Kitabı oku: «Das andere Volk Gottes», sayfa 9
1.4 Ein selbstkomponiertes Projekt der Identitäts- und Sinnsuche: Das Pilgern
1.4.1 Hape Kerkelings „Ich bin dann mal weg“ als Paradigma einer anderen Rezeption des Pilgergedankens
Neben die oben beschriebenen Formen von Biographiearbeit, die sich dem kasualfrommen bzw. weihnachtschristlichen Kirchenmitglied gegenwärtiger Kultur im Lebens- und Jahreslauf nahe legen, tritt seit geraumer Zeit ein weiteres Phänomen in hoher gesellschaftlicher Rezeption: Das Wallfahren bzw. Pilgern.120
Spätestens seit Erscheinen des Bestsellers „Ich bin dann mal weg“ des deutschen TV-Entertainers Hans-Peter (Hape) Kerkeling im Jahr 2006, ist diese Art Sinnprojekt in der kulturellen Öffentlichkeit des deutschen Sprachraums deutlich angekommen.121 Es unterscheidet sich zunächst von den oben referierten Weisen der lebensgeschichtlichen Sinnarbeit, als es seine Auslöser weniger exogen durch lebens- oder jahresrhythmische Angebote bzw. Notwendigkeiten findet; vielmehr gründet die Beteiligungslogik des Pilgerns endogen im subjektiven Empfinden und geistig-körperlichen Erleben der Individuen. Mehr noch als bei den bisher dargestellten Formen außergemeindlicher Kirchlichkeit erweist sich diese Art ‚Wallfahrtschristentum‘ als kairologisch bedingt und motiviert. Exemplarisch mag gelten:
„Da ich gerade einen Hörsturz und die Entfernung meiner Gallenblase hinter mir habe, zwei Krankheiten, die meiner Einschätzung nach großartig zu einem Komiker passen, ist es für mich allerhöchste Zeit zum Umdenken – Zeit für eine Pilgerreise. Über Monate nicht auf die innere Stimme zu hören, die einem das Wort „PAUSE!“ förmlich in den Leib brüllt, sondern vermeintlich diszipliniert weiterzuarbeiten, rächt sich halt – indem man einfach gar nichts mehr hört. […] Aber ich habe doch endlich meiner inneren Stimme Beachtung geschenkt und siehe da: Ich beschließe, während der diesjährigen Sommermonate keinerlei vertragliche Verpflichtungen einzugehen und mir eine Auszeit zu spendieren.“122
Der Rhythmus bzw. Anlass ist also nicht vorgegeben. Es ergibt sich vielmehr aufgrund diverser Signale ein Kairos, den es im besten Wortsinn sinnvoll zu nutzen gilt. Dabei scheint der Begriff der Auszeit die gegenwärtigen Formen des Pilgerns angemessen zu bestimmen. Hinzukommt die Vokabel des „Umdenkens“, welche an die obigen Ausführungen zur Geisteshaltung der Moderne erinnert, die ihr eigenes Denken auf sich selbst anwandte und so bezüglich ihrer eigenen Sinngehalte brüchig wurde. Neben diesem abstrakteren Hinweis auf postmoderne Motivstrukturen lässt sich darin auch der biblisch-christliche Ruf zur Umkehr – freilich unter veränderten Vorzeichen, wie es das Gesamt des gegenwärtigen Pilgerns auszeichnet – wieder erkennen.
Der Gedanke einer inhaltlichen Transformation wird auch weiterhin deutlich, wenn Kerkeling mit seiner eigenen religiösen Motivation zum Pilgern die Bedeutungsverschiebung des Wallfahrens vieler gegenwärtiger Zeitgenossen wie folgt beschreibt:
„Wer nach Santiago pilgert, dem vergibt die katholische Kirche freundlicherweise alle Sünden. Das ist für mich nun weniger Ansporn als die Verheißung, durch die Pilgerschaft zu Gott und damit auch zu mir zu finden. Das ist doch einen Versuch wert!“123
Kerkeling, der für sich selbst auf eine katholisch-rituelle Sozialisation verweist, macht sich auf den Pilgerweg der Gottsuche und verbindet damit seine eigene Selbstsuche. Er beschreibt diesen Zusammenhang als Versuch, gleichsam als Projekt für die Zeit seines Weges nach Santiago de Compostela. Ursprünglichtraditionelle gnadentheologische Zuwendungen, wie eine umfassende Sündenvergebung, treten dabei zugunsten einer allgemeineren religiösen und persönlichen Identitätssuche in den Hintergrund bzw. finden sich dadurch abgelöst. Zugleich werden die einzelnen Inhalte der christlichen Religiosität im Vergleich zu ihrem klassisch-traditionellen Bestand weiter transformiert und weisen demzufolge deutlich synkretistische Züge auf:
„Um den Pilgerpass […] zu bekommen, muss man natürlich nicht zwingend katholisch sein. Ich würde mich selbst zum Beispiel als eine Art Buddhist mit christlichem Überbau bezeichnen! Klingt theoretisch komplizierter, als es in der Praxis ist! Es ist ausreichend, auf der spirituellen Suche zu sein. Und das bin ich.“124
Einen allgemeinen Grund für eine neue Sehnsucht nach dem Pilgern sieht Kerkeling – neben seinen persönlichen Motiven – in unserer Zeit und ihrer kulturellen Prägung bedingt, die sich vieler wichtiger Rituale entledigt hat:
„In unserer nahezu entspiritualisierten westlichen Welt mangelt es leider an geeigneten Initiationsritualen, die für jeden Menschen eigentlich überlebenswichtig sind. Der Camino bietet eine echte, fast vergessene Möglichkeit, sich zu stellen. Jeder Mensch sucht nach Halt. Dabei liegt der einzige Halt im Loslassen.“125
Kerkeling verbindet an dieser Stelle das Pilgern und Wallfahren mit der Sehnsucht des Menschen nach Ritualen, die ihm als überlebenswichtiges biographisches Zubehör erscheinen. Insofern zeigt Kerkeling, wie sehr das Pilgern auf einem traditionellen Weg mit seinen eigenen Gewohnheiten und Symbolen wie entsprechenden Handlungen für einen verloren gegangenen notwendigen rituellen Lebens- und Sinnzusammenhang konstitutiv sein kann: etwa die Muschel als Erkennungszeichen im Sinne einer „corporate identity“, oder die Ausstellung von Pilgerpass bzw. -urkunde; schließlich auch die Umarmung der goldenen Statue des hl. Jakobus am Ziel der Wallfahrt „wie es sich gehört“.126
So ergibt sich ein Verbindungspunkt zwischen der Sehnsucht nach ritueller Entlastung, von der oben im Zusammenhang der kirchlichen Kasualhandlungen bereits die Rede war, und der Sehnsucht nach überkommenen Formen der Sinnsuche, wie sie eine Pilgerreise bedeuten kann.127 Allerdings wiederum in etwas anderer Gestalt und mit leicht veränderten Inhalten: Während für Kerkeling mit der Suche nach Spiritualität und biographischem Halt eine allen Pilgern gemeinsame Kennung eigen zu sein scheint, bleibt der Autor – wie gesehen – bezüglich seines Gottesbildes und seiner Religiosität auffallend unentschieden. Es bereitet ihm offenbar keine Probleme, während seiner Erzählung seine persönliche Reinkarnationsvorstellung und das damit verbundene Erlebnis zu schildern, gegen Ende jedoch mithilfe eines deutlich monotheistischen, geradezu konfessorischen Resümees seine Pilgererfahrungen – poetisch wie spirituell – zu bündeln:
„Der Schöpfer wirft uns in die Luft, um uns am Ende überraschenderweise wieder aufzufangen. Es ist wie in dem ausgelassenen Spiel, das Eltern mit ihren Kindern spielen. Und die Botschaft lautet: Hab Vertrauen in den, der dich wirft, denn er liebt dich und wird vollkommen unerwartet auch der Fänger sein. Und wenn ich es Revue passieren lasse, hat Gott mich auf dem Weg andauernd in die Luft geworfen und wieder aufgefangen. Wir sind uns jeden Tag begegnet.“128
Zusammengefasst erscheinen die Sehnsucht nach Ritualen, Sinn wie variable religiöse Vorstellungen in diesen Zusammenhängen als analoge Ergebnisse zu jenen bereits referierten Weisen der Kontaktaufnahme mit der christlichen Tradition gegenwärtiger Zeitgenossen. Zugleich bleiben der traditionell-christliche Horizont, also das Gehen auf alten Pilgerwegen und damit das Aufgreifen bereits in Vorzeiten praktizierter Spiritualitätsformen (in gleichzeitiger Transformation derselben) relevant.
Als besonders erscheinen hier der Kairoscharakter, die Projekthaftigkeit sowie eine inhaltliche Umdeutung des Pilgerns, die sich allerdings bei genauerem Hinsehen auch als Grundlinien bei den Kasualien bzw. Festzeiten zeigen. Denn auch hier weisen die Taufe und ihre Vorbereitung, die Hochzeit, Erstkommunion, Firmung wie die Beerdigung und ihre Umstände projektartige Züge auf und finden im Rahmen eines biographischen Kairos statt, hinter dem die Identitäts- und theologisch wiederum die Berufungsfrage steht. Überdies finden sich hier wie dort ebenfalls traditionelle Erwartungen mit ihren Praktiken modifiziert. Wallfahrt erweist sich demnach analog zu den oben referierten Anlässen als eine Art „Identitätsfabrik“ für Menschen derzeitiger Kultur, die nicht jahres- und lebenszyklisch einsetzt, sondern sich durch einen Kairos ausgelöst findet.129
Gleichzeitig lässt sich an der Art und Weise der Rezeption des traditionellen Pilgergedankens ablesen, mit welcher Art von Auswahllogik sich unsere gegenwärtige Kultur traditioneller Bestände bedient und sie darin transformiert. Um eben diesen Prozess näher zu verstehen, seien nun im Folgenden aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse zur Rezeption und Transformation des christlichtraditionellen Wallfahrtswesens in derzeitigen kulturellen Zusammenhängen referiert.
1.4.2 Anmerkungen zum Wandel vom klassischen zum zeitgenössischen Pilgern
Die bis hierhin am Beispiel von Hans Peter Kerkelings Ausführungen dargestellten Ergebnisse zeigen eine bemerkenswerte Entsprechung zu der gegenwärtig geführten Diskussion aktueller, zeitgenössischer Wallfahrtsforscher. Auch hier spricht man von einem Paradigmenwechsel, den es wissenschaftlicherseits nachzuvollziehen gelte. In dezidiert kulturwissenschaftlicher Perspektive begründet Helmut Eberhardt eine neue Beschäftigung mit dem Phänomen der Wallfahrt:
„Seit einigen Jahren registrieren wir jedoch nicht nur die ungebrochene Beliebtheit und weitere Zunahme des Phänomens, sondern auch qualitative Änderungen, die es nahe legen, sich wieder einmal grundsätzlicher mit Wallfahrt zu befassen.“130
Bezüglich dieses Perspektivwechsels der Wallfahrtsforschung postuliert Eberhart entgegen der bisher geübten Praxis:
„Fast alle Wallfahrtsunternehmungen haben den Nachteil, dass sie vom Standpunkt des Wallfahrtsortes aus geschrieben sind. Dabei ist dieser ja nur das Wallfahrtsziel. Der Beginn der Wallfahrt und ihr Ende liegen jedoch im Alltag des Wallfahrers beschlossen. Zur vollständigen Beschreibung einer Wallfahrt gehört daher die Darstellung des gesamten Vollzugs.“131
Diese Äußerung findet sich im Kontext vielfältiger Überlegungen. Sie trägt der Tatsache Rechnung, dass die Ziele der jeweiligen Pilgeranstrengungen für die während der letzten 20 bis 30 Jahre entstandenen Wallfahrten nicht mehr dieselbe Bedeutung zeitigen, wie für ihre traditionellen Vorgänger. Das führt wiederum in radikale Definitionsnöte: Kann Wallfahrt – zugespitzt – im Extremfall auch nicht mehr religiös sein? Welche sichtbaren symbolischen und religiösen Praktiken sind erforderlich, um überhaupt von Wallfahrt zu sprechen?
Solcher Ab- bzw. Eingrenzungsdruck ergibt sich nicht minder durch die Tatsache, dass zuweilen der öffentliche Diskurs die Definition bereits vollzogen hat, indem er das Begriffsfeld Wallfahrt und Pilgern völlig selbstverständlich für rein private und säkulare Zusammenhänge gleichermaßen reklamiert: Es „pilgern“ Menschen bisweilen in Scharen zu einem beliebigen Punkt, der etwa, als neues „In-Lokal“ postuliert, zu einem freizeitkulturellen Wallfahrtsort mutiert. Oder man „wallfahrtet“ bereits seit Jahrzehnten zur Grabstätte Elvis Presleys’ in Memphis bzw. an das Grab Lady Di’s im britischen Althorp. Solche Transformationsprozesse führt Christoph Daxelmüller, in durchaus auffälliger Analogie zu Kerkeling, auf entstandene spirituelle Leerstellen zurück:
„[Dianas] Apotheose […] fiel in eine Zeit, in der kirchlich sanktionierte Heilige als Vorbilder für die Lebensgestaltung ins zweite und dritte Glied zurückgetreten sind. Die säkulare Heilige Diana war eine gläserne und dadurch effektvolle Heilige.“132
Dieser analoge Befund bei Kerkeling und Daxelmüller führt zu der Frage, ob hier in Gestalt der Wallfahrtspraxis kulturell etwas zurückerobert wird, was aufgrund allzu traditioneller Muster zeitweise für eine wirklich reflektierte bzw. aufgeklärte spirituelle Praxis vielerorts für nicht mehr opportun bzw. wesentlich gehalten wurde.133 Es lenkt den Blick also auf die klassischen Motive und ihre Rezeption im heutigen Wallfahrtsgeschehen und macht eine eigene Problematisierung dergestalt notwendig, als man ernsthaft fragt, inwieweit und nach welchen Kriterien hier eine wirkliche Transformation stattgefunden hat. Dies geschieht in adäquater Weise und weitestgehend umfassend, indem man Gründe und Anlässe früherer und gegenwärtiger Wallfahrten vergleicht:
Der Rückblick in die klassische Wallfahrtsforschung zeigt in erster Linie die Motive mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Wallfahrer. Aus der Analyse verschiedener Mirakelliteratur und Motivbilder lässt sich ersehen, dass vorwiegend Krankheit, Unfälle, individuelle Betroffenheiten durch Kriege oder Überfälle die Menschen jener Epochen zu pilgern veranlassten. Heute zeigt eine während der letzten Jahre vorangetriebene Analyse von Anliegenbüchern an Wallfahrtsorten, dass bei Fortbestand der historisch bekannten Pilgermotive dieselben offenbar eine deutliche Umgewichtung erfahren haben. Das Traditionelle wird durch ein breites Spektrum an Anliegen zumindest ergänzt oder sogar ersetzt, so dass sich jetzt auch Themen wie Familie, Partnerschaft, Versöhnung, Beziehungen, Schule oder der Weltfriede in den Anliegenbüchern finden. Diese Einträge thematisieren eher alltägliche Lebenszusammenhänge und sind im Vergleich zu früheren Epochen insgesamt nicht von vergleichbar existentiellem Ernst geprägt. Dennoch bringen sie Identitätsfragen vor einem spirituellen Hintergrund ins Wort.
Zugleich betont Eberhart, dass solche Ausweitung der Anliegen auf das breite Spektrum alltäglicher Bedürfnisse den neuerlichen Boom allein nicht ausgelöst haben kann.134 So greifen die Analyse von aktueller und historischer Mirakelliteratur und der dabei angestellte Vergleich zu kurz, um wirklich umfassende Motivstrukturen zu ermitteln. Im Gegensatz zu früher jedoch kann man heute auf empirische Befunde aus Gesprächen mit aktiven Wallfahrern zurückgreifen – wie etwa mittels folgender Äußerung:
„Die religiöse Erfahrung war eingebunden in die Körper- und Naturerfahrung, das Eigentliche ist mehr nebenbei geschehen, weniger im Nachdenken als im Nichtnachdenken, im Loslassen.
Ein Kirchenbild, das immer wichtiger wird als das Bild einer Gemeinschaft, wo sich einer auf den andern verlassen kann.“135
Diese Originaltöne aus einem Pfarrblatt mögen für einen schon bei Kerkeling sichtbaren Paradigmenwechsel stehen: Das Zurücktreten traditioneller Motive bei hoher Evidenz einer gegenwärtigen Sehnsucht nach Spiritualität, Selbsterfahrung und Gemeinschaft. Letztere allerdings nicht gemeindlich, sondern selbst gewählt, temporär begrenzt sowie situativ bzw. projekthaft angelegt. Heutige Menschen brauchen offenkundig für ihre Identitätskonstruktion zumindest zeitweise Stabilität und merken, dass Spiritualität und Rituale ihnen in diesem Rahmen zu Hilfe kommen, weil sie dieses Bedürfnis zu bedienen wissen.
Für die gegenwärtigen Wallfahrer scheint neben dem Zielort ihrer Wallfahrt, der seine Bedeutsamkeit als traditioneller Wallfahrtsort zweifelsohne behält, vor allem bezüglich dieses Spiritualitätserlebens der eigentliche Pilgerweg von Relevanz: Vor einem Wallfahrtsziel als einem dezidiert auratischen Ort wird das Pilgern an sich vor allem zu dem Weg, an dem sich Spiritualität ‚ereignet‘; allerdings in abermals transformierter Weise, als vielfach traditionell geläufig:
„Wallfahrt bietet die Möglichkeit, sich aus den Verkettungen des Alltags, wenn auch befristet - und vor allem weil befristet -, zu lösen und zu sich selbst zu kommen. Körper- und Naturerfahrung spielen eine wesentliche Rolle, um sich im ursprünglichen Wortsinn zu sammeln. Wenn Spiritualität einen Sinn haben soll, dann muss sie Erfahrungen zusammenführen können, dann muss sie sozusagen eine Einigungskraft für Kopf, Herz und Leib haben. Spiritualität muss nicht unbedingt […] etwas mit Gottesglauben zu tun haben, sie bezeichnet auch die Sehnsucht nach menschlicher Ganzheit und hält nach Methoden Ausschau, diese Ganzheit zu gewinnen. Es kann allerdings sein, dass die Erfahrung, dass diese Ganzheit „diesseitig“ immer Fragment bleibt, möglicherweise den Blick auf die Transzendenz eröffnet, auf Transzendenz als eine vorausgesetzte Ganzheit. Die Suche nach Ganzheit ist eine Reaktion auf die Fragmentierung der Lebensbereiche durch die Moderne. Die Einteilung in eine Welt der Leistung und Effizienz und in eine Gegenwelt des Privaten.“136
Gabriele Ponisch bestätigt und deutet eben das, was im vorhergehenden Zitat aus dem Munde der Wallfahrer kam und womit auch die religiös uneindeutigen Aussagen Kerkelings einen reflektierten Hintergrund erhalten. Zusammengefasst ist Spiritualität folglich das, was die wahrgenommene Fragmentierung der Lebensbereiche zu verbinden vermag – gerade durch ihre transzendente Ausrichtung. Dazu ist eine Erfahrung konstitutiv, die Wallfahrer auf körperlicher, geistiger wie seelischer Ebene fordert und eben darin zur ganzheitlichen Verbindung der ansonsten als Solitäre empfundenen Existenzbereiche beiträgt.
Wichtige Faktoren für eine in diesem Sinn gelungene Pilgererfahrung unter gegenwärtigen Vorzeichen sind demnach zunächst das intensive Erleben körperlicher Grenzerfahrungen, die den Aspekt religiöser Erfahrung dominieren können: Das Loslassen des Alltags, ein öffentliches Zulassen-Dürfen von Gefühlen oder das Zurücktreten normaler Bindungen und Verpflichtungen zeigen sich als integrale Bestandteile dieses neueren Wallfahrtskonzepts. Umso wichtiger wird dafür zugleich der gemeinschaftliche Kontext. In der zeitweise, weil situativ-projekthaft verbundenen Gemeinschaft darin Gleichgesinnter ist etwa das Zeigen von Emotionen ohne Scheu oder hemmende Angst möglich und durchaus geübte, womöglich gesuchte Praxis. Gleichwohl bleibt es nicht bei diesen zunächst lediglich immanent scheinenden Inhalten:
„Wallfahrt erlaubt schließlich, hemmungslos fromm zu sein. Und dies hat durchaus sehr stark sinnliche und emotionale Dimensionen.“137
Wallfahrt erscheint daher insgesamt als ein Gemisch, dessen Konsistenz sich nicht allgemeingültig bestimmen lässt: Zum einen sind klassische gnaden- und sühnetheologische Aspekte offenbar deutlich unterbelichtet, zum anderen kann die oben aufgeworfenen Frage, ob Wallfahrt im Extremfall auch nicht-religiös sein könne, verneint werden.
Dieser Befund reiht diese Art des Pilger- oder Wallfahrtschristentums nun passend in die bisherigen Überlegungen zum Kasual- bzw. Weihnachts-Christentum ein: Man ist selbst gewählt religiös, nicht dauer- sondern projekthaft, nicht verordnet und dennoch gemeinschaftlich (vgl. zur unverzichtbaren Bedeutung der Gemeinschaft in diesem Zusammenhang die Ausführungen unter I 1.4.3). Zugleich ist man es selbst bestimmt, indem deutlich entschieden wird, mit wem ich den Pilgerweg, seine einzelnen Etappen gehe bzw. mich darüber austausche. Hierzu kombiniert sich dann autonom inhaltlich-religiös das, was passt. Das eigene Ich und die unter anderem religiös bestimmte Suche nach Identität verkörpern also gleichsam das maßgebliche Kriterium für die Gestaltung des Pilgerprojekts.
Um diese Zusammenhänge noch tiefer zu verstehen, scheint – wie bereits anfanghaft anlässlich der Darstellung des „Weihnachts-Christentums“ erfolgt – ein vertiefender Blick auf ritualtheoretische Überlegungen bezüglich der gegenwärtigen, neuartig geübten Wallfahrtspraxis sinnvoll. Dies geschieht an dieser Stelle ausführlicher als bisher, weil sich gerade damit allgemeingültige Parallelen zur gegenwärtigen Kasual- bzw. Weihnachtspraxis zeichnen lassen.
1.4.3 Gemeinschaft und Transformation im Vollzug: Ritualtheoretische Aspekte heutigen Pilgerns
Der niederländische Theologe und Ritualtheoretiker Paul Post spricht in seiner Analyse neuerer Wallfahrtsberichte von einer „vessel-rituality“.138 Der Gebrauch der Vokabel „vessel“ (engl.: Gefäß, Behälter, Schiff, Luftschiff oder Fahrzeug) meint darin, dass Wallfahrt in gewisser Hinsicht als ein Gefäß fungiert, als ritueller Rahmen oder äußere Form, die den Vorstellungen und Bedürfnissen der Teilnehmenden entsprechend, je neu und anders mit Inhalt und Bedeutung gefüllt werden können. In einem Wechselspiel von Offenheit bei gleichzeitiger Ausgerichtet- und Begrenztheit, bietet das Ritual etwas Festgelegtes an, das nicht beliebig und überdies keineswegs vollkommen offen ist. Vielmehr bietet es einen buchstäblich definierten Raum, dessen Innenseite geschützte, bisweilen kairologisch-biographische Selbstthematisierungen ermöglichen. Dies geschieht im Rahmen von Wallfahrten als persönliche Reflexion, in zwischenmenschlichen Gesprächen, aber auch in Form abermals ritualisierter Ausdrucksmöglichkeiten wie bei Beichtgesprächen oder Einträgen in Anliegenbüchern. So entstehen Räume, in denen sowohl freudige wie traurige bzw. schmerzliche Emotionen genauso wie Bitte und Dank in einer Weise geäußert werden können, die weder kitschig noch unpassend, weder peinlich noch aufdringlich, sondern aufgrund ihrer rituellen Rahmung als geschützt und subjektiv entlastend erlebt werden können.
Auffallend ist, dass bei empirischen Befragungen von PilgerInnen die Befragten „Gemeinschaft“ als wichtigstes Kriterium nennen.139 Dies erinnert an die schon andeutend referierte Ritualtheorie Victor Turners.140 Turner knüpft an die Theorie der rites de passages des älteren Ritualtheoretikers Arnold van Gennep an.141 Demzufolge durchlaufen Gemeinschaft stiftende Handlungen einen Prozess des Bruchs, der Krise, der Lösung und schließlich der Reintegration, ausgedrückt in dem ritualtheoretisch geläufigen Schema von Struktur – Antistruktur – Struktur. Die Phase der Antistruktur, der Schwellen- bzw. liminalen Phase, lässt sich während dieses Prozesses als das entscheidende Moment identifizieren. In diesem Zwischenzustand erleben Menschen nach Turner „communitas“, einen Zustand, der von Unbestimmtheit und zugleich Potentialität gekennzeichnet ist. Die Erfahrung dieser „communitas“ ermöglicht dann ihrerseits Transformation, Versöhnung und Verschmelzung zu einer Gruppe. Ponisch führt dazu unter Verweis auf Turner weiter aus:
„Es handelt sich um einen dialektischen Prozess, da die Unmittelbarkeit der Communitas dem Strukturzustand weicht, während in den Übergangsriten die Menschen, von der Struktur befreit, Communitas erfahren, nur, um durch diese Erfahrung revitalisiert, zur Struktur zurückzukehren. [… ] Der liminale Zustand besitzt eigene positive Eigenschaften, indem er ein tiefes Gefühl menschlicher Gemeinschaft herstellt.“142
Für die Wallfahrt ergibt sich damit allerdings kein Automatismus: Letztlich muss der Pilger entscheiden, ob er sich auf die unterschiedlichen persönlichen wie organisatorischen Umstände und Mechanismen einlässt. Entsprechend fordert diese Art von „communitas“ ebenfalls eine spezielle Form von Entschiedenheit und Bereitschaft der Einzelnen.
Insgesamt zielt das Ritual folglich darauf ab, Menschen in eine neue Form von Integration zu führen. Es bezieht Emotionen mit ein, kanalisiert sie, indem es Gefühle steigert bzw. abschwächt. In Situationen des Leids oder der Verzweiflung können Rituale Handlungsanweisungen sein für das, was man jetzt tun soll.
An dieser Stelle ergibt sich eine auffallende Analogie und Verknüpfungsmöglichkeit zwischen dem Kairos für eine Wallfahrt und einem Passageritus in Gestalt einer kirchlichen Kasualhandlung: Dann nämlich, wenn lebenszyklische Anlässe, wie zum Beispiel schwerwiegende Verlusterfahrungen, den Anlass für eine Wallfahrt bilden und sich jemand gerade dadurch motiviert auf eine Wallfahrt einlässt. So verbindet eine Frau, die anlässlich des Todes ihres Mannes und ihrer Mutter binnen kurzer Zeit, erstmalig an einer Fußwallfahrt zum österreichischen Mariazell teilgenommen hatte, in folgender Äußerung beide Passageerlebnisse in auffallend verknüpfender Weise:
„Ich habe ja innerhalb von einem halben Jahr meine Familie verloren durch den Tod. Dann habe ich das Bedürfnis gehabt, ich muss jetzt irgendwo hinaus, ich muss etwas tun, wie ein innerer Zwang: du musst jetzt gehen!“143
Diese Erfahrung liest sich gleichsam, als ob die während der liminalen Phase einer Kasualhandlung erlebte Entlastung durch die liminal angelegte Wallfahrt verlängert werden solle:
„Weggehen bedeutet hier, sich sowohl äußerlich als auch innerlich zu distanzieren, Abstand zu suchen und zu gewinnen und vor allem auch, nicht allein erfinden zu müssen, wie das geht. […] D. h. man kann sich dabei aus dem Ausweglosen „nur mehr im-Kreis-drehen-können“ befreien und derart fixierte Aufmerksamkeiten lösen und neue Perspektiven zu einem Thema finden. […] Das Ritual hilft, der Welt Bedeutung zu geben, indem es die Vergangenheit mit der Gegenwart und die Gegenwart mit der Zukunft verbindet.“144
Spätestens hier wird deutlich, dass sich die Wallfahrer in der gleichen Auswahllogik an die christliche Tradition anlehnen bzw. sich aus ihr bedienen, wie dies auch die Kasual- und Weihnachtschristen tun. Jeweils geht es – und dies scheint bis hierher ein Vergleichspunkt mit hoher Evidenz – vorwiegend um das Erlebnis der liminalen Phase. Da sie eine Verbindung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ermöglicht, wird ihr Erlebnis zu einem existentiell wichtigen Lebensereignis. Einmal in Form von Kasualhandlungen und ihrer Projektvorbereitungen und zugleich – in derselben Logik – anlässlich des jährlich wiederkehrenden ‚Jahresabschlussprojekts Weihnachten‘. Diese liminale Phase erscheint im besten Wortsinn ‚sinn-voll‘, weil darin einer als fragmentiert erlebten, postmodernen menschlichen Existenz das Erlebnis der Ganzheit widerfahren kann. Auch und gerade im Ausblick auf eine bereits gegebene und nicht herzustellende Einheit, die in der Transzendenz vermutet und – in Berührung derselben – womöglich erlebt wird. Und wiederum erinnern solche Gedanken theologisch an die Frage nach der Berufung als dem gleichsam roten Faden der eigenen Existenz.
Jene bis hierher skizzierten Formen außergemeindlicher Christlichkeit weisen also eine in hohem Maße vergleichbare, wenn nicht gar dieselbe Logik auf. Innerhalb dieser Logik ist zudem ein Aufgreifen von christlich-traditionellen Gütern und rituell-infrastrukturell vorgegebenen Erfahrungen schlichtweg normal (vgl. die Ausführungen unter I 1.1.3.4 „Das gehört einfach dazu“). Zusammenfassend bringt diese Mentalität Gabriele Ponisch auf den Punkt:
„Man könnte von einem „kulinarischen Ritualgebrauch“ sprechen, in dem das Ritual-Repertoire der Religionen als eine unter anderen Spielarten genützt wird und nicht mehr unbedingt in direktem Zusammenhang zu religiösen Bekenntnissen und Glaubensvorstellungen stehen muss. Der Unverbindlichkeitscharakter erlaubt das Erproben von Ritualen über konfessionelle Grenzen hinweg. Nicht zuletzt darin gründet sich die wachsende Attraktivität von Wallfahrt in der Gegenwart. Kirche im Alltag wird oft als zu „verkopft“ erlebt, Wallfahrt hingegen hat unmittelbar mit sinnlichem Erleben zu tun […]. Rituale, Kirchenraum, religiöse Gegenstände, Skulpturen, Musik, Weihrauch, Licht und Kerzen als Elemente sinnlicher Symbolsysteme berühren direkt. […] Keine/r muss sich schämen, weil die Teilnehmenden davon ausgehen können, sich in Gemeinschaft Gleichgesinnter zu befinden, die zwar nicht alle die religiösen Überzeugungen teilen müssen, sie aber akzeptieren und wertschätzen, sonst nähmen sie nicht an einer Wallfahrt teil.“145
Die Communio, die sich hier bildet, ist folglich per definitionem anlässlich, also projektbezogen. Dadurch ist sie zugleich situativ, also ebenfalls zeitlich begrenzt.
Auch dies scheint die hohe kulturelle Kompatibilität des Pilgerns zu bedingen. Und diese Gemeinschaft steht, anders als bei Kasualien und Weihnachts-Christentum, nicht in Konkurrenz zu einer bereits vorhandenen Ortsgemeinde, die andere Bindungserwartungen an ihre Mitglieder formuliert. Die christlichen Symbole und Traditionen sind gewissermaßen frei zugänglich, ohne dass man sich institutionell oder anderweitig als ihnen zugehörig rechtfertigen oder erweisen müsste. Zudem ist hier aufgrund des häufig geringen Grades institutioneller Administration bzw. entsprechender Vorgaben die Experimentiermöglichkeit bei konfessioneller Unverbindlichkeit problemloser als andernorts gegeben. Ebenso ermöglicht das Pilgern eine generell religiöse Unentschiedenheit, wie sie bereits oben bei Kerkeling sichtbar wurde. Konfessorische Einmütigkeit als Konstitutivum einer Glaubensgemeinschaft scheint seitens der Pilger keinerlei weitere Bedeutung zugemessen zu werden.
Auffallend erweist sich im Kontext des Pilgerbedürfnisses, wie es bis hierher nachvollzogen werden konnte, dass interessanterweise von außen, sprich durch die Pilger, nun kulturell ein bisweilen innerkirchlich tabuisierter Bereich eingefordert und betont wird: Der katholische Formenreichtum und die ihm innewohnende Ästhetik, alle „Elemente sinnlicher Symbolsysteme“, die Menschen unserer Tage direkt zu berühren vermögen.146 Es ist nicht abwegig, diese Linie auf die KasualteilnehmerInnen und WeihnachtschristInnen hin weiterzuziehen.
Die bis hierhin beschriebenen Prozesse sind also wiederum ein deutliches Indiz dafür, dass es bei allen Weisen postmoderner Kontaktsuche zur rituellen und pastoralen Infrastruktur der Kirche vor allem um Hilfen für die eigene Identitätskonstruktion geht. Das Subjekt wird zum je neuen Maßstab, was dazu dienlich ist: An Ritualen, religiösen Inhalten und Vergemeinschaftungen. Man möchte in jedem Fall eine Normalität erleben, die unter anderem durch die verschiedenen traditionellen Bezüge greifbar wird, welche in erster Linie der eigenen, als fragmentarisch erlebten Existenzweise eine womöglich überzeitliche Konsistenz garantiert. Unter anderem wird dies auch hier in der Sehnsucht nach Transzendenz explizit.
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