Kitabı oku: «Lesen in Antike und frühem Christentum»

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Jan Heilmann

Lesen in Antike und frühem Christentum

Kulturgeschichtliche, philologische sowie kognitionswissenschaftliche Perspektiven und deren Bedeutung für die neutestamentliche Exegese

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ORCID iD Jan Heilmann: 0000-0003-2815-6827

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ISSN 0939-5199

ISBN 978-3-8252-5446-9 (Print)

ISBN 978-3-7720-0149-9 (ePub)

Inhalt

  Kapitel

  ICHHALTEJEDOCHDASVORANGESCHRIEBENEFÜREINENÜTZLICHESACHEDAESDIEJENIGENDIEESINTENDIERTLESENWOLLENORIENTIERTDIEJENIGENDIEZUFÄLLIGAUFDASBUCHSTOSSENZUMLESENERMUNTERTUNDENDLICHDENJENIGENDIENURETWASNACHSCHLAGENWOLLENBEIMSCHNELLENAUFFINDENHILFT

  Vorwort

  Präliminarien

 1 Einleitung1.1 Lesen im frühen Christentum – Zum Forschungsstand1.1.1 Lesen im „Gottesdienst“ bzw. in der „Gemeindeversammlung“1.1.2 Biblical Performance Criticism1.1.3 Public Reading/Communal Reading1.2 Die lange Debatte um die Frage nach dem „lauten“ und „leisen“ Lesen in der Antike1.3 Methodische Engführungen und Defizite der bisherigen Forschung1.3.1 Geschriebenes als Abbild des Gesprochenen?1.3.2 Die Frage nach dem Zusammenhang von Schriftsystem und Lesepraxis1.3.3 Die Frage nach der Literalität antiker Gesellschaften1.3.4 Die Frage nach der Alterität antiker und zeitgenössischer Lesekultur1.3.5 Die Frage nach der „Oralität“ antiker Gesellschaften1.3.6 Engführung der Forschung auf die Fragen nach einem vermeintlichen „Normalmodus“ des Lesens in der Antike und auf reading communities1.4 Fragestellung, methodischer Ansatz und Vorgehen1.5 Beschreibungssprache und weitere terminologische Klärungen

  Teil I Grundlagen

  2 Überblick über die Vielfalt der Lesemedien

 3 Semantik des Lesens im Griechischen mit Seitenblicken auf das Lateinische3.1 Lesen als (Wieder)Erkennen3.1.1 Ἀναγιγνώσκω3.1.2 Ἀναγιγνώσκω mit zusätzlichen Präfixen3.1.3 Ἀναγνωστικός3.1.4 Ἀνάγνωσις3.1.5 Ἀνάγνωσμα3.1.6 Ἀναγνώστης3.2 Lesen als Hören3.3 Lesen als Sammeln: λέγω und Derivate3.4 Lesen als Begegnung und Kontakt mit dem Text3.5 Lesen als haptischer Umgang mit dem Medium3.6 Lesen als Suchen bzw. Fragen3.7 Lesen als Bewegung3.8 Lesen als Sehen des Textes3.9 Lesen als Essen und Trinken

  4 Scriptio Continua und „typographische“ Merkmale antiker Handschriften 4.1 P. Saengers These zum Lesen von scriptio continua vor dem Hintergrund der modernen kognitions- und neurowissenschaftlichen Leseforschung 4.2 Das Lesen von scriptio continua im Spiegel antiker Quellen 4.3 Weitere „typographische“ Gestaltungsmerkmale antiker Handschriften und die Frage nach „Lesehilfen“ 4.4 Zwischenfazit und die Frage nach der Repräsentation von Klang in der Schrift

  5 Publikation in der Antike und Verfügbarkeit von Literatur

  6 Zwischenertrag: Die Vielfalt antiker Lesepraktiken und -kontexte 6.1 Kollektive Rezeption und Lesen beim Gemeinschaftsmahl 6.2 Individuelle Lektüre

  Teil II Anwendung der erarbeiteten Grundlagen zur Analyse spezifischer Textcorpora

 7 Lesen im antiken Judentum – Exemplarische Fallstudien7.1 Hebräische Bibel, LXX und außerkanonische Schriften7.1.1 קרא als hebräisches Hauptleseverb7.1.2 הגה und individuell-direkte Lektüre im AT7.1.3 Lesepraktiken in der Henochliteratur7.1.4 Das Lektürekonzept im Buch Jesus Sirach7.1.5 Antizipation unterschiedlicher Rezeptionsgewohnheiten im 2Makk7.2 Philon7.2.1 Lesesozialisation bei Philon am Beispiel von agr. 187.2.2 Die Lektüre des Königs – Philons Interpretation von Dtn 17,18 f7.2.3 Individuell-direkte Lektüre der Therapeuten vs. communal reading7.2.4 Zwischenfazit7.3 Qumran7.4 Lesen in der Synagoge bzw. am Sabbat7.5 Zwischenertrag

 8 Lesen im Neuen Testament8.1 Überblick über kleinere Leseszenen8.2 Lesen des Alten Testaments im Neuen Testament8.2.1 Lesen des Alten Testaments im Corpus Paulinum8.2.2 Lesen der Hebräischen Bibel/des Alten Testaments in den Erzähltexten des Neuen Testaments8.3 Zur Lektüre der Paulusbriefe und Paulus’ Brieflektüre8.3.1 Die Brieflektüre des historischen Paulus8.3.2 Die anvisierte Rezeptionsform der Paulusbriefe in den paulinischen Gemeinden8.3.3 Lesen in den Deuteropaulinen8.3.4 Zusammenfassung8.4 Die Ansprache der Rezipienten als Leser in Erzähltexten des NT8.4.1 Mk 13,14 und das Lesekonzept des MkEv8.4.2 Zur anvisierten Rezeptionsweise der Apokalypse

 9 Rückblick und Ausblick: Lesen im frühen Christentum9.1 Zusammenfassender Rückblick und methodologische Implikationen für die Exegese9.2 Zum Stellenwert des Lesens im frühen Christentum: Mündlichkeit und Skeptizismus gegenüber dem geschriebenen Wort?9.3 Lesen im Kontext der Komposition sowie der Abschreibepraxis neutestamentlicher Texte9.4 Ein Vorleser/Lektor in den frühchristlichen Schriften als Evidenz für gottesdienstliche Lesungen?9.5 Vielfalt frühchristlicher Lesepraxis: Zum Charakter kollektiv-indirekter Leseanlässe im frühen Christentum und individuell-direkte Lektüre9.5.1 Kollektiv-indirekte Rezeption9.5.2 Individuell-direkte Lektüre9.6 Konsequenzen für die Frage nach der Entstehung des neutestamentlichen Kanons9.7 Epilog

 10 Anhang10.1 Liste mit Belegen für nicht-vokalisierendes Lesen10.2 Quellensprachliche Bezeichnungen antiker „Leseobjekte“ (Auswahl)10.3 Exemplarische Übersicht über griechische (und lateinische) Lesetermini10.4 Abkürzungen

 11 Quellen und Hilfsmittel11.1 Wörterbücher, Lexika und weitere Hilfsmittel11.2 Philologische Hilfsmittel11.3 Konkordanzen und elektronische Hilfsmittel11.4 Epigraphische und papyrologische Hilfsmittel11.5 Quellen11.5.1 Biblische Texte11.5.2 Literarische Quellen11.5.3 Papyri, Ostraka u. a.11.5.4 Inschriften11.5.5 Münzen11.5.6 Ikonographische Quellen11.5.7 Quellen aus der Neuzeit

  12 Literaturverzeichnis

 13 RegisterStellenverzeichnisAltes Testament, LXX, Pseudepigraphen des Alten TestamentsQumranNeues TestamentAußerkanonische Pseudepigraphen des Neuen TestamentsAntike AutorenSachregisterAuswahl an lateinischen und griechischen Lexemen


ICHHALTEJEDOCHDASVORANGESCHRIEBENEFÜREINENÜTZLICHESACHEDAESDIEJENIGENDIEESINTENDIERTLESENWOLLENORIENTIERTDIEJENIGENDIEZUFÄLLIGAUFDASBUCHSTOSSENZUMLESENERMUNTERTUNDENDLICHDENJENIGENDIENURETWASNACHSCHLAGENWOLLENBEIMSCHNELLENAUFFINDENHILFT

ἐγὼ δὲ κρίνω χρήσιμον μὲν εἶναι καὶ τὸ τῶν προγραφῶν γένος καὶ γὰρ εἰς ἐπίστασιν ἄγει τοὺς ἀναγινώσκειν θέλοντας καὶ συνεκκαλεῖται καὶ παρορμᾷ πρὸς τὴν ἀνάγνωσιν τοὺς ἐντυγχάνοντας, πρὸς δὲ τούτοις πᾶν τὸ ζητούμενον ἑτοίμως ἔνεστιν εὑρεῖν διὰ τούτου.

Polybios 11 prooem. 2

Vorwort

Die vorliegende Studie entstand im Wesentlichen in den Jahren 2014–2018 und wurde im Wintersemester 2019/2020 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum als Habilitationsschrift angenommen. Das Manuskript wurde für die Publikation geringfügig überarbeitet sowie um Quellen und Literatur ergänzt.

Danken möchte ich zunächst Prof. Dr. Matthias Klinghardt nicht nur für seinen kollegialen Rat und seine vielfältige Unterstützung, sondern auch dafür, dass er mir großartige Entfaltungsmöglichkeiten am Institut für Evangelische Theologie in Dresden eröffnet hat. Außerdem danke ich Prof. Dr. Reinhard von Bendemann und Prof. Dr. Peter Wick für die Übernahme der Gutachten, die auf sorgfältiger Lektüre basierenden, unverzichtbaren Hinweise für die Überarbeitung und die Begleitung des Verfahrens. Danken möchte ich außerdem den übrigen TANZ-Herausgebern, Prof. Dr. Günter Röhser, Prof. Dr. Stefan Schreiber und Prof. Dr. Manuel Vogel für die Aufnahme in die Reihe. Dr. Valeska Lembke, Corina Popp und Elena Gastring danke ich für die gute Betreuung von Seiten des Verlags. Große Teile dieses Buches sind im Rahmen eines Forschungsprojektes entstanden, das vom Sächsischen Staatsministerium für Wissenschaft, Kultur und Tourismus durch die Sächsische Aufbaubank gefördert wurde. Für die großzügige finanzielle Unterstützung sei an dieser Stelle herzlich gedankt.

Daneben ist zahlreichen weiteren Personen vielfältiger Dank abzustatten: Prof. Dr. Christina Hoegen-Rohls, für den fortdauernden diskursiven Austausch über meine Forschungsthemen, und den Teilnehmerinnen und Teilnehmern ihres Oberseminars im SoSe 2019; Prof. Dr. Hermut Löhr stellvertretend für alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Ökumenischen Neutestamentlichen Sozietät in Bonn, in deren Rahmen ich mein Projekt im April 2018 vorstellen durfte; Prof. Dr. Jörg Frey stellvertretend für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des VIII. Colloquium Iohanneum im Februar 2019 in Zürich; Dr. David Trobisch, Prof. Dr. Andrew McGowan und Prof. Dr. Susan Marks für die zahlreichen inspirierenden Gespräche und Diskussionen über das Thema; Prof. Dr. Dennis Pausch, Prof. Dr. Martin Jehne, Prof. Dr. Maria Häusl und Ute Meyer für die konstruktive Begleitung des Projekts von Seiten der Dresdner Altertumswissenschaften; nicht zuletzt allen Kolleginnen und Kollegen des Instituts für Evangelische Theologie in Dresden und insbesondere der Institutssekretärin, Eva-Maria Kaminski, die mit ihrer liebenswürdigen Art stets den Überblick über die Finanzmittel meiner Projekte behalten und mich im administrativen Dickicht der Universität vielfältig unterstützt hat.

Auch viele Freunde und Kolleginnen/Kollegen haben Anteil am Gelingen des Projektes, die Teile der Habilitationsschrift z.B. im Dresdner Oberseminar und darüber hinaus kritisch diskutiert, mir wertvolle Hinweise gegeben, mich in Bezug auf Methoden der Digital Humanities beraten und/oder sich durch die Übernahme des Korrekturlesens hervorgetan haben: Adriana Zimmermann, Christine Hoffmann, Dr. Nathanael Lüke, Dr. Daniel Pauling, Dr. Tobias Flemming, Dr. Alexander Goldmann, Dr. Juan Garcés, Dr. Eric Pilz, Stefan Zorn, Dr. Benedikt Eckhardt, Dr. Johannes F. Diehl, PD Dr. Thomas Wagner und Dr. Matthias Braun. Besonders hervorzuheben ist der Beitrag von Kevin Künzl, der mit seinem altphilologischen Sachverstand als SHK/WHK und später als Doktorand an der kritischen Sichtung und Übersetzung zahlreicher Quellen mitgewirkt hat. Neben den vielen Studierenden in meinen Dresdner Lehrveranstaltungen ist namentlich weiteren Studentischen Hilfskräften für ihren unermüdlichen Arbeitseinsatz herzlich zu danken: Lea Herrfurth, Fridolin Wegscheider, Johann Meyer, Frank Wagner, Jakob Brügemann, Ulrike Meinhold und Tobias Reintzsch.

Danken möchte ich außerdem meinen Eltern, Doris und Pfr. Bernd Schäfer, für die vielfältige Unterstützung meiner wissenschaftlichen Tätigkeit, sowie meiner Schwester und ihrem Mann, Lena und Stefan Schäfer, für ihre Unterstützung und die Übernahme von Korrekturarbeiten. Dieses Buch ist meiner Frau Claudia, meiner kritischsten Leserin und lieben Partnerin, und meinem Sohn Anton, der stets für eine lebendige Arbeitsatmosphäre sorgt, gewidmet.

Dresden, im Juli 2020 Jan Heilmann

Präliminarien

 Entgegen älteren Konventionen wird u. a. wegen der besseren elektronischen Verarbeitbarkeit1 bei der Angabe von Quellen weitgehend auf die Verwendung von Römischen Zahlen verzichtet.

 PapyriPapyrus werden wie folgt zitiert:[EditionEdition2][ggf. Band][Textnummer], [ggf. Fragment/Kolumne],[Zeile]P.Oxy. 3 405, col. 2,19P.Oxy. 9 1175, fr. 7,8Wenn nur ein Fragment mit einer Kolumne vorhanden ist, wird die Zeilenangabe direkt hinter der Textnummer angeführt.P. Mich. 2 130,10 …

 KodizesKodex werden wie folgt zitiert:[EditionEdition][Folium recto/verso],[Zeile]P.Oxy. 4 657, f. 47vo,21

 Soweit die zitierten Quellen online zur Verfügung stehen, sind sie im E-Book mit einem Hyperlink versehen, damit sie von den Leserinnen und Lesern schneller eingesehen werden können. Generell werden PapyriPapyrus mit der Datenbank „Trismegistos“ verlinkt, literarische Quellen aus lizenzrechtlichen Gründen und der allgemeinen Zugänglichkeit willen mit der Perseus Digital Library bzw. – für Texte, die dort nicht enthalten sind – mit dem neuen Scaife Viewer von Perseus. Diese Links enthalten jeweils stabile CTS-URNs (vgl. dazu http://cite-architecture.org/). InschriftenInschriften werden mit diversen digital verfügbaren Korpora verlinkt.

 Die Verlinkungen implizieren jedoch keine Aussage über die zitierten EditionenEdition.3 Die Quellen sind i. d. R. in den gängigen historisch-kritischen Editionen kontrolliert worden (v. a. BSGRT usw.).

 Übersetzungen stammen, wenn nicht anders angegeben, vom VerfasserAutor/Verfasser.

 Griechische und lateinische Verben werden aus pragmatischenPragmatik Gründen in der Wörterbuchform angegeben, auch wenn dies wegen der Gewohnheit im Deutschen, Verben mit dem Infinitiv zu benennen, für einige Leserinnen und Leser ungewöhnlich erscheinen mag.

 Römische Zahlen werden in Tabellen und Klammern z. T. zur vereinfachten Datierung nach Jahrhunderten verwendet, wobei Römische Zahlen ohne die Angabe „v. Chr.“ eine Datierung „n. Chr.“ implizieren.

 Um den Fußnotenapparat zu entlasten, werden Wörterbuchartikel z. T. unter Verwendung eines Kürzels im Haupttext ohne Seitenangabe zitiert.

 Die Abkürzung „Lit.“ steht im Fußnotenapparat für „mit weiterführenden Hinweisen auf die Forschungsliteratur“.

1 Einleitung

In dieser Studie wird die Frage gestellt, wie die Texte des späteren Neuen Testaments1 (im Folgenden: neutestamentliche Texte) in ihrem unmittelbaren Entstehungskontext und im Rahmen der frühen Rezeptionsgeschichte gelesen wurden. Es klingt zunächst banal, wenn man die selbstverständliche Annahme formuliert, dass die neutestamentlichen Texte geschriebenSchriftGeschriebenes wurden, um gelesen zu werden. Kategorien wie die (Erst-)LeserLeser, die historische Rezeptionssituation, die gottesdienstlicheGottesdienst Verlesung (WortgottesdienstGottesdienstWort-/liturgische Lesung usw.) u. ä., aber auch das Verb „lesen“ und das Substantiv „Lesen“ gehören zum Standardrepertoire der exegetischenExegese Beschreibungssprache. Demgegenüber bleibt die Reflexion darüber, was „Lesen“ im frühen ChristentumChristentum konkret bezeichnet, aber zumeist unbestimmt. Auf der einen Seite umgehen viele Exegetinnen und Exegeten durch geläufige Formulierungen wie „Leser bzw. HörerHörer“2 und „Erstrezipienten“3 die Herausforderung, die historischen LesesituationenLese-situation neutestamentlicher Texte präzise zu beschreiben. Auf der anderen Seite steht die weit verbreitete monosituative Verortung der LesepraxisLese-praxis als eine gottesdienstliche Verlesung der neutestamentlichen Schriften im frühen Christentum, die meist mit der Annahme einer KontinuitätKontinuität zur Praxis des VorlesensRezeptionkollektiv-indirekt in der SynagogeSynagoge verbunden wird. Die Rede von der gottesdienstlichen Lesung läuft jedoch Gefahr, kirchengeschichtlich identifizierbare, liturgische Lesepraktiken in die neutestamentliche Zeit hineinzuprojizieren. Denn liturgische Lektionen neutestamentlicher Texte sind, so der Stand in der liturgiewissenschaftlichenLiturgiewissenschaft Forschung, frühestens ab dem 3. Jh. bezeugt. In den ostsyrischen KirchenKirche wird die Praxis liturgischer Lesungen vor der Feier der Eucharistie sogar erst im frühen 5. Jh. übernommen.4

Die frühchristliche LesepraxisLese-praxis und der LeseaktLese-akt selbst stehen nur selten im Zentrum des wissenschaftlichen Erkenntnisinteresses in der neutestamentlichen Forschung. Es ist bezeichnend, dass im ThWNT der Artikel zu ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω (32mal im NT belegt; 65mal in der LXXAT/HB/LXX)/ἀνάγνωσιςἀνάγνωσις (dreimal im NT/viermal in der LXX) nicht einmal eine Seite lang ist (und den Befund unzulässig verkürzt darstellt),5 dagegen aber z.B. der Artikel zum Verb κηρύσσω (61mal im NT belegt; 32mal in der LXX) 19 Seiten umfasst.6 Hinzu kommt, dass sich weder im Reallexikon für Antike und ChristentumChristentum (RAC), noch im Handwörterbuch RGG4, noch in der TRE ein Artikel zum Stichwort „lesen“ o. ä. findet.7 Dies lässt mutmaßen, dass Lesen eine Selbstverständlichkeit ist, die wegen der eigenen LeseerfahrungLese-erfahrung für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unmittelbar evident zu sein scheint; ein notwendiger, aber sonst wenig interessanter Prozess, um die Botschaft des Textes zu Gehör zu bringen. Doch die Frage nach dem Lesen im frühen Christentum ist eben nicht nur eine technische Frage. Ein genaueres Wissen über das Lesen im frühen Christentum hat Implikationen für wichtige Forschungsfelder der neutestamentlichen Wissenschaft, wie etwa:

 die Kommunikationsbeziehungen zwischen Paulus und seinen GemeindenGemeinde und zwischen den Gemeinden untereinander;

 die frühchristliche Ritualgeschichte (also die Frage nach der Entstehung und Vorgeschichte des christlichen Gottesdienstes und von Liturgien);

 die rezeptive Arbeitsweise der AutorenAutor/Verfasser der neutestamentlichen Texte und damit z.B. auch für das Synoptische Problem;

 in methodischer Hinsicht für die Diskussion um formgeschichtlicheFormgeschichte Einordnungen der neutestamentlichen Texte sowie v. a. für die Diskussion um die Anwendbarkeit moderner literaturwissenschaftlicher Methoden und Theorien auf die neutestamentlichen Texte usw.;

 Modelle zur Konzeptualisierung der Entstehung des neutestamentlichen KanonsKanon.

Die Frage nach dem Lesen im frühen ChristentumChristentum ist zuletzt aber gerade auch von hermeneutischer und theologischerTheologie Bedeutung, da Heilige SchriftenHeilige Schrift(en) bzw. als offenbarte und schriftgewordene Worte GottesGott interpretierte Texte schlicht und einfach zuallererst gelesen werden müssen.8

Das Ziel dieser Studie liegt darin, Lesen im frühen ChristentumChristentum im Horizont der antiken LesekulturLese-kultur zu untersuchen und damit ein neues Forschungsfeld für die neutestamentliche ExegeseExegese zu erschließen. Dabei ist im Folgenden zunächst herauszuarbeiten, inwiefern die existierenden Ansätze in der neutestamentlichen Forschung, die das Phänomen Lesen im frühen Christentum beschreiben, von einer Debatte in den Altertumswissenschaften beeinflusst und von einem problematischen Grundnarrativ geprägt sind. Dieses Grundnarrativ lässt sich komplexitätsreduziert wie folgt reformulieren:

a) Da BücherBuch in der Antike teuer waren, konnten sich nur wenige Menschen Bücher leisten und damit lesen. b) Texte wurden grundsätzlich „lautLautstärkelaut“ vorgelesen. Und zwar weil man c) Texte in scriptio continuaSchriftscriptio continua nicht „leiseLautstärkeleise“ lesen konnte und d) die LiteralitätsrateLiteralität/Illiteralität in der Antike insgesamt, und im frühen Christentum insbesondere, äußerst gering war. Daraus wird geschlussfolgert: Die neutestamentlichen Schriften seien für das VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt bestimmt gewesen. Dieses Narrativ setzt nicht nur ein problematisch gewordenes, auf das 19. Jh. zurückführbares Modell des frühen Christentums „als überwiegend ökonomischer, literarischer und bildungsmäßiger Unterschicht“9 voraus. Vielmehr unterstellt das Narrativ auch, dass Lesen in Antike und frühem Christentum ein rein auditivesauditiv Phänomen war, gegenüber dem gesprochenen Wort nur eine sekundäre Rolle spielte bzw. eine Hilfsfunktion hatte und von der heutigen Lesekultur fundamental zu unterscheiden ist. Im Sinne eines umfassenderen Verständnisses, das insb. auch den direkten Zugang zum SchriftmediumLese-medium einschließt, habe Lesen nur eine marginale Rolle gespielt. Ein gutes Beispiel für die aus diesem Narrativ folgende Marginalisierung und funktionale Unterordnung des Phänomens „Lesen“ ist das 2017 erschienene Dictionary of the Bible and Ancient Media.10 Es enthält zwei lange Artikel zu den Stichworten „Performance Criticism (Biblical)“Biblical Performance Criticism und „Performance of the Gospel (in antiquity)“ (insg. zehn Seiten), aber nur eine halbe Seite zum Stichwort „Reading culture“ und keinen Eintrag zum Stichwort „Reading“.

Demgegenüber wird in dieser Studie anhand einer umfassenden Auswertung der Quellen herauszuarbeiten sein, dass Lesen in der Antike deutlich differenzierter zu beschreiben ist und auch als ein elaboriertes und eigenständiges Phänomen wahrgenommen wurde. Für die Schriften des antiken JudentumsJudentum und des antiken ChristentumsChristentum wird zu zeigen sein, dass die anvisierte Rezeptionssituation nicht generell auf den Modus des VorlesensRezeptionkollektiv-indirekt in einer Gruppe reduziert werden kann, sondern sich auch andere Formen der anvisierten Rezeptionsweise eindeutig nachweisen lassen. Im ersten Kapitel ist zunächst der Forschungsstand zu diskutieren. Dabei wird in einem ersten Schritt der Forschungsstand zum Lesen im frühen Christentum behandelt, in einem zweiten Schritt ist die altertumswissenschaftliche Debatte um das „lauteLautstärkelaut“ und „leiseLautstärkeleise“ Lesen in der Antike zu problematisieren, und in einem dritten Schritt werden die methodischen Engführungen und Defizite der bisherigen Forschung systematisiert. Davon ausgehend werden unter 1.4 und 1.5 die Fragestellung und der Forschungsansatz sowie das methodische Vorgehen der vorliegenden Studie erläutert.

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1927 s. 12 illüstrasyon
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9783772001499
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