Kitabı oku: «Auwald», sayfa 2

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Krähenfrühstück

Da, wo Lin gelegen hatte, war das Laken noch schlafwarm. Judith hatte die Augen geschlossen und die Handfläche auf der Abwesenheit neben sich abgelegt, die Finger weit gespreizt. Sie spürte ihre Hand in die Matratze sinken, mit jedem Atemzug ein Stück tiefer. Vielleicht würde sie im Ganzen darin verschwinden, die Fingerspitzen voran. Aus dem Inneren einer Federkernmatratze betrachtet, war sicher alles leichter. Noch dazu war das Bett neu überzogen. Es ging nichts über den sanften Waschmittelduft frischer Laken. Im Zimmer dagegen roch es nach einem Sommer, der sich kurz vor dem Kipppunkt befand und bereits von sich selbst genug hatte. Sie ließ sich noch einmal in einen schweren Morgenschlaf sinken.

Als sie die Augen öffnete, lagen Hand und Bett noch genauso da, nichts brachte die Ordnung des Raumes in Ungleichgewicht. Lins Lakenseite hatte die Temperatur der Umgebung angenommen. Judith war schon wach, doch ihr Körper merkte wenig davon. Sie schaute ihre Hand an wie etwas, das man gern auseinandernähme, aber nicht konnte, da das richtige Werkzeug fehlte.

Dienstbeflissen klapperte im Nebenzimmer die Computertastatur. Lin hatte die Angewohnheit, nach dem frühen Aufwachen direkt mit ihrer Arbeit zu beginnen, sie mochte die Morgenstunden und das, was der frische Tag mit ihr machte. Sie saß meist bei offenem Fenster da, die Tür nur angelehnt, so dass die Luft, das Vogelzwitschern und die Stadtgeräusche durch sie hindurchzogen. Duschen und Frühstücken verschob sie bis zu dem Punkt, an dem sie beim Schreiben ins Stocken geriet, als hätte sie nie Hunger oder fettige Haare. Tatsächlich sahen ihre Haare nie wirklich schlimm aus, und ihr Hunger wirkte immer sehr beherrscht, als sei es ihm egal, ob er sofort oder erst in einer Stunde gestillt wurde. Meist war sie am Mittag, spätestens am frühen Nachmittag fertig mit ihrem Pflichtprogramm, und ihr Tag franste aus, sie ging zwischen zwei E-Mails einkaufen, erledigte den unliebsamen Kleinkram, die Rechnungen und Telefonate, blätterte durch ihre zahllosen Zeitungen oder schaute sich unter dem Vorwand der Recherche auf YouTube zehn Videos am Stück an. Sie hatte für ihre Arbeit keine Anfangs- und Abschlussrituale, war also in einer Art permanentem Bereitschaftsdienst, und sie wäre mit Sicherheit empört gewesen, hätte man ihre Nachmittage einfach als Freizeit abgetan. Wenn es ungewöhnlich viel zu tun gab oder Vernissagen, Vorträge und Veranstaltungen anstanden, machte sie in der zweiten Tageshälfte eben den Rücken wieder gerade, schob die Brille zurecht und ließ sich von Neuem elektrisieren. Solche Tage waren allerdings die Ausnahme. In der Regel hatte sie viele Stunden für Sachen, die sie interessierten, oder für Menschen, die sie gut fand, vor allem aber Stunden, in denen nichts sich bewegte, nichts entstand und nichts geschah. Judith hingegen konnte sich solch lange Tage kaum vorstellen. Dabei fing sie ebenso gern so früh wie möglich mit der Arbeit an, und sie mochte die Morgenstunden mindestens so sehr wie Lin. Aber gerade deshalb kamen ihr freie Nachmittage ganz sinnlos und nutzlos vor und sie vermied es, mit ihrer Arbeit fertig zu werden, zumindest solange, bis die nächste Aufgabe anstand. Am liebsten mochte sie fließende Übergänge: ein Stück fertigstellen, während sie ein neues begann, da den letzten Firnis auftragen und dort den ersten Sägestich ansetzen.

Sie drehte sich auf den Rücken und hielt ihre Hände in den breiten Lichtstreifen, der an der Gardine vorbei ins Zimmer fiel. Dass Menschen überhaupt Hände hatten, überhaupt Finger. In solchen Momenten musste sie sich sehr beherrschen, dass ihr die Gedanken nicht davongaloppierten. Im Großen und Ganzen sahen ihre Hände, genau wie der Rest ihres Körpers, normal aus. Zumindest merkte man ihnen nicht an, was sie machten, die Schleif- und Bohrarbeiten, die Lackarbeiten und das viele Fräsen und Sägen. Vielleicht waren sie etwas groß geraten, das hatte allerdings nichts mit ihrer Arbeit zu tun, große Hände sah man überall, auch an Pianisten und Neurologinnen. Die Fingernägel konnten etwas Zuwendung gebrauchen, aber wer konnte das nicht.

Den ersten Kaffee trank sie in ihrem Zimmer auf der Fensterbank, die Beine angewinkelt, die nackten Füße auf der Heizung abgestellt. Diese breiten Simse machten den Mangel an Balkonen in Wiener Mietshäusern beinahe wett. Sie waren auch nicht unbequemer als die Klappstühle, die die Leute auf ihren raren Veranden, Dachterrassen und Balkonen stehen hatten, und man konnte leicht auch hier Tomaten oder Erdbeeren züchten, oder ganze Sommer verbringen, wenn einem daran gelegen war. Es war auch ein guter Platz, um zu lesen. Vor allem war die Aussicht hervorragend. Judith war es etwas unangenehm, dass sie über die Gewohnheiten der Menschen im Haus gegenüber so genau Bescheid wusste. In knapp zehn Minuten würde in der dritten Etage ein Fenster aufgehen und ein Mann im Bademantel würde sich die erste Zigarette des Tages anstecken. Er und Judith würden so tun, als sähen sie einander nicht. Tatsächlich waren sie sich in all der Zeit, die sie beide in derselben Straße wohnten, draußen nie begegnet, zumindest hatten sie einander nicht erkannt. Womöglich existierte er nur innerhalb seines Fensterrahmens, nur in den zigarettenkurzen Momenten, wenn sich ihrer beider Rituale kreuzten. Judith hoffte, dass er sie wirklich nicht wahrnahm. Wenigstens trug sie nie einen Bademantel, sondern einen anständigen Pyjama. Seit es jeden Werktagmorgen diese Minuten des Aneinandervorbeischauens gab, achtete sie darauf, was sie zum Schlafen trug, und sie hatte sich nach und nach eine ganze Kollektion ansehnlicher Pyjamahosen und -oberteile zugelegt, eine Bekleidungsart, die bis dahin völlig an ihr vorbeigegangen war. Manchmal bügelte sie sie, doch nur, wenn sie allein zuhause war. Lin hatte diese Erweiterung ihrer Garderobe nicht kommentiert.

In der Wohnung schräg unter der des Frührauchers hatte der Tag wie immer schon im Morgengrauen begonnen. Auf dem äußeren Fensterbrett hatte jemand ein üppiges Frühstücksbankett für die Krähen angerichtet, wahrscheinlich Essensreste, unmöglich zu erkennen, was genau es war. Klumpen für Klumpen verschwand die Mahlzeit. Die Krähen schnappten sie im Vorbeiflug, keine von ihnen nahm auf dem Sims Platz. Sie drehten gleich wieder ab, und Judith konnte manchmal unter ihre Bäuche schauen, wenn sie zum Essen das Dach ihres Hauses ansteuerten. Das Gefieder am Bauch war heller, nur mehr ein blasses Grau, und sah weich aus, weich und schutzlos. Die Krähen flogen steil nach oben, so als tauchten sie aus einem tiefen Gewässer auf. Lin hatte erzählt, dass eine Frau jeden Vormittag nach dem Krähenfrühstück die Fensterbank schrubbte. Judith selbst hatte nie jemanden in der Wohnung gesehen, nur manchmal gespensterte ein Schatten durch die Räume.

Lin behauptete dagegen steif und fest, dass sie gegenüber nie einen Raucher im Bademantel bemerkt habe und nicht wisse, wer da schräg über der Krähenfrau wohne. Sie ging sogar so weit darüber zu spekulieren, ob die Wohnung vielleicht leer stehe. Tatsächlich hingen keine Gardinen vor den Fenstern, es zeichnete sich jedoch in den hinteren, dunklen Teilen der Wohnung etwas ab, das nach dem Umriss einer Zimmerpflanze aussah. Judith reichte das als Gegenbeweis. Wenn sie am Abend hinüberschaute, brannte nie Licht. Aber das konnte auch Zufall sein. Sie sah nie zu lange hin.

Mitternacht

Das erste Feuer, das sie je gesehen hatte, vergaß Judith nie wieder. Es war nicht das erste Feuer überhaupt, sondern das erste richtige Feuer, das erste, das etwas bedeutete. Ein unromantisches Feuer ohne mildernde Umstände. Kein Kamin- oder Lagerfeuer, kein Osterfeuer.

Sie waren damals über Silvester in Berlin gewesen, sie und Lin, die ihre alten Freundinnen aus dem Studium wiedersehen wollte.

»Ich will, dass du meine Leute kennenlernst«, so lautete die Forderung, in der ein unausgesprochenes »endlich« mitschwang. Lin sorgte dafür, dass es sich wie ein feierliches Zugeständnis anhörte, so als würde ihre Beziehung automatisch auf eine höhere Ebene gehoben, wenn sie Judith ein paar Hände schütteln ließ und ihr Namen vorsagte, die sie über einem Glas Wein und drei gewechselten Sätzen gleich wieder vergessen würde. Judith ließ sich nicht anmerken, dass sie kaum neugierig war auf Lins altes Leben in Berlin.

Sie war unentschieden in der Frage, wer wem einen Gefallen mit dieser Reise tat. Lin erzählte in der Zeit vor ihrer Abreise von Leuten, die sie zuvor nicht einmal erwähnt hatte. Schließlich waren sie in Tegel gelandet, mit Bus und U-Bahn zu Alexas Wohnung gefahren, und plötzlich waren all die anderen nicht mehr zu erreichen, zu beschäftigt oder im letzten Moment doch uninteressant geworden.

Alexas Wohnung erreichte man über drei Hinterhöfe und viele Treppenstufen. Nach ihrem Hinterhaus kam nur noch eine Brache; die nächsten Häuser waren so weit weg, dass man keine Menschen oder Gegenstände hinter den Fenstern erkennen konnte – außer der Farbe der Gardinen. Nachts wurde es richtig dunkel, so dass die Stille, die tagsüber ebenfalls herrschte, umso spürbarer wurde. Judith mochte es nicht, wenn ihre Sinne ohne das beruhigende Rauschen und Flirren einer Stadtnacht so lang nach Beschäftigungen suchten, bis sie ihren eigenen Puls hörte.

Lin machte Alexas Wohnung Komplimente, die Judith nicht nachvollziehen konnte, und behauptete am nächsten Morgen, sie würde auf dem Futon besser als zuhause schlafen. Judith dagegen hatte in der Nacht eine Ewigkeit wach dagelegen und versucht, nicht ans Schlafen zu denken. Dann war sie aus einem Traum aufgeschreckt und hatte sich danach nicht mehr weiterzuschlafen getraut, bis ihr irgendwann im Morgengrauen die Augen zugefallen waren. Als sie kurz darauf von der Wachheit der anderen geweckt wurde, fühlte sie sich so müde, als hätte sie die Nacht durchgemacht. Trotzdem freute sie sich über Berlin. Sie ließ keine Gelegenheit aus, um sich davonzustehlen, während Lin und Alexa sich in Gesprächen verstrickten über gemeinsame Bekannte und alte Zeiten und alles, was sie gegenwärtig umtrieb. Judith fand immer neue Vorwände für kleine Spaziergänge durch die Straßen. Haarspülung vergessen, Kopfschmerztabletten vergessen. So viel, wie sie vergessen hatte, hätte sie niemals einpacken können. Besonders stolz war sie auf den gerissenen Schnürsenkel, den sie sich ausgedacht und der ihr eine Stunde Umherirren in Charlottenburg beschert hatte. Sogar beim Schloss war sie vorbeigekommen, ehe sie auf den letzten Metern, schon auf dem Rückweg kurz vor Alexas Haus, eine Änderungsschneiderei fand, die die ausgefallensten Schnürsenkel führte. Vor lauter Glück kaufte sie drei unterschiedliche Paare und noch eine Schere dazu. Diese war so klein, dass Judith kaum die Finger durch deren Augen bekam, und sah stumpf aus. Der Mann hinter der Theke hatte ein altes Gesicht und junge Hände. Er packte Judiths Einkauf in eine Plastiktüte und überreichte sie ihr mit elegantem Gleichmut.

Die beiden anderen liefen voraus; es schien sie nicht zu stören, dass Judith sich zurückfallen ließ. Lin hatte sich bei Alexa eingehakt. Judith konnte von weiter hinten dabei zusehen, wie ihre Schritte sich einander anglichen, bis sie im selben Takt über das grobe Pflaster liefen. Lin trug ihre flachen, schwarzen Stiefeletten, Alexa ein Paar Stiefel, die je nach Lichteinfall rot oder braun oder schwarz aussahen. Judith hatte später herausgefunden, dass die Farbe Ochsenblut hieß oder Oxblood.

Alexa trug Größe 38 bei Schuhen, bei Kleidung Größe 36 oder S, bei Hosen 27. Ein Blick unter die Schuhsohlen auf ihrem Flur, ein, zwei Jeans und Pullover aus dem Wäschekorb hervorgezogen: Solche Sachen konnte man immer machen, dafür musste man nicht einmal allein in einer fremden Wohnung sein. Unterwäsche war genauso leicht auffindbar. Zu genau schaute Judith nicht hin. Sie schätzte 70B. Oder 70C, bestimmt war es 70C. Alexa war am Morgen Brötchen holen gegangen, während Lin unter der Dusche stand. Judith hatte an der Wohnungstür gelauscht, bis die Schritte im Treppenhaus immer leiser geworden waren, und einen kurzen Blick ins Schlafzimmer gewagt. Die Jacken und Mäntel auf der Garderobenstange berührt und eine Hose hochgehoben, die über einer Sessellehne hing. Sie suchte ohne Erfolg nach etwas, das ihr von Alexa erzählen würde; nach einem Gegenstand, der mehr verriet, als sie in der kurzen Zeit ohnehin schon herausgefunden hatte.

Als Alexa wiedergekommen war, hatte sie wieder auf dem Futon gesessen und durch ein Stadtmagazin geblättert. Alexa hatte angekündigt, Frühstück zu machen, und sie dort sitzen und schauen lassen. In demselben Augenblick, als Lin es sich gerade mit ihren nassen Haaren neben Judith auf dem Futon bequem machen wollte und sie fast schon die Wärme ihrer Haut über die kleine Lücke zwischen ihren Körpern hinweg spüren konnte, stand Alexa auf der Schwelle und zählte auf, was sie alles eingekauft, vorbereitet, gekocht, gebraten und aufgebacken hatte. Es hätte nicht mehr viel gefehlt, und sie hätten sich zum Applaus erhoben.

Der Wind zog an ihren Schals und Mantelsäumen. Alexas Lachen wehte hinter ihr her, zu Judith. Dann waren sie um die nächste Straßenecke verschwunden. Judith war nicht besorgt; Berlin war ihr nicht fremd. Je weiter Lin sich von ihr entfernte, desto weniger musste sie an sie denken. Nach ein paar hundert Metern dachte sie auch nicht mehr an die Silvesterparty, zu der sie unterwegs waren. Judith gab sich Mühe, den auswendig gelernten Weg so gut es ging wieder zu vergessen. Es kam ihr vor, als würde die Straßenbeleuchtung immer spärlicher, als leuchtete nur hinter wenigen Fenstern noch Licht, das sofort von den Bäumen auf dem Gehweg geschluckt wurde. Alle Geräusche schienen von weit weg zu kommen. Erst war sie nur auf ihrer eigenen Straßenseite allein, dann sah sie auf der ganzen dunklen Allee niemanden mehr. Es waren nur ein paar Minuten, die sie so von allen Menschen und allen Geräuschen verlassen durch die Straße lief. Aber dieser kurze Weg ließ sie, jedenfalls kam es ihr im Nachhinein so vor, bereits etwas von der Veränderung spüren, die nicht viel später jedes Haus und alle Menschen heimsuchen würde. Als führte er sie direkt hinein in eine neu geordnete Welt, in der nichts, was jetzt selbstverständlich war, noch diese beruhigende, beklemmende Normalität in sich trug.

Zuerst war da der Geruch. Nicht sehr stark zwar, doch Judith wusste sofort, dass etwas nicht stimmte. Als würde in ihr ein Tier zusammenzucken. Sie blieb stehen und atmete tief ein, so dass ihre Lunge sich weitete. Ein beißender Geruch, nicht giftig, aber gefährlich. Kaum war ihr ganzer Körper davon ausgefüllt, hörte sie das Knistern. Und dann, vielleicht hatte sie die Augen vorher geschlossen, dann sah sie erst, wie das Feuer sich von einem Balkon im ersten Stock eines Altbaus auf der gegenüberliegenden Straßenseite aus an der Fassade emporrankte. Es kletterte, kroch, wie etwas, das gerade erst lebendig wird, ganz langsam. Leute kamen aus den Häusern gerannt und blieben in sicherem Abstand stehen, ängstliche Erwachsene, die mit Kinderaugen den Balkon anstarrten, die brennenden Blumenkästen.

Während die Zeit beinahe still stand, kam ein Löschfahrzeug. Judith verzog sich in einen Hauseingang, als die Feuerwehrleute sich mit nüchterner Routine an ihre Arbeit machten. Die Nachbarn, die eben noch die Luft angehalten hatten, atmeten durch. Manche waren sicher enttäuscht, dass das große Unglück sich so rasch und wehrlos abwenden ließ. Sie merkten auf einmal, wie sie froren, Hunger hatten oder dass sie sich für ihre Silvesterpartys umziehen mussten, den Sekt kühlen, telefonieren und fernsehen. Als einer der Feuerwehrmänner im Schutzanzug auf den Balkon trat, die dunkle, fremde Wohnung im Rücken, machte Judith sich wieder auf den Weg. Sie versuchte, sich die Flammen aus dem Gedächtnis zu blinzeln, doch das Nachbild wollte einfach nicht verschwinden.

Das Haus fand sie sofort, welches die richtige Wohnung war, konnte sie dennoch nur erraten. Alexa musste ihr den Namen des Gastgebers genannt haben, aber sie konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern. Sie klingelte auf gut Glück einmal ganz unten, einmal ganz oben und einmal beim Namen Böhm, eher mittig. Nichts passierte. Sie ließ Lins Handy klingeln. Es konnte tausend Gründe geben, weshalb sie nicht abnahm, die meisten von ihnen waren ganz belanglos. Während sie überlegte, ob sie es als nächstes bei Okur im zweiten Stock oder bei Sander im vorletzten Geschoss versuchen wollte, sah sie durch die Milchglasscheibe, wie jemand von innen auf die Tür zukam.

»Willst du rein?«, fragte ein Mann im dunkelgrauen Wollmantel. Er sah aus wie ein Herr Böhm. Seine Schuhe waren ausgetreten, sie sahen allerdings nicht schlecht aus, schwarzes Leder. Die Schnürsenkel wirkten ein wenig zu neu für die Schuhe, aber man sah, dass er sich Mühe gab.

»Ja, kann sein, dass ich versehentlich bei dir geklingelt habe, entschuldige.«

»Nein, ich glaube nicht.«

»Okay.«

»Naja, vielleicht war ich da ja auch schon auf dem Hausflur.«

»Kann sein.«

»Da hört man die Klingel nicht mehr.«

Sie war froh, dass er ihr keinen Guten Rutsch wünschte, als sie an ihm vorbei das Haus betrat. Wer sich um den Jahreswechsel scherte, durfte jetzt langsam nervös werden, die Sektflaschen, die viel zu lang im Warmen gestanden hatten, zu den Rauchern auf den eisigen Balkon bringen und hoffen, dass niemand sich bediente. Gläser zählen. Vermutlich würde bald jemand Wunderkerzen austeilen. Im Hausflur lagen alte Fliesen mit einem schwarzweißen Ornament, bei dem man kaum mehr zwischen Muster und Patina unterscheiden konnte. Es roch nach nichts. Sie horchte an den Türen. Meistens war es ruhig. Irgendwo lief ein Fernseher. Jemand telefonierte. Vor Herrn Böhms Tür lag eine ausgetretene Fußmatte. Das Türschild hatte er von Hand geschrieben, in blauen Großbuchstaben, auf ein Klebeetikett. Dahinter musste noch der Name einer seiner Vormieter zu finden sein. Wie von allein machten Judiths Fingernägel sich an dem Aufkleber zu schaffen. Die erste Ecke war am schwersten zu lösen. Auf den kalten Wänden klebte Herrn Böhms Name besonders fest. Sie hauchte das Etikett ein paarmal an, dann zog sie langsam, sorgsam, mit geduldigen Fingern an der linken oberen Ecke. Als Erstes kam ein L. Dann ein I. Und ein N. Judith hielt die Luft an, der Raum drehte und dehnte sich. Fast hätte sie Herrn Böhms Namensschild einfach wieder darüber geklebt und das Ganze auf sich beruhen lassen, aber wie hätte sie da unbeschwert Silvester feiern können, mit halbgetaner Arbeit und einem Schrecken im Genick. Am Ende war aus Lin eine Linde geworden, ein angenehmer Nachname, ganz ohne Geheimnis.

Die richtige Wohnung war die oberste, bei der sie bereits geklingelt hatte. Die Partygäste hatten sich in kleine Gruppen auseinanderdividiert, zwei oder drei Leute, mal vier. Die Zimmer waren groß und sehr weiß. Auf dem Fußboden stapelten sich Magazine, die als Beistelltische herhielten. In einer San-Pellegrino-Flasche stand eine einzelne Lilie mit zwei üppigen Blüten. Die Wohnung hatte einen merkwürdigen Grundriss, sie schien kein Ende zu nehmen, jeder Raum eine Variation des vorhergehenden, alle waren sie trotzdem demselben Universum zugehörig. Noch eine Tür und noch eine. Das mussten einmal ungeheuer viele Dienstbotenwohnungen gewesen sein. Weil sie nicht wusste, wohin, folgte sie ihrem Instinkt und ging in die Küche. Ein Mann mit Bart schnitt Limetten auf. Er hatte sich ein graues Geschirrtuch über die Schulter gehängt und sah aus wie der Barkeeper in einer gehobenen Cocktailbar, seine Bewegungen wirkten kontrolliert, einstudiert und präzise, er führte sie ohne Anstrengung aus. Er war so daheim an diesem Ort, dass er zweifelsfrei der Gastgeber war.

»Entschuldigung, ich suche Lin.«

»Kenne ich nicht.«

»Wirklich nicht?«

»Glaub’ nicht. Nein.«

»Und Alexa?«

»Alexa. Ja, klar. Und Lin ist ihre Begleiterin? Kurze dunkle Haare? Eher schmal? Aus Wien? Dann weiß ich’s. Also, nicht, wo sie sind. Aber sie waren hier. Vor einer Stunde vielleicht, oder nicht ganz.«

Der Mann achtelte eine weitere Limette.

»Und wo sie jetzt sind, weißt …«

»Nein. Leider nicht. Du kannst hier warten, wenn du willst. Und nimm dir ruhig einfach etwas zu trinken.«

Das ist doch eine Party, dachte Judith. Hier müssten normalerweise lauter Leute sein, die auf dem Klo rauchen und mit Schuhen durchs Schlafzimmer gehen und keiner trinkt sein Bier aus. Fremde Menschen ohne Anstand und Geschmack werden nachher YouTube-Videos mit ihrer Lieblingsmusik spielen. Auf deinem Laptop. Und ich darf hier warten?

Judith bedankte sich und sagte nichts weiter. Die Höflichkeit des Mannes fühlte sich an wie eine Beleidigung, eine, die man anderen Leuten schwer als solche vermitteln konnte und die deshalb umso mehr stach. Die Art, wie er sich wieder seiner Arbeit zuwandte und schwieg dabei, es hatte etwas Feindseliges. Psychologische Kriegsführung. Als der Gastgeber aus der Küche verschwand, mixte sie sich einen Gin Tonic und stellte ihr Mitbringsel auf die Arbeitsplatte, einen Weißwein mit Rotkehlchen auf dem Etikett, das vom Kondenswasser durchgeweicht und verrutscht war, der Vogel hatte eine Schramme über der Stirn abbekommen. Sie scheute sich noch eine Weile davor, auf ihrem Handy nachzusehen, ob Lin ihr eine Nachricht geschickt hatte, dann schaute sie eine Zeitlang alle dreißig Sekunden auf das Display. Schließlich entfernte sie den Akku und steckte ihn in die rechte und das entkernte Handy in die linke Hosentasche, als hätte sie das schon öfter so gemacht.

Während sie sich den zweiten Gin Tonic mischte, kamen mehr Leute in die Küche. Sie ließ ein Stück Limette, das auf der Arbeitsplatte zurückgeblieben war, in ihr Glas fallen. Jemand sagte »hey« oder »hi«, für die anderen war sie durchsichtig. Sie wusste nicht, ob Mitternacht schon vorbei war. Draußen vor der Tür war ein ewiges Feuerwerk, das mal anschwoll und anschließend wieder ruhiger wurde, nur um in dem Augenblick, wenn man dachte, es sei jetzt vorbei, mit doppelter Wucht wieder loszugehen. Sie ging eine weitere Runde durch die Wohnung. Es lief andere Musik, die Gespräche waren lauter geworden und überlagerten einander. Es war unklar, wer zu welcher Gruppe gehörte. Manche standen einfach nur herum. Es roch anders. Jemand lachte aus dem Rauschen der Gespräche heraus. Judith schloss die Augen und dachte an das Feuer. Plötzlich war sie größer als alle hier. Sie steckte die Flasche Veltliner wieder ein auf ihrem Weg nach draußen, und irgendwie verschwand auch eine Tüte Cashewkerne in ihrer Manteltasche. Und ein Korkenzieher, der nicht so aussah, als hätte der Gastgeber ihn in einer Notlage beim Späti gekauft. Er lag schwer in ihrer Hand und wärmte sich an ihr.

Im Treppenhaus hörte man, wie die Geräusche von draußen und die Geräusche von der Party ineinanderflossen, bis sie nicht mehr zu unterscheiden waren. Es war nun doch eine laute Party geworden, Judith hatte den Übergang nicht mitbekommen. Überhaupt wirkte das Haus anders, nun, da sie die Treppe wieder hinunterstieg und allem den Rücken kehrte. Hinter Herrn Böhms Milchglasscheibe war es hell. Judith ließ sich neben seiner Wohnungstür auf den Treppenabsatz sinken und setzte die Batterie in ihr Handy ein. Aufgeregt blinkte es auf dem Display, dort, wo normalerweise das Netz und nun ein leeres Dreieck angezeigt wurde.

Als Lins SMS ankamen, war Judith schon längst auf der Straße, hatte das Haus und die Feier hinter sich gelassen. Sie schaute nicht nach, als es in ihrer Tasche zu klingeln begann. Es tat nichts zur Sache, dass Lin sie nicht vergessen hatte, es sie noch gab und sie vielleicht sogar in genau demselben Augenblick, als es dieser egal wurde, an Judith gedacht hatte.

Die Stadt wirkte plötzlich doch ganz fremd. Gefährlich und losgelassen, als könne es jederzeit und überall zu brennen anfangen, als gäbe es nichts, das nicht passieren könnte. Judith dachte an das Feuer. Sie fragte sich, ob sie in der Lage wäre, etwas in Brand zu setzen, so lange, bis sie von ihrem Potential als Feuerteufelin tief überzeugt war. Die kalte Luft und die aufgebrachten Leute machten sie noch wacher, als sie es ohnehin schon war. Es war stockfinster und zugleich seltsam hell.

»War schon Mitternacht?«, fragte sie in eine Gruppe von Menschen hinein.

Alle lachten. Jemand bot ihr etwas zu trinken an. Einige Schritte weiter begann ein Paar zu streiten, ein Mann redete auf eine Frau ein, packte sie an der Schulter, stieß sie wieder fort. Sie taumelte, der Streit wurde lauter und hässlicher. Ihr Blick traf Judiths. Die Frau suchte irgendetwas darin, vielleicht wollte sie nur, dass jemand sie sah, vielleicht wollte sie praktische Hilfe. Sie merkte schnell, dass sie keins von beidem finden könnte, ihr Blick wurde leer und abwesend, als beobachtete sie die Szene von außen und erkannte sich selbst darin allenfalls als Schauspielerin wieder. Ihr Körper verweigerte jede Gegenwehr, federte bloß ab, was kam. Ein paar entsetzt dreinschauende Menschen hasteten vorbei. Judith rührte sich nicht. Sie fragte sich, wie sie wohl in den Augen der anderen aussah, teilnahmslos oder empört, voller Mitleid oder voller Kälte. Sie spürte in sich hinein und fand weder das eine noch das andere. Dann war das Paar plötzlich weg. Alles flackerte. Zwischen Judith und dem Himmel quoll Rauch. Eine Rakete zischte gegen eine Häuserwand und explodierte erst kurz über dem Boden. Judith hatte keine Angst; vielleicht, weil sie allein und deshalb ohnehin vieles egal war. Irgendetwas anderes war mit ihr geschehen. Mit großen Schritten lief sie geradewegs ins Neue Jahr hinein. Aus einer Gruppe von Leuten löste sich ein Lächeln, das ihr galt. Sie lächelte zurück. Nie hatte sie sich tapferer gefühlt.

Wenige Stunden später lugte die Sonne über die Häuser und gab den Blick frei auf die Reste der Nacht, die verglühten Raketen und Glasflaschen und Bierdosen auf dem Bürgersteig. Sie war nicht die einzige, die wach war. Die Leute auf der Straße teilten sich auf in die, die zu viel und zu lange gefeiert hatten, die, deren Partys schon früh zu Ende gewesen waren und für die ein beinah normaler Tag begann, und schließlich in Leute, die mit ihren Hunden spazieren gehen mussten und die deshalb keiner der beiden anderen Gruppen eindeutig zugewiesen werden konnten. Ein fuchsfarbener Mischling sah sie vorwurfsvoll an, als sie seinen Weg kreuzte. Judith wusste nicht, wo die ganzen Stunden geblieben waren, als sie von einer halb wütenden, halb erleichterten, nach Müdigkeit, Wein und Zigaretten riechenden Lin in die Arme geschlossen wurde.

»Ich hab’ mir solche Sorgen gemacht. Solche, solche Sorgen«, sagte sie.

»Frohes neues Jahr«, sagte Judith, und versuchte, sich auch erleichtert zu fühlen. Ihre Hand tastete in der Manteltasche nach dem Korkenzieher und hielt sich daran fest.

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