Kitabı oku: «Der Rattenkönig oder das Echo des Ich»
Jan Schäfer
DER RATTENKÖNIG
ODER
DAS ECHO DES ICH
Erzählung
Engelsdorfer Verlag
Leipzig
2016
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Copyright (2016) Engelsdorfer Verlag Leipzig
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Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Impressum
Vorwort
Der Rattenkönig oder das Echo des Ich
Vorwort
Das Unterhaltsame an der Natur des Menschen ist sein Versuch, dass Leben mit Leben zu erfüllen. Die Anstrengungen, die dieses Geschöpf dabei unternimmt, sind ebenso verständlich wie rätselhaft. Vieles verkörpert nur Stückwerk, manches aber auch das Genie des menschlichen Ich. Fest hingegen steht, dass kein Menschenleben dem anderen gleicht und jedes Menschenleben mehr als ein bloßes Bekenntnis zur nackten Existenz ist.
Die Dinge des Lebens kommen unausgesprochen vor oder sie gestalten sich ganz anders, als angenommen. In Anbetracht aller Facetten und Fatalitäten des menschlichen Lebens wird das Ich nicht verschont. Seine Fähigkeit, vom Kindheitsmuster bis zur Reifeprüfung die eigene Haut zu behaupten, ist Abenteuer und Wagnis zugleich. Das Bemühen etwa, nicht Inbegriff eines Irrtums zu sein, mehr als nur eine Illusion von täuschender Echtheit, erinnert an Aufschwünge und Abstürze im wechselvollen Reigen einer buntbespielten Vielfalt. Doch das Ich bleibt in jedem Fall ein Souverän und wird auch im Zweifelsfall nichts von seiner Identität verlieren.
Auf alle Fälle von Selbstverliebtheit oder existenzielle Grenzgänge, deren Botschaft sich wie eine Herausforderung ausnimmt, weist allerdings nur manchmal etwas hin. Das ist der eigentliche Beweis für ein Leben, das die Oberfläche ins Gegenteil verkehrt und aus irdischer Einengung eine Bühne der Selbstoffenbarung macht. In dieser Unterwelt des Unterbewusstseins agieren eher die Instinkte denn Logik wie man sie kennt. Für diese Form der Wahrnehmung muss sich der menschliche Verstand oft erst einer Verwandlung unterziehen, damit das Ich seine wahre Bestimmung erkennen kann.
Der Rattenkönig oder das Echo des Ich
Ich trat vor den Tisch, setzte mich auf einen Stuhl und schwieg. So wie seit jeher wenn ich müde war, sagte ich kein Wort, sprach ich keinen Ton. Ich saß in der Küche und ich war allein. Um mich herum regierte der Chic einer akkuraten Welt, von der aufgeräumten Anrichte bis zum polierten Kochfeld. Dabei hielt ich nicht auf Ordnung und agierte mehr praktisch als bemüht. Leere Bierflaschen und turmhoch aufgetürmte Teller nahmen sich nicht wie Wunderwerke der Wohnkultur aus, doch unvermittelt traf mich ihr Anblick keineswegs. Schon war es an mir, noch ein paar tiefe Atemzüge zu nehmen und aufzustehen. Mein Blick fiel auf die Tischplatte. Ich strich mir über die Stirn und kratzte mich am Ohrläppchen. Diese Momente blieben immer gleich. Ein Stück Ewigkeit mitten im Alltag. Dann richtete ich mich auf, brachte Spannung ins Kreuz und strich mit der aufgestellten Hand ein paar unliebsame Brotkrümel vom Tisch. Ungezählte Sekunden verstrichen. In diesen Momenten erlernte man die Kunst der Gelassenheit von ganz allein. Wieder auf der Höhe schloss ich den Küchenschrank und schüttete noch etwas Milch in meinen Kaffee. Das Ausharren meinte nichts und war doch alles. Es gibt keine Worte die beschreiben, wie man sich dabei fühlt. Ich räusperte mich und schob die Eieruhr beiseite. Von der Wand lächelte das Kalenderblatt mit der Pin-Up-Schönheit. Keine große Sache, sie anzusehen. Einfach nur schön.
Unter den großen und kleinen Dingen, die mir in diesen vier Wänden vertraut waren, gab es zwei oder drei, an denen ich besonders hing. Zum einen die alten Wandteller von meiner Oma, zum anderen die neue Armatur am Spülbecken, die ich selbst ausgesucht hatte. Na, gelegentlich bedauerte ich schon, dass es das eine oder andere Stück nicht mehr gab, weil es irgendwann mal zu Bruch gegangen war, doch die Zahl der Dinge, an die ich mein Herz hängte, war klein. Schon möglich, dass mir das die lebensnahe Lebendigkeit erleichterte und mich eine gewisse Oberflächlichkeit lehrte, die meinte das es genügt, genügsam zu sein. Will sagen, ich grämte mich kaum, sondern ertrug Verluste auf meine Art von Unbeschwertheit und fast ohne Murren. So konnte ich auch besser abschalten ohne in Kummer auszubrechen und es gab immer einen Rettungsanker der anzeigte, dass echte Katastrophen weitaus gewaltiger ausfallen. Sicher mutet das manch einem fremd an oder sogar befremdlich, für mich hingegen bedeutet es Sicherheit. Meine Art der bestimmten Lebensführung fand so eine Erwiderung jenseits der anrüchigen Vorfelder, in die andere ihre unliebsamen Angewohnheiten verdammen. Manchmal ärgerte ich mich darüber, doch nie brachte es mich auf die Idee, mit einer Veränderung zu kokettieren. Das war der angenehme Teil meines Seins und der bessere von mir. Ich teilte das nicht über Twitter oder Facebook, sondern behielt es für mich.
Von den frühen Jahren und der Zeit der Unbeschwertheit war einiges lebendig geblieben. Die verstaubte Erinnerung hielt manches verborgen, offenbarte sich gelegentlich aber doch und gab Vergangenes frei, das ich vergessen glaubte. Der Kastanienbaum vor dem Küchenfenster zählte dazu, ebenso das alte Waschhaus im Hof und der Wäschetrockner vor dem Fenster. Bei tickender Wanduhr und ruhenden Händen stellte ich mir vor, es gäbe wieder einen Wellensittich Willi, der zum Frühstück auf dem Marmeladenbrot landet, ein altes Transistorradio hoch oben im Wandregal oder einen Küchenofen mit schmiedeeisernen Kochplatten. Für mein Verständnis war das schön, für andere vielleicht banal oder kitschig. Mitten im Sommer, wenn das blühende Blätterdach der Kastanie wie ein mächtiger Schirm Schatten spendete, blieb auch das summende Bienenvolk nicht aus. Noch musste ich meinen Geist nicht bemühen, um der Erinnerung Auftrieb zu geben, doch eine blaue Jogginghose, wie ich sie als Haushose trug, hatte ich früher auch. Sie war so ein Lieblingsstück, wie man es gerne alle Tage trägt, eine Gewohnheit, die man nicht missen möchte, obwohl sie gewöhnlich macht. Das lag daran, dass ich sie gelegentlich bis über den Bauchnabel zog und wie Motzki meine Runden drehte. Die Küche war dafür übrigens bestens geeignet. Ich kochte darin und ich wohnte darin und wenn es mir gefiel, schlief ich auch auf dem Küchensofa ein. Jetzt allerdings druckste ich herum und zerbröselte Tabak über dem Frühstücksteller. Es war so ruhig wie im Winterwald, wenn Schnee auf den Bäumen liegt.
Die Nähe des Brotmessers schien meinem Verstand eine unerwartete Schärfe zu geben. Vertraute Gefühle beschlichen mich und das Sonnenlicht stach scharf durch die Scheiben. Mir fiel wieder ein, dass ich den Käse aus dem Kühlschrank nehmen sollte, ein langer Einkaufszettel auf der Garderobe lag und ich eigentlich mal wieder zum Friseur musste, um als Mitglied der zivilisierten Welt zu gelten. Wenn man sich aufraffen muss, fressen sich die Sinne frei und man bekommt wieder Aufwind. Ähnlich fühlte ich gerade. Mein Blick ging noch spazieren, doch es bestand kein Zweifel daran, dass ein Tag voller Arbeit auf mich wartet. Das sorgte für so eine Erwartungshaltung, die eigentlich keine war, sondern eher schmückendes Beiwerk. Man maß Belanglosigkeiten Bedeutung bei oder fand Freude an Sachen, die einen sonst vollkommen gleichgültig waren. Ich war also gewarnt, besser nichts zu erwarten. Dann konnte ich auch nicht enttäuscht werden wie nach einem verkorksten Haarschnitt beim Friseur. Eine Erfahrung, die aus mir einen seltenen Gast in der Frisierstube gemacht hatte und mich lange lange Haare tragen ließ. Das war natürlich nicht zeitgemäß, aber das war mir egal. Ich würde schon noch früh genug aussehen wie alle Männer der Familie im reiferen Alter und jene sparsame Frisur tragen, die zwischen Heiligenschein und Martin Luther-Gedächtnisfrisur so ziemlich alles sein konnte. Verantwortlich dafür waren die Gene und gegen die ist man bekanntlich machtlos. Ich lebte in der Überzeugung, dass es eines Tages so kommen würde. Meine Oma hatte es immer gepredigt.
Eine Stunde verging. Als ich aufstand, klingelte es. Mein Klingelgast, die Untermieterin, war hübsch ohne spektakulär schön zu sein. Ihr Chic, so in etwa die landläufige Erotik, wie man sie zwischen Leipzig und Rostock an jeder Straßenecke treffen kann, erforderte Einfühlungsvermögen. Sie verlangte das Päckchen, das ich für sie angenommen hatte und ich gab es ihr. Dabei sah sie mich ein wenig aufdringlich an und rührte mit dem Zeigefinger in ihren Haaren herum. Das wirkte befremdlich auf mich, zumal sie das Kaugummi in ihrem rotgeschminkten Mund pausenlos hin und her kaute. Natürlich schaute sie auf, um einen Blick in die Wohnung zu erhaschen, doch ich versperrte ihr die Sicht. Mein Geist war aufgeräumt wie ein Militärspint und ich hegte keinerlei Zweifel: Sie war neugierig wie ein altes Weib! Ich trat ihr entgegen, bis ich mit einem Bein auf der Schwelle stand. Dann lehnte ich mich noch lässig in den Rahmen und warf einen Blick ins Treppenhaus. Meine Untermieterin steppte pampig auf der Stelle, wedelte mit dem Päckchen, wollte etwas sagen, floskelte aber mehr bedeutungslos und verlor sich in ihr Kaugummi. Mir war sie egal. Vielleicht fand ich sie irgendwann mal interessant oder immer so langweilig wie gerade eben. Mit der Gewissheit, sie schnell wieder los zu sein, erwiderte ich „Bitte“ auf ihr „Danke“ und schloss die Tür. Ich hörte sie noch etwas sagen, dann verschwand sie gleich.
Schon kehrte wieder Ruhe ein. In meine Zufriedenheit platzte dafür die Lautstärke einer Musikanlage in der Nachbarschaft, die nur das Lieblingskind eines Großstadtneurotikers sein konnte. Was immer es sein mochte, dass diese Person anstiftete so einen Lärm zu machen, wollte ich nicht wissen. Wie es schien, war dieses Individuum verzweifelt auf der Suche nach Aufmerksamkeit mittels einer Musik, die einfach nur grausam war. Ich tat es wie eine unliebsame Erkältung ab und schreckte auf, als es schepperte. Die Kaffeetasse war mir aus der Hand gerutscht, in einem Moment, wo ich bestimmt verstimmt grollte. Schrecklich unaufmerksam von mir und gewiss nur geschehen, weil ich sie nicht richtig festgehalten hatte. Mit meiner Schnelligkeit aus früheren Tagen hätte ich die Tasse vielleicht noch aufgefangen, so aber war sie futsch. Darauf holte ich den Handfeger und sah zu, alle Scherben aufzukehren. Ein Typ wie Motzki wäre bei der Gelegenheit bestimmt explodiert und hätte die Nachbarschaft mit einem Maschinengewehr bedroht. Meine Sorgfalt beim Aufkehren mischte sich mit einer Prise Wut auf den Idioten da irgendwo nebenan. Mit Musik wie ich sie liebte, hatte das absolut überhaupt nichts zu tun. Das war bestenfalls nerviger Lärm, der sich kaum von den schrägen Tönen in einem Sägewerk unterschied und dabei wie ein riesiger Vorschlaghammer mit fettem Beat unter die Beschallung knallte. Schließlich räusperte ich mich, grollte dem Vollpfosten und wünschte ihm insgeheim die Pest an den Hals. Für den Verlust der Tasse war ihm meine Verachtung gewiss.
Allmählich störte ich mich an einer dicken Fliege im Küchenfenster. Mit angehaltenem Atem griff ich mir die Fliegenklatsche, zielte und schlug zu. Erledigt, frohlockte ich und strich die Fliegenreste von der Klatsche. Ungleich später, bei einem Blick nach draußen, verlor das unruhige Zeitalter seine Bedrohlichkeit und ich kam nicht umhin mir einzugestehen, dass Fernsehen eine wunderbare Erfindung ist. Von einem bestimmten Lächeln fühlte ich mich stets angesteckt. Es wirkte auf mich wie die Verheißung des Himmels, obwohl es nur biedere Zahnpasta Reklame war. Das war ungefähr so, als würde der Fernsehapparat ein Zauberwürfel sein. Amüsiert setzte ich mich, mal wieder im Begriff die Zeit zu verschwenden und ließ mich berieseln. In der Attitüde eines selbstgerechten Sofasurfers vertraute ich meinen Instinkten und verspürte eine Souveränität, die mich fast in Verlegenheit brachte. Nun war ich als Geduldsmensch nicht gerade für Aufregung geschaffen, aber ich wetteiferte mit der Action, die gerade lief. Beschwingt fegte ich über das heimische Echtholzparkett, umrundete den Lesesessel und tanzte meine Katze aus. Nur eine lästige Nachfolgefliege terrorisierte den Luftraum in meinem Wohnzimmer, angeführt von dem Pizzaduft, der sich im Haus verbreitete. Der Pizza-Service war unterwegs und es duftete verführerisch. „Original italienisch“ war auf den Verpackungen zu lesen, die unzerkleinert im Hausmüll landeten. Jene Fliege entsorgte ich per Zielwurf ins offene Klo. Bevor ich spülte, sah ich ihr beim Totentreiben auf der Wasseroberfläche zu, – nicht ein Fliegenbein zuckte noch. Zufrieden löste ich die Spülung aus. Dann schloss ich den Deckel und kehrte aufs Sofa zurück.
Ich hatte Staub gewischt und den Aschenbecher geleert. In der Küche stand ein Bier, obwohl es erst 10 Uhr war. Kein befremdlicher Anblick trotz des Kaffees, der noch heiß neben der Konfitüre auf dem Tisch stand und mit röstfrischer Aromanote lockte. Das Er-Schrecknis eines Lkw, der mit Höchstgeschwindigkeit über die angrenzende Hauptstraße bretterte, fuhr mir wie ein Stromschlag aus der Steckdose in die Glieder. Der Fahrer musste entweder auf der Flucht oder verrückt sein. Ich eilte ans Fenster, sah eine erschrockene Gassigängerin und einen älteren Mann, der dem Fahrer eine Wutfaust ballte. Nun, dachte ich, – eins, zwei Polizei oder er geht vom Gas. Selbst der fette Kater vom Garagenhof war hochgefahren und schaute starr vor Schreck. Er harrte mit gespitzten Ohren regungslos aus, ganz der Manier der Katzen gehorchend, fixierte fest die Quelle des Lärms, nicht einmal mehr die nahe Taube im Blick. Ich trank einen Schluck Bier und dann noch einen. Der Kater schaute zu mir auf, dann krachte es. Der Lkw hatte einen Unfall gebaut. Zudem torkelte ein Typ über die Straße, der schon ein Bier zu viel hatte. Er lallte wie im Vollrausch und schaufelte mit wedelnden Armen Luftlöcher, was ihn so entzückte, dass er mehrfach auf die Fresse fiel. Ich konnte aus der Ferne kaum beurteilen, ob er sich dabei böse verletzte, doch es sah unglaublich komisch aus. Auch der dicke Kater sah ihm ausgesprochen missmutig zu. Der Anblick eines Typen, der so früh am Morgen besoffen ist, verstörte ihn mächtig. Inzwischen war die Polizei zur Stelle. Gut möglich, dass der Lkw nunmehr Schrott war.
Von Zeit zu Zeit bemächtigte sich meiner ein tiefsitzender Drang, der mich lehrte, die Dinge in einem anderen Licht zu sehen. Der Optimismus der Lebensmenschen, die immer positiv denken, ist langweilig. Es gab sie schon vor mir, die Menschen, die irgendwie anders sind. Gemeinhin will es scheinen, bewege ich mich auf einem Terrain, das neben seinen Eigenheiten vor allem durch Besonderheiten auffällt. Ich esse Kuddeln (auch Flecke genannt), gehe ungewaschen aus dem Haus, putze die Zähne nicht regelmäßig, lese Romane und manchmal auch Telefonbücher. Keiner glaubt mir, dass ich ein reichlich befremdliches Subjekt bin und alle halten mich für normal. Wenn ich allerdings eins nie war, dann das. Ich hatte mir geschworen, damit zu warten, bis der Schnee auf dem Kilimandscharo taut oder Mutter Beimer freiwillig auf Spiegeleier verzichtet. Für diese Entschlossenheit wollte ich mich verausgaben, nicht bereit für Selbstaufgabe oder Anpassung. Doch gelegentlich lasse ich mich auch täuschen, ähnlich manchem Mitmenschen, der sich in irgendeiner Angelegenheit beschwatzen lässt und fortan nicht mehr an alte Überzeugungen glaubt. Kleine Zugeständnisse habe ich auch schon gemacht, was für mich und meine Befindlichkeit noch mehr Vorsicht bedeutet. Ungefähr wie ein Ahnungsloser, dem die Möglichkeit zum Vergleich fehlt, weil Verwirrung vorherrscht. Demnächst werde ich mich in Beharrlichkeit üben, immer dann, wenn meine Erinnerung das Summen des Bienenvolkes vermissen lässt oder meine Katze beim Schmusen nicht mehr schnurrt. Die Schule der Gelassenheit habe ich glücklicherweise absolviert und mit ihr die sinnfreie Ignoranz erlernt. Handfeste Fakten wie Unfälle sind etwas anderes. Da leide ich mit und bin traurig.
Ich liebe Sachen, die praktisch sind. Mein Taschenmesser verfügt über zehn Funktionen und eine davon macht es möglich, Dosen zu öffnen. Zugegeben, es erfordert Kraft, aber das System ist patentiert und funktioniert immer. Für eine Konserve mit Frühstücksfleisch also prima. Das war so ziemlich das letzte, was die Vorratskammer noch hergab, seit der Kühlschrank sein Innenleben aufgegeben hatte. Ich schnalzte mit der Zunge und strich mir ein Brot. Frisch war es längst nicht mehr, doch das fette Schweinefleisch machte diesen Umstand wett. Besonders lecker mundete die saftige Soße. Sie machte das trockene Brot sogleich wieder weich und durchtränkte den Laib mit ihrem herzhaften Aroma. Ich stand kurz davor, auf die Knie zu gehen oder einen begeisterten Ausruf des Wohlgeschmacks zu tun, so nobel fand ich die Kleinigkeit. Das spartanische Erleben war wie ein Beben ohne wackelnde Wände für mich. Wirklich nett, dass eine Vorratskammer ihre Geheimnisse ab und zu preisgibt, zumeist dann, wenn der Kühlschrank dringend aufgefüllt werden muss. Die leere Dose packte ich in den Müll. Dann strich ich mein Taschenmesser ab und reinigte es mit Küchenpapier. Ein wenig voll hielt ich mir den Bauch und rülpste ungeniert in die hohle Hand.
Eigentlich hatte ich gar keinen Hunger. Ich raffte die Sofadecke zusammen und legte sie zum Interieur. Ihr kunterbunter Musteraufdruck glich einer Landkarte. Eben alles bedurfte eines Musters oder einer einprägsamen Signatur. Das galt selbst für das Klo. Ich lag richtig mit meiner Methode der Toilettenreinigung: Einmal mit der Bürste hinein, schön unter dem Spülrand kratzen und wieder heraus! Für normale Verhältnisse und die Kultur des Wohnens stellte diese Technik eine ausreichende Anwendung dar. Hinlänglich bemüht erscheine ich in diesem Fall sowieso immer, aber gern mache ich es nicht. So sah ich mich um, mal wieder zwei, drei Punkte im Auge und einen seltsamen Klang in den Ohren. Auf dem Nachbargrundstück wurde eine alte Pappel zersägt. Das Geräusch der Motorsäge hörte sich infernalisch an. Meine Güte, dachte ich, dass wird eine Weile dauern. Zwar war das Holz alt, doch ein erprobter Holzfäller schien zum Leidwesen aller Beteiligten gerade nicht in der Nähe zu sein. Die Kettensäge schnaufte mal laut und mal leise und hin und wieder stand sie still. Ein wenig bemüht sah es schon aus, denn die Säge wollte so wirklich nicht. Meine Zeugenschaft war nur eine von vielen und so quälten sich die Amateure vom zuständigen Amt wie die Akteure einer Polonaise im Altersheim. Ihr Eifer war bewundernswert, doch der richtige Schnitt fehlte allenthalben. Vielleicht nur Ersatz, der sonst Schreibtischarbeit machte.
Ich verließ die Wohnung eine halbe Stunde später. Mein Begleiter war eine Ledertasche für Einkäufe. Das, was ich zuvor aus dem Fenster gesehen hatte, war nun dort und da, jedenfalls ganz nah. Ein dicker Hundehaufen säumte den Gehweg zur Straßenseite und eine aufgebrachte Passantin rümpfte verdrießlich die Nase. Die Postfrau stellte ihr Rad an der Hauswand ab. Ich grüßte sie flüchtig und erfuhr von ihr, dass drei Straßen weiter die Straßenbahn aus dem Gleisbett gesprungen war. Zu meiner Verwunderung blieb sie ruhig während sie schilderte, wie es sich zugetragen hatte. Unten im Park, wo sich das Stadtgespräch abspielte, sorgten solche Vorfälle für Aufsehen. Die Leute redeten ständig über irgendetwas, bestimmt auch darüber. Vielleicht kam ich so ins Gespräch und wenn nicht, sei’s drum. Eine Reihe anderer Dinge und Bilder prägten meine Welt und der vermittelte Unglücksfall war einer von vielen. So gelangte ich an das alte, leer stehende Haus, das nach einem Brand keinen Dachstuhl mehr hatte und Tauben als Unterschlupf diente. Dort mochte es neben Ungeziefer lichtscheue Gestalten geben, was vollkommen normal war. Ich hatte nie wieder einen Fuß hineingesetzt, seit sie eine Leiche herausgeholt hatten, die furchtbar entstellt gewesen sein soll. Das war sofort Thema im Stadtpark und über die Grenzen der Stadt hinaus. Der örtliche Ötzi, ein Typ der seit Jahren auf der Straße lebte, wusste immer mehr als die anderen. Mir war er ein Rätsel. Ich sah immer zu, gut informiert zu sein, doch bei ihm war ich vorsichtig.
Der Alltag prägte meine Wegstrecke. Abtapezierte Plakatwände standen kurz vor dem Absturz. Ich sah mir die letzte lesbare Schlagzeile an und erkannte die Tourneedaten einer Eisrevue vom letzten Winter. In Gegenwart einer lärmenden Kehrmaschine schien der Autoverkehr stumm abzulaufen. Ein gestresster Monteur brüllte seinen Kollegen an und mahnte barsch zur Eile. Er gebrauchte auch das Wort Arschl… und redete sich in Rage. Die selbstvergessene Akrobatik eines Teen-Girls nahm sich dagegen unterhaltsam aus. Sie tänzelte unter Kopfhörern den Gehweg hinunter, steppte mit den Füßen das Pflaster entlang und ließ keinen Zweifel daran, dass es ihr gut ging. Diese Ausgelassenheit streifte das unglückliche Los eines Obdachlosen, der in Lumpen gehüllt die Leute anbettelte. Bei seinem Anblick schauderte mir. Ich gab ihm etwas Kleingeld, wohl wissend, dass er davon das nächste Bier kauft.
Das Geschäft, in das ich zum Einkauf wollte, lag am Ende der Straße. Ich verspürte aber keine Eile und mein zeitloser Zuschnitt wagte es, die Langsamkeit zu entdecken. Dabei kenne ich nicht wenige, die sich davor fürchten. In ihren Köpfen regiert die Vorstellung, dass Langsamkeit in Einsamkeit mündet wie eine Seuche. Angesichts dieses Gedankens machte sich in mir eine fragende Ungewissheit breit und ich schaute mich um ob da jemand war, dem das auffiel. Die Sonne umgab die Szenerie so wechselvoll, wie die Wolken es zuließen. Mal schimmerte ihr Licht verschwenderisch, dann drängte Schatten auf den Plan. Ferner erregte ein Mann meine Aufmerksamkeit, dem anzusehen war, dass er Probleme hatte. Die fragende Gestik seiner Haltung ähnelte einem Missverständnis, denn er stand wie ein Nichts zwischen zwei unsichtbaren Fronten, die wie Mahlsteine auf ihn einwirkten. So vergaß ich meinen Einkauf für einen Moment, denn ich rätselte ob seiner Befindlichkeit. Tatsächlich erschien so ein Menschenleben merkwürdig, wenn es die Grenzen der Normalität sprengte und sich der Betroffene im Niemandsland zwischen Außenseiter und Grenzgänger bewegte. Für mich gab es da etwas, dass wie ein Band einen Anfangs- und Endpunkt hatte, während sich dazwischen ein Loch auftat, das zwischen Leere und Abgrund alles sein konnte. Nachgerade gab ich die Schuld den Dämonen, die uns innewohnen.
Für einen kurzen Augenblick glaubte ich meinen Augen nicht zu trauen. Ein vorlauter Knabe herrschte seine Mutter an und beschimpfte sie. In ihrer Not beschwichtigte sie ihren Sprössling mit Versprechungen. Unglaublich anzusehen war, wie der Junge bockte, stampfte, schrie und sich vor seiner Mutter in den Dreck warf. Nur wegen einer weggenommenen Spielfigur veranstaltete er diesen Aufstand. Das war heftig und ich fasste den Griff meiner Tasche fester. Als der Knabe mit einer Faust boxte und seine Mutter traf, krümmte sie sich zusammen. So ein teuflischer kleiner Bastard wie dieser mochte bestimmt kein Engel sein. Ich konnte sehen, wie sich oberhalb seiner Nasenwurzel eine steile Falte in die Stirn grub, wodurch das unschuldige Kindsgesicht etwas Finsteres ausstrahlte. Dazu kamen das Toben mit dem wütenden Schnauben und das wilde Gebaren seines ganzen Körpers, der sich scheinbar von seiner kindlichen Natur gelöst hatte und von wilder Wut getrieben seinen Willen durchsetzen wollte. Das erinnerte an Raserei, eine Vorstufe der Tobsucht, die keine Zurückhaltung mehr kannte oder wollte, dass es aufhört. Die Mutter tat mir leid. Sie war ihrem Spross nicht gewachsen und ich hoffte sehr für sie. Als sie schweigend von ihrem Sohn zurücktrat fand sie auf der Suche nach Halt nur ein Verkehrsschild. Die Bitterkeit dieser Szene dauerte mich. Es war so unwirklich, dass ich mich lossagte. Mir war kalt.
Mittlerweile empfand ich die süße Last der Ungezwungenheit als sehr angenehm. Der Park war nun ganz nah. Eine Gruppe von Menschen hatte sich schon versammelt. Wir bildeten die recht bekannte „Parkbankfraktion“, eine Klientel von Personen, welche die Gelassenheit entdeckt hatte und auf die Abgründe einer Welt niederblickte, die laut und hektisch war. Freilich, ich war nicht wie sie, aber ich teilte mit ihnen ein Vergnügen, das andere nicht nachvollziehen konnten. Das hieß zunächst die Welt mit anderen Augen sehen und im Mittel ein schwergewichtiger Egoist zu sein. Unter den „Parkbänklern“ hatte es die Angewohnheit, eben nicht uniform zu sein. Das einte uns bei aller Verschiedenheit und schuf Nähe. Manchmal glaubte ich mich befangen und wusste nicht, dass Miteinander der biedere Ersatz für nichtgelebte Überheblichkeit ist. Schön war anders, aber die Parkbank stellte keine Fragen. So vermied ich mich nach Möglichkeit selbst und hielt den Eindruck aufrecht, vielleicht ganz anders zu sein. Das hinterließ Wirkung. Für meinen Einkauf hatte ich am Ende immer noch Zeit.
Das fern geglaubte Unbehagen meldete sich wieder, als eine dicke Straßentaube den Boden zu meinen Füßen nach Brotresten absuchte. Der Vorfall, von dem die Postfrau erzählt hatte, war bestimmt schon in den lokalen Nachrichten. Seit jeher gruselte mich die Vorstellung, dass ein Mensch von einer Straßenbahn überrollt wird. Von grauenvollen Einzelheiten, möglichen Details aus der Gruselkammer über abgetrennte Körperteile, wollte ich gar nichts wissen. Der Fotojournalismus dieser Tage lieferte das Grauen ohnehin frei Haus. Das war ein Versprechen an die Realität, mit der es immer schneller bergab ging. Es gab keinen moralischen Maßstab mehr, der das Gewissen in die Pflicht nahm und aufzeigte, dass es manchmal besser ist, jegliche Sensationslust zu vermeiden. Der Tod erbte, was vom guten Geschmack geblieben war, wobei seine Wahrheit noch zum Leben gehörte, bis man ihm die Würde nahm. Jeder kannte doch mindestens ein Foto, auf dem ein Sterbender oder toter Mensch zu sehen war und hatte seine Regeln für den Umgang damit. Ich drängte mich nicht nach dem Anblick, doch das Thema war heiß, weil es die Schattenseite der menschlichen Existenz berührte und die Journaille inzwischen eine sündige Vorliebe für das Morbide hatte. Genau das war das Schlimme daran. Mir wurde wohler, als jemand sagte, dass kein Mensch Schaden genommen hatte. Die Straßenbahn, dieser Lindwurm, dass Unheil unserer Tage…
Durch die Blätter der Bäume rauschte der Wind. Eine durchtriebene Elster hüpfte von Ast zu Ast und erschreckte schimpfende Spatzen. Allmählich überkam mich eine Ruhe von selten erlebter Beständigkeit. Ich faltete die Hände vor der Brust und schickte mich an, den Einkauf abzublasen. Für meine verschwiegene Seite und ihre ausgeprägte Tiefe bedeutete das einfach nur Glück. Egal was geschehen würde, – ich zeigte mich unbeeindruckt und verharrte in aurelianischer Stoik. Schwärmerisch gedachte ich der Momente, in denen ich diese Tugend eintrainiert hatte, ein wenig stolz darauf, aber doch eher bescheiden. Das änderte nichts daran, dass ich auf das Geschehen in der Umgebung weiter ein Auge hatte. Für das arme Mädchen, das gerade miterleben musste, wie ihr Freund von einer anderen angemacht wurde, brach eine Welt zusammen. Im Streit musste sie erkennen, dass sich ein Himmelbett urplötzlich in eine Richtstatt verwandeln kann. Meine zeugenhafte Verlegenheit rebellierte an dieser Stelle. Ich empfand das Schauspiel doch lästig und musste moderat auf meine Etikette achten. Ein Beobachter an meiner Stelle hätte unverhohlen zugesehen und abgewartet. Für derlei verwegene Unerschrockenheit fehlte mir die Pomeranze.
Wenn ich am Morgen meinen Kaffee vorbereitete, tat ich das stets voller Neugier und Fragen an die kommenden Stunden. Einerseits brauchte es dabei die Freiheit, an die Freiheit zu glauben und andererseits mühte ich mich um Besonnenheit als Wegweiser. Ja, ich machte mir Gedanken ohne Schranken und auch wenn die Einfalt anklopfte, geschah das mit Stil. Die Welt des Geistes, die ihre Schwingen da ausbreitete, wo der Mensch bemüht ist, etwas Großes zu vollbringen, offenbarte ungezählte Irrwege, die im Schatten der Ambition für Verwirrung sorgen konnten. Manchmal dünkte es mich verfrüht, mir Gedanken zu machen und ich musste erkennen, dass der Morgen nicht immer die geeignete Zeit zum Nachdenken ist. Umso stärker erwuchs in mir der Wunsch, die ferne Entlegenheit meiner frühen Mutmaßungen im Grenzgebiet möglicher Abenteuer zu verorten und die Aufsuchung zum Gegenstand einer zielgerichteten Methodik zu machen. Letztlich erwies sich der Kaffee stets köstlicher, wenn mir das gelang. Denn bekam ich die Einladung zum Aufenthalt in dieser Sphäre der Gefühle und Stimmungen und hatte ich obendrein das Vergnügen, mit Scharfsinn zu erkennen, wogte eine Welle der Zufriedenheit durch meinen Herzhafen.
Etwas schwermütig erhob ich mich. Vom Scharren im Schotter hatte ich schmutzige Schuhe bekommen. Diese Unart beim Sitzen ließ mich einfach nicht los. Die Ledertasche hängte ich mir ums Handgelenk, weil sie so leichter zu tragen war. Auch meinen Mantel musste ich am Kragen zurechtrücken und ein wenig drapieren. Aber sonst war alles gut. Der örtliche Ötzi gab sich ungewohnt sanft, als er sich unter die Umstehenden mischte und Zigaretten anbot. Keine Anzüglichkeit, keine provokante Worthülse, nicht einmal eine zotige Anspielung kam ihm über die Lippen. Das war normalerweise Standard und zählte zu den Pflichtübungen seiner Unmöglichkeit. Ich staunte in mich rein und musterte die Umgebung. Der Typ schien wirklich geläutert zu sein, doch diese Attitüde konnte kaum gesehen umschlagen und ihn in eine Nervensäge verwandeln. Mir stand der Sinn aber nicht nach Vorhaltungen was sein Benehmen betraf, eher nach Abstand. Meine Schuhe gaben ein Bild des Jammers ab, doch Putzen konnte ich sie später. Nun und entlang der angrenzenden Fassaden erwarteten mich Schönheit und Verfall. Der Platz, von dem ich mich gerade erhoben hatte, war schon wieder besetzt. Nahezu beiläufig fixierte ich die nächste Ecke, unschwer zu erkennen an den südländischen Orangenbäumen, die im Duo den Eingang zu einem Blumenladen säumten. Dort hatte ich mal eine fette Banknote aufgelesen. Zu einer Zeit, als alles vom Wandel ereilt wurde, traten die Halsabschneider auf der Stelle und wedelten mit Beträgen herum, die sie unters Volk bringen wollten. Ich habe ihnen wohl einen Gefallen getan.