem Staatsdienst entlassen, hatte der Jurist sich erfolgreich als Übersetzer, Verleger und Buchhändler versucht und erste eigene Werke veröffentlicht. In jenen Jahren genoss sein Lesezimmer nicht nur unter den Studenten anhaltenden Ruhm. Er war ein vielseitiger Mann, wie er acht Jahre lang als Herausgeber der Zeitschrift für die Criminal-Rechts-Pflege in den Preußischen Staaten oder als Begründer und Mitglied der literarischen Mittwochsgesellschaft bewiesen hatte.
Seine engsten Freunde, die Dichter E. T. A. Hoffmann und der mit Hitzigs Pflegetochter Antonie verheiratete Adelbert von Chamisso, waren inzwischen dahingegangen. Hitzig, seit einigen Jahren nur noch schriftstellernd, dachte daran, deren Lebensbeschreibungen zu verfassen. Das Haus in der südlichen Friedrichstraße teilte Hitzig mit der Tochter Clara, ihren Kindern und ihrem Mann, dem angesehenen Kunsthistoriker und Professor Franz Kugler. Eine zweite Tochter war die Frau des berühmten Geodäten Baeyerlein.
Der Familie gehörte auch das prächtige Palais Itzig in der Burgstraße, denn Hitzig war der Enkel des Oberhofbanquiers Friedrichs des Großen, Daniel Itzig. Seine Schwester Lea war mit einem Sohn des großen Moses Mendelssohn verheiratet, und sein Sohn Georg galt als hoffnungsvoller und vielversprechender Architekt.
Gontard schätzte Hitzig als einen amüsanten und sachkundigen Gesprächspartner, der gerne mit interessanten Fällen aus seiner reichen Berufserfahrung aufwartete. Umso weniger schätzte er es allerdings, gänzlich unerwartet in den Mittelpunkt allgemeiner Aufmerksamkeit zu geraten. Also versuchte er, die angesprochene Suche nach dem verschwundenen Bathurst herunterzuspielen, indem er die Rolle des beschämten Verlierers übernahm. »Sie haben leider recht behalten, lieber Herr Criminalrath. Ich habe nicht das Geringste herausgefunden.«
Voller Enttäuschung war er erst wenige Tage zuvor in die preußische Residenz zurückgekehrt. Trotz aller Mühe war es ihm nicht gelungen, das mysteriöse Verschwinden des Lord Bathurst aufzuklären. Glücklicherweise hatte er sich diesbezüglich auf keine Wette mit den beiden Schriftstellern und Rechtsgelehrten Hitzig und Alexis eingelassen, die seit längerer Zeit ein Buch in der Art des Franzosen Pitaval über bemerkenswerte Criminalfälle planten. Seit sie in seiner Anwesenheit im Café Stehely das geheimnisvolle Verbrechen an dem jungen englischen Diplomaten in all seinen Facetten erörtert hatten, war ihm der Fall nicht aus dem Sinn gegangen. Da er nun einmal die trübe Oktoberwoche nach Michaelis auf seinem Gut in der wenig aufregenden Prignitz zu verbringen gedachte, ließ sich diese Gelegenheit günstig nutzen, nicht nur den eigenen Pferdebestand gründlich zu prüfen, sondern auch seinem heimlichen Steckenpferd einmal richtig die Sporen zu geben. Insgeheim hoffte er, dass ihm seine vorzüglichen englischen Sprachkenntnisse dabei von Nutzen sein würden. Christian Philipp von Gontard lechzte nämlich geradezu danach, grausame Mordtaten oder andere Verbrechen aufzuklären und den oder die Täter der irdischen Gerechtigkeit zuzuführen.
Statt sich also um sein Gut, seine Frau Henriette und seine beiden Kinder zu kümmern, hatte er beinahe eine ganze Woche damit verbracht, in Perleberg und Umgebung auf den Spuren des vermutlich ermordeten oder zumindest entführten englischen Gesandten zu wandeln und nach dessen Verbleib zu forschen. Ohne nennenswertes Ergebnis, wie er sich eingestehen musste.
Immerhin hatte er eine gewichtige Zeugin der rätselhaften Geschehnisse ausfindig gemacht und befragt. Die Widersprüche zwischen ihren Erinnerungen und den in den Amtsstuben der Stadt vorhandenen spärlichen Protokollen und Papieren lagen auf der Hand und waren mit seinem begrenzten Wissen nicht zu klären.
Musste er sich wirklich mit der Erkenntnis zufriedengeben, dass hier entweder ein kaltblütiger Raubmord fahrlässig oder vorsätzlich auf völlig unzureichende Weise untersucht worden war? Oder steckte doch ein verborgenes Spiel weit höherer Mächte hinter alldem, das aufzuklären er nicht imstande war? Jedenfalls nicht mehr nach gut dreißig Jahren, denn der junge Lord - oder wer auch immer der fremde Reisende wirklich gewesen sein mochte - war am Abend des 25. November 1809 letztmalig lebendig gesehen worden, vor fast 31 Jahren also.
Im Nachhinein belächelte von Gontard sein Vorhaben, das historische Rätsel lösen zu wollen. Es um ein Weniges aufzuhellen, bedurfte es mindestens einiger Auskünfte aus England und eines tiefen Blicks in die Archive der napoleonischen Geheimpolizei. Er kannte ja nicht einmal alle preußischen Unterlagen, und Zugang zum Geheimen Staatsarchiv würde man ihm kaum gewähren. Vielleicht konnte ja Hitzig behilflich sein.
Das Schankmädchen hatte indes auf dessen fordernde Geste hin einen weiteren Stuhl herbeigeschleppt, und Gontard blieb nichts anderes übrig, als sich niederzulassen. »Was ich tatsächlich herausgefunden habe, schildere ich Ihnen besser ein andermal«, raunte er seinem Nachbarn zu. Der nickte beifällig, und nur einer der Herren fragte mit schwerer Zunge nach, um was für einen Leichnam es sich denn handle.
Hitzig winkte ab. »Ein alter und beinahe vergessener Criminalfall«, sagte er. »Der Herr Major betreibt gelegentlich das Gewerbe eines detective, wie man derlei Leute in England tituliert.«
»Und Sie und Ihr Freund Häring bringen seine Abenteuer zu Papier!«, vermutete der Fragende und sah sich um Zustimmung heischend im Kreise um. Die anderen am Tisch waren an ihrem vorherigen Gesprächsgegenstand hängengeblieben und stritten weiter über Wert oder Unwert der zahlreichen vom König ausgesprochenen Standeserhöhungen und Gnadenbeweise.
»An altem Adel mangelt es uns wahrhaftig nicht«, meinte Hitzigs linker Nachbar und blickte von Gontard entschuldigend an, bevor er fortfuhr. »Und an verarmtem wohl ebenso wenig. Wozu benötigen wir da einen neuen Verdienstadel, der nicht einmal mehr an den rittermäßigen Grundbesitz gebunden sein soll? Das schafft nur einen neuen armen Adel, der sich verstärkt in die Staatsämter drängen wird!«
Ein glattrasiertes Habichtgesicht widersprach lebhaft:
»Meinicke, in Ihnen steckt immer noch der verkappte Demagoge! Kaum hat der König die ersten wohlbedachten Maßnahmen ergriffen, streuen Sie Ihre unbedarfte Kritik darüber aus! Der neue Adel ist in zweiter und dritter Deszendenz, will sagen, in absteigender Erblinie, sehr wohl an den Landbesitz gebunden.«
»Immer mehr große Güter befinden sich in bürgerlicher Hand«, entgegnete ein Kahlkopf undeutlich und ohne dabei das Mundstück seiner überlangen Pfeife zwischen den gelben Zähnen loszulassen, indessen ein anderer gehässig ergänzte: »Wenn nicht gar in jüdischer!«
Worauf sich für einen Augenblick verlegenes Schweigen ausbreitete, wusste doch jeder hier am Tisch, dass Julius Eduard Hitzig vor seiner Taufe Isaak Ephraim Itzig geheißen hatte. Seine jüdische Familie war die erste in Preußen gewesen, der ein königliches Dekret die vollen Bürgerrechte gewährt hatte.
Hitzig, in sechzig Lebensjahren an stärkere Attacken gewöhnt, lachte nur gutmütig und sagte: »Das ist allemal der wirkliche Kummer, dass nun sogar reiche Juden geadelt werden könnten! Nur bei den Staatsämtern sieht es bisher weniger günstig aus.«
»Eben!«, meldete sich wieder der Adelskritiker. »Sagt doch der Paragraph 35 des Allgemeinen Preußischen Landrechts eindeutig: Der Adel ist zu den Ehrenstellen im Staate vorzüglich berechtigt!«
Von Gontard war dieser Art von Debatten überdrüssig, vermochten sie doch nicht das Geringste an den Entscheidungen des Monarchen und seiner Ratgeber zu ändern. Preußen war nicht England oder Frankreich.
Wie um ihn zu erlösen, vernahm er plötzlich eine vertraute Stimme an seinem Ohr: »Du wirst begeistert sein von dieser Aufgabe!«
Mit triumphierender Miene stand Heidenreich hinter ihm, den Zeigefinger erhoben und ein wenig schwankend, als wehe ein kräftiger Wind durch das Kellergewölbe und zause seine wirre Haarpracht.
Gontard, einerseits zufrieden über die Ablenkung, von der niemand außer ihm am Tisch Notiz nahm, andererseits in Erwartung eines der üblichen Heidenreich’schen Geistesblitze, sagte: »Dein Telegraph funktioniert endlich!«
Heidenreich schüttelte seine Löwenmähne. »Leider nicht. Sonst wäre ich schon klüger.«
Er rückte mit seinem Mund so nahe, dass Gontard den heißen Atem, ja ein feines Sprühen an seinem Ohr spürte. »Es ist eine exorbitante Entdeckung«, flüsterte er mit trunkener Zunge, »die ich da mit hochgradiger Wahrscheinlichkeit gemacht habe!«
Gontard war nicht erpicht darauf, zu dieser Zeit und in dieser Umgebung Teilhaber eines Geheimnisses zu werden, das sich im Licht des Tages unter Umständen als eine der voreiligen Schwärmereien des Freundes entpuppen mochte. »Du wirst es mir morgen gewiss genau erklären«, äußerte er in normaler Lautstärke, worauf Heidenreich erschrocken den Finger über die Lippen legte und sich scheu im Kreis umblickte, als fürchte er einen heimlichen Lauscher. In der Tischrunde war der kaum zu befürchten, doch als von Gontard sich umwandte, nahm er den falschen Zeitungsleser aus dem anderen Raum wahr, der sich wie suchend nach einem Platz umsah und dabei dicht an Heidenreich vorbeistrich.
»Die Angelegenheit ist nicht ohne Gefahr!«, zischelte der in Gontards Ohr. »Ich verspreche dir, sie wird dein höchstes Interesse wecken und erfordern!«
»Das hoffe ich sehr, mein Lieber«, sagte Gontard. »Du weißt, wie schwer Langeweile für mich zu ertragen ist.«
Vier
So verhielt es sich in der Tat. Christian Philipp von Gontard hasste Langeweile. Vielleicht hatte er sich ja deshalb mit dem unruhigen Feuerkopf Heidenreich zusammengetan, der von großen Entdeckungen und Erfindungen träumte. An jenem Abend seiner Rückkehr aus der Prignitz, der sein letzter gemeinsamer mit Heidenreich werden sollte, hatte Gontard an seinem zierlichen Schreibmöbel in dem kleinen Salon seiner Wohnung in der Dorotheenstraße gesessen. Vertieft in seine Aufzeichnungen zum Fall Bathurst, gelang es ihm nicht, Licht in das Dunkel der Affäre zu bringen.
Draußen sank die Dämmerung herab, aus der Tanzdiele schräg gegenüber schallte der übliche Lärm, der sich im Laufe der Abendstunden noch steigern würde. Nacheinander flammten in der Dorotheenstraße die Gaslichter auf. Seufzend zündete Gontard zwei Kerzen an. Bis jetzt hatte er es nicht geschafft, seinen Hauswirt und Vermieter zu überreden, sich für die zeitgemäße Form der Beleuchtung zu entscheiden. Der führte die schlechten Zeiten als Grund an, obwohl seine Geschäfte sich in diesem Jahr gut entwickelt hatten und angesichts der anstehenden Feierlichkeiten eine wahre Goldgrube darstellen mussten. Adam Zerkelwitz war Fouragehändler, Pferde brauchten nun einmal ihr Futter, und die Königlichen Ställe lagen nahe.
Christian Philipp von Gontard besaß in der Nähe von Kyritz ein Gut, dessen Verwaltung er gerne dem älteren Bruder seiner Frau überließ, einem hagestolzen Krautjunker, der an mancherlei Launen seiner Schwester gewöhnt war und der das Beste aus Wutike zu machen verstand. Ihm verdankte Gontard auch den jungen Hengst Waldemar, auf dessen Rücken er die zwölf Meilen vom Gut hierher zurückgelegt hatte. Oft würde er dem Tier, das sich nun im Stall bei der Tierarzneischule erholte, eine solche Strecke nicht zumuten. Auf den täglichen Ritt durch den Thiergarten aber freute er sich schon lange.
Gontard, in Berlin geboren und aufgewachsen, war an das großstädtische Leben in der Residenz gewöhnt. Trotz seines Interesses für alles Criminale hatte er die militärische einer Laufbahn bei der übel beleumdeten Polizei vorgezogen. Er war der Spross einer einst adligen Hugenotten-Familie, von deren bedeutendstem Sohn tiefe oder vielmehr sichtbar emporragende Spuren in der Berliner und Potsdamer Architektur kündeten. Der berühmte Architekt und Baumeister Carl Philipp Christian von Gontard, der für seine Verdienste vom Kaiser Joseph 1767 erneut in den erblichen Adelsstand versetzt wurde, war sein leiblicher Großvater. Fürstenwillkür und Hofintrigen hatten den genialen Mann früh ins Grab gebracht. Dabei verdankte ihm die Residenz die eindrucksvollen Königs- und die Spittelkolonnaden, das Rosenthaler und das Oranienburger Thor und - neben manchem Bürgerhaus im eleganten Zopfstil - Berlins schönsten Platz, den Gensdarmen-Markt mit seinen beiden Kirchtürmen. Nur Böswillige erinnerten gelegentlich an den Einsturz des Deutschen Doms während des Baus. Dergleichen war auch dem großen Schlüter widerfahren.
Auch mit diesem historischen Vorfall hatte sich der Enkel ernsthaft beschäftigt, dabei aber keine Spuren crimineller Machenschaften entdecken können. Christian Philipp war bei allem romantischen Interesse für Ereignisse ungewöhnlicher Art ein nüchtern und rational denkender Mensch, der seine Berufung darin gefunden hatte, die künftigen preußischen Artillerie-Offiziere in der Kunst ihrer Waffen und in der Ballistik zu unterrichten. Dass der Umgang mit dem Pulver gewisse gefährliche Besonderheiten aufwies, war ihm nicht unbekannt. Häufig referierte er vor seinen Schülern über die Explosion des alten Pulverturms am Spandauer Thor, bei der im August 1720 insgesamt 72 Personen den Tod gefunden hatten und der König selbst nur durch eine gottgewollte Verspätung mit dem Leben davongekommen war.
Ob es sich tatsächlich um eine göttliche Vorsehung - immerhin war die Garnisonkirche samt Schule zerstört worden - oder um eine höchst irdisch vorbereitete Verzögerung gehandelt hatte, war ihm bei aller Mühe nicht gelungen herauszufinden. Der Soldatenkönig war alles andere als eine beliebte Persönlichkeit gewesen.
Derlei ketzerische Erwägungen erwähnte Gontard niemandem gegenüber. Er war ein königstreuer Offizier und klug genug, nicht wider den Stachel zu löcken. Das überließ man besser den Burschenschaftern und anderen Feuerköpfen, denen sich die politische Polizei mit all ihren Spitzeln und Zuträgern und am Ende das Untersuchungsgericht in Köpenick widmeten. Nicht mehr lange, wie man allgemein hoffte.
Es klopfte an der Tür, und ohne eine Antwort abzuwarten, schob sich seine Wirtschafterin Madame Koblank ins Zimmer, eine resolute Person unbestimmbaren Alters und ebenso unbestimmter Haarfarbe und -tracht. Sie hatte nicht mit seiner heutigen Rückkehr gerechnet. »Jewiss jedenken der Herr Major noch auszujehn?«, vergewisserte sie sich. »Sonst müsste ick zum Abendbrot leider was aus’n Jasthof holen …«
Nach dem langen Ritt fühlte sich Gontard eigentlich nicht in Stimmung, das Haus noch einmal zu verlassen, doch den Rest des Tages in der tristen Stube zu verbringen, danach stand ihm der Sinn noch weniger. Eine gute Woche Landaufenthalt hatte genügt, seine Leidenschaft für den Glanz und die Freuden der Residenz erneut anzufachen. Er liebte seine Henriette, und sobald er Wutike verlassen hatte, sehnte er sich nach ihr und den Kindern. Denen gegenüber hatte er ein besonders schlechtes Gewissen. Was sollte in dieser ländlichen Einöde nur aus ihnen werden?
Doch all sein Bemühen, Henriette zu einem Umzug in die Stadt zu bewegen, scheiterte an ihrer kategorischen Ablehnung. »Du weißt, ich habe es versucht«, so lautete ihr Einwand. »Ich werde krank von all diesem Gerenne und Getue, diesen alltäglichen und allabendlichen Aufregungen. Du hast gewusst, dass du ein einfaches Mädchen vom Land ehelichst …«
Nun, ein ganz so einfaches Mädchen war sie nicht, und ausgehalten hatte sie es mit ihm kaum ein halbes Jahr in Preußens Hauptstadt. Die Familie derer von Herzsprung besaß rings in der Mark umfangreiche Ländereien bis hinauf nach Mecklenburg-Strelitz, und der alte Baron hatte seinen drei Töchtern wie den sechs Söhnen eine wahrhaft fürstliche Erziehung angedeihen lassen. Dennoch war eines der Mädchen früh ins Kloster gegangen und die Älteste unlängst im Gefolge eines Musikers zweifelhafter Herkunft gen Italien verschwunden. Aus dem Bruder Heinrich war ein bigotter Pfaffe geworden, der seinem Sprengel in der nahen Spandauischen Vorstadt mit pietistischer Sittenstrenge vorstand und überdies zu Gontards Ärger dazu neigte, jeden Schritt seines ungeliebten Schwagers Christian Philipp zu überwachen, moralisch zu bewerten und nach Wutike zu melden.
Nicht etwa, dass Gontard sich etwas vorzuwerfen hatte. Sein ungebundenes Leben quasi als Junggeselle brachte eben die eine oder andere Anfechtung mit sich, der er sich nicht in jedem Falle entzog. Für Heinrich jedoch galten bereits der bloße Aufenthalt in einer der Berliner Conditoreien als verwerflich, das Rauchen und der Genuss alkoholischer Getränke als Todsünde. Glücklicherweise reagierte Henriette, die in mancher Hinsicht ebenfalls zu gewissen Affektionen neigte, mit Gelassenheit auf Heinrichs Anzeigen. Gontard aber stieg die Röte ins Gesicht, wenn sie ihm lächelnd pikante Stellen aus dessen denunziatorischer Correspondenz vorlas. Es war weniger die Scham vor Henriette als vielmehr die Gewissheit, dass derlei auch im schwarzen Postkabinett aufmerksam gelesen und vermerkt wurde und dem Fortkommen eines preußischen Offiziers kaum förderlich sein konnte.
Vielleicht würde sich das jetzt ändern. Seit dem Tod des alten Monarchen sprach man allerorten davon, und auch heute Abend würde es in den Cafés und Tabagien, in den billigen Bierschwemmen wie den vornehmen Stadtpalais kaum ein anderes Gesprächsthema geben. Am 21. September war Friedrich Wilhelm IV. mit seiner Elise durch eine reichgeschmückte Triumphpforte in die Stadt eingezogen, für den kommenden Donnerstag waren die Huldigungsfeierlichkeiten für den neuen Herrscher angesagt.
Erst jetzt merkte Gontard, dass Minna Koblank seit mindestens fünf Minuten von nichts anderem schwatzte als von ebendieser Ehrenerweisung für Fritz und Lörchen, wie sie das Königspaar vertraulich titulierte. Er nahm kaum wahr, dass da mancherlei Despektierliches in ihrem Redefluss dahinplätscherte, vermutete sie doch, dass der neue König sich vor den Anstrengungen der Festlichkeit mit einem kräftigen Trunk stärken würde, wie es nun einmal seine Art sei. »Der Butt«, so nannte sie ihn mit dem von ihm selbst gewählten Namen, verdanke seinen Leibesumfang gewiss nicht allein dem reichhaltigen Essen bei Hofe.
»Es ist gut, Minna«, sagte Gontard mit einem missbilligenden Unterton, den sie geflissentlich überhörte. »Ich gehe noch aus.« Nach den Tagen in der ländlichen Einsamkeit verspürte er geradezu das Bedürfnis nach einem guten Gespräch. Henriette hatte ihn mit den Nichtigkeiten der Kindererziehung und des Landlebens geplagt, und der fischige Schwager hatte fast immer mit vorwurfsvollem Gesichtsausdruck geschwiegen. Er missbilligte von Gontards fortwährende Abwesenheit und war doch im Grunde seines Herzens beglückt, in Wutike ungestört den Herrn spielen zu können.
Trotz seines Perleberger Misserfolges freute sich Gontard auf einen Abend mit den Herren Alexis - der eigentlich Häring hieß - und Hitzig. Die beiden würde er zu dieser Stunde sicher im roten Salon bei Stehely am Gensdarmen-Markt antreffen. Möglicherweise las dort auch sein Freund, der Mediziner Doktor Friedrich Kußmaul, die ausliegenden Journale. Sein Freund und Kollege Gebhardt Heidenreich verkehrte hingegen eher in Etablissements etwas niederer Kategorie, wo er dem Trunke in den letzten Monaten ein wenig zu heftig zusprach und außerdem sicher sein konnte, unter den Studenten der Universität oder des eigenen Bildungsinstituts eine halbwegs aufmerksame Zuhörerschar zu finden. Vielleicht aber, und das schien wahrscheinlicher, hockte Heidenreich wieder einmal über seinen Experimenten und hatte Raum und Zeit und hoffentlich auch den Alkohol vergessen. Gontard war sicher, dass irgendein stiller Kummer Heidenreich plagte, doch wenn es um Persönliches ging, verschloss der sich selbst dem engen Freund gegenüber wie eine Auster.
Irgendwann wird es noch einmal ein böses Ende mit ihm nehmen, dachte Gontard besorgt, während er sich für den Abend umzog.