Kitabı oku: «Anjuli Aishani», sayfa 2
Ich lächelte zurück, bestätigte ihr, dass ich die neue Schülerin war und schaute mich in der Klasse um. Daniel hatte leider kein Französisch, sondern Latein, und so musste ich mir wohl oder übel einen neuen Sitzpartner suchen. In der ersten Reihe saß ein Mädchen ganz alleine an ihrem Tisch. Ihre langen, goldbraunen Haare fielen ihr ins Gesicht, während sie sich nach vorne beugte, um zu lesen. Als ich auf sie zukam, schaute sie auf und lächelte mir entgegen. Ihre blauen Augen strahlten, als sie mir sagte, dass der Stuhl neben ihr frei wäre und fragte, ob ich nicht neben ihr Platz nehmen wollte. Dankbar nickte ich und setzte mich gerade noch rechtzeitig hin, bevor das laute Schrillen einer Glocke durch den Raum tönte und mich zusammenzucken ließ.
»Erschreck dich nicht«, flüsterte das Mädchen neben mir. »Das macht sie immer wenn der Unterricht beginnt. Damit alle leise sind, verstehst du?«
Ich deutete ein Nicken an und konzentrierte mich dann wieder auf Madame Ciboulette, die auf mich zukam und mich aufforderte, mich vorzustellen. Ohne Fehler berichtete ich nun der Klasse, wie ich hieß, dass ich 16 Jahre alt war, vorher in Portland gewohnt hatte und was man eben noch so sagt, wenn man sich vorstellt und kassierte dafür ein »Très bien!«.
Endlich mal ein guter Start in den Unterricht. Wenn schon in Mathe nicht klappt, werde ich hoffentlich in Französisch gute Noten bekommen.
Der restliche Schultag verlief ähnlich. Auch in Englisch, Geschichte und Erdkunde begrüßten mich die Lehrer freundlich, wollten, dass ich mich kurz vorstellte und dann war ich auch schon wieder erlöst. Glücklicherweise hatte ich jedes der Fächer entweder mit Daniel oder Kathy – dem Mädchen aus Französisch – zusammen, und so war es kein Problem, die Räume zu finden, ohne sich zu verlaufen. Um 12 Uhr klingelte es endlich zur Mittagspause und Kathy und Daniel schleppten mich mit in die überfüllte Cafeteria. Sie wollten mich ihren Freunden vorstellen, die bereits an einem langen Tisch in der Ecke Platz genommen hatten. Kathy setzte sich neben einen großen Jungen mit leicht orange-rötlichem Haar und grünen Augen, der mir als Finch vorgestellt wurde, und bedeutete mir mit einer Handbewegung, dass ich mich neben sie setzen sollte. Außer meinen zwei neuen Freunden und Finch waren noch vier weitere Personen am Tisch: Zwei Mädchen, Danielle und Victoria, die exakt dieselben dunkelbraunen, fast schwarzen Haare hatten, mich mit denselben braunen Augen anlächelten und sogar den gleichen grünen Pullover trugen. Auf meine eigentlich schon überflüssige Frage wurde mir bestätigt, dass sie eineiige Zwillinge waren.
Anstatt die zwei weiteren Personen am Tisch genauer zu betrachten, wurde meine Aufmerksamkeit auf den Tisch dahinter gelenkt. Möglichst unauffällig versuchte ich zwischen Danielle und Victoria hindurch zu gucken, um den Jungen und das Mädchen, die ganz alleine am Nachbartisch saßen, genauer in Augenschein zu nehmen. Sie saß mit dem Rücken zu uns, strich sich kurz mit der Hand durch ihre langen gelockten Haare, die im Licht wie pure Seide glänzten, und nahm einen Schluck aus einer silbrigen Flasche. Der Junge saß ihr gegenüber und somit genau in meinem Blickfeld. Obwohl seine Augen durch eine dunkle Sonnenbrille verdeckt wurden, kam er mir unheimlich bekannt vor. Für einen Jungen hatte er relativ lange Haare, die schon fast seine Schultern berührten, und obwohl er somit eigentlich nicht so mein Typ war, hatte er etwas seltsam Anziehendes an sich.
Als ich einen Stich in meiner Seite spürte und erschrocken hochfuhr, registrierte ich, dass mein Blick zum Nachbartisch wohl doch nicht so ganz unbemerkt geblieben war. Kathy grinste mich an.
»Ah, natürlich. Du wärst wirklich unnormal gewesen, wenn du sie nicht angestarrt hättest!«
Ein kurzer Blick zu den anderen Tischen zeigte, dass ich nicht die Einzige war, die immer wieder mal einen Blick zu den beiden hinüber warf.
»Das sind Steven und Britney Hawk. Irgendwo hier müsste sich noch ihr Bruder Nathan rumtreiben. Er ist in unserer Stufe und ich kann dir sagen: Du wirst vom Hocker fallen, wenn du ihn siehst.«
Natürlich. Die leicht gebräunte Haut, die markanten Wangenknochen…Steven sah, abgesehen von den Haaren, seinem Bruder sehr ähnlich. Deshalb kam er mir so bekannt vor. Ich erwähnte nicht, dass ich Nathan eigentlich schon getroffen hatte und wirklich, wie sie gesagt hatte, fast vom Hocker – beziehungsweise vom Autositz – gefallen war. Es war ja nur eine kurze Begegnung gewesen und ich wusste immer noch so gut wie nichts über ihn. In der Hoffnung, vielleicht mehr über seine Familie zu erfahren, fragte ich bei Kathy nach.
»Was ist denn so Besonderes an ihnen? Wieso starren die alle so an?«
»Nun ja, wie du ja bestimmt schon bemerkt hast, sehen alle drei ziemlich gut aus und haben…diese gewisse Anziehung, die jeden träumen lässt, der nicht gerade eifersüchtig ist. Nathan ist wie gesagt in unserer Stufe, Steven ist ein Jahr älter als er und Britney ist erst 14. Sie leben seit circa vier Jahren in Floresville und kommen ursprünglich irgendwo aus Europa, glaube ich. Keiner weiß genau wieso, aber sie lassen sich so gut wie nie irgendwo blicken. Weder auf Schulveranstaltungen noch in der Cafeteria, deshalb werden sie auch jetzt von allen so angestarrt.« Sie zwinkerte mir zu. »Auch du machst da keine Ausnahme.«
Während ich über das nachdachte, was Kathy mir gerade erzählt hatte, schrillte es plötzlich erneut über unseren Köpfen und ein Blick auf die Uhr zeigte, dass die Mittagspause schon wieder zu Ende war. Kaum zu glauben, dass ich die ganze Zeit damit verbracht hatte, irgendwelche anderen Leute anzustarren, ohne auch nur einen Bissen von meinem Brot zu nehmen. Hastig biss ich ein paar Mal ab und legte es in meinen Rucksack zurück. Finch und die anderen beiden Jungs hatten die Cafeteria bereits verlassen und auch Victoria und Danielle machten sich auf den Weg zu den letzten beiden Stunden für heute. Daniel setzte sich mir gegenüber und streckte die Hand aus.
»Zeig mal deinen Stundenplan, dann kann ich dir sagen, wo du jetzt hin musst.«
Nach kurzem Kramen fischte ich ihn irgendwo aus meiner Tasche, warf einen Blick darauf und verkündete erfreut, dass ich jetzt eine Doppelstunde Kunst haben würde.
»Welcher Lehrer?«, fragte Daniel sofort und klang so, als würde er sich an meiner Stelle nicht so freuen.
»Ehm, Carrol.«
Die Züge meines Gegenübers entspannten sich. »Da hast du aber Glück gehabt«, meinte Daniel und grinste, während er fortfuhr: »Wir haben hier fünf Kunstlehrer an unserer Schule. Vier davon sind verhasst – Ms. Carrol wird von allen angehimmelt. Du Glückspilz.«
Er stand auf und zog mich durch die schon fast leere Cafeteria hinter sich her, während er sich im Slalom an den leeren Stühlen vorbei kämpfte.
»Sie ist zwar eine der beliebtesten Lehrerinnen hier, aber sie kennt keine Gnade für Zuspätkommer.« Er zwinkerte mir zu. »Du solltest also besser einen Zahn zulegen. Siehst du die bunte Tür da unten? Da musst du hin. Viel Erfolg!«
Verblüfft blieb ich stehen. »Du kommst nicht mit?«
Das hatte wohl doch ein bisschen zu traurig geklungen, denn Daniel grinste schon wieder. »Sorry, Anjuli. Aber das schaffst du bestimmt auch ohne mich.«
Er lächelte mich noch einmal ermutigend an, drehte sich dann um und verschwand im nächsten Gang. Ich schaute ihm noch eine Sekunde hinterher, biss mir leicht auf die Lippe und machte mich auf den Weg zum Kunst-Raum. Zum Glück war ich noch rechtzeitig, denn die Tür stand offen und Ms Carrol war mit einigen Unterlagen beschäftigt. Nach einem kurzen Blick durch den Raum fand ich einen leeren Tisch und setzte mich, jedoch nicht ohne die neugierigen Blicke der anderen Schüler auf mir zu spüren. Ashley, meine frühere beste Freundin, hätte sich bestimmt wohl und bestätigt gefühlt, wenn so viele Blicke auf sie gerichtet waren. Mir war das Ganze jedoch eher unangenehm. Vor allem, weil meine kastanienbraunen Haare nicht wie sonst leicht gelockt auf meine Schultern fielen, sondern eher wie Stroh fad herunterhingen. Leise verfluchte ich mich dafür, verschlafen zu haben.
Endlich schob Ms. Carrol ihre Unterlagen beiseite und hieß uns alle in ihrem Unterricht willkommen. Ich war gespannt, denn Kunst lag mir eigentlich ziemlich gut und zeichnen war meine Leidenschaft, obwohl ich zuvor nicht allzu viel Glück mit den Lehrern gehabt hatte. Ms. Carrol jedoch schien anders zu sein. Sie war noch ziemlich jung, ich schätzte sie auf etwa achtundzwanzig, trug eine weiße Bluse, hatte ihre blonden Haare zu einem Zopf gebunden und machte einen ziemlich selbstbewussten und zielstrebigen Eindruck. Als sie aufstand, um den Overheadprojektor zu betätigen, bemerkte ich erst, wie groß und schlank sie war – man konnte schon fast von Modelmaßen sprechen. Mit einem Lächeln auf den Lippen verkündete sie: »Neues Schuljahr, neues Glück. Ich habe eben mal auf die Klassenliste geschaut, aber bis auf Andrew und Mary hatte ich vorher noch keinen von euch im Unterricht. Deshalb werde ich jetzt erst mal euer Können überprüfen, um die Leistung des Kurses besser einschätzen zu können.«
Als ein leises Raunen durch den Raum ging, fügte sie noch schnell hinzu: »Keine Angst, nichts Schwieriges.«
Sie holte einen Stapel Folien vom Lehrerpult. »Wie ihr hier seht«, sagte sie, während sie die erste Folie auflegte, »wird unser erstes Thema, mit dem wir uns dieses Halbjahr beschäftigen werden, Zeichnen sein.«
Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen. Juhu, Zeichnen! Genau wie ich gehofft habe.
»Ihr werdet vier Monate Zeit bekommen, da wir uns ja leider nur jede zweite Woche sehen und noch ein paar Stunden ausfallen, um eine Ganzkörperzeichnung eures Banknachbarn anzufertigen.«
Kaum hatte sie den Satz zu Ende gesprochen, wurde der Geräuschpegel deutlich höher, da alle schon wild mit ihren Nachbarn diskutierten. Die meisten schienen sichtlich erleichtert und glücklich. Nur ein paar wenige verzogen den Mund beim Anblick ihres Gegenübers und wollten gerade schon anfangen zu tauschen, als Ms Carrol sich wieder zu Wort meldete und verkündete, dass alle an ihren Plätzen bleiben müssten.
»Wenn ihr euren Nachbarn noch nicht kennt, dann habt ihr ja genug Zeit ihn kennenzulernen«, sagte sie schließlich und zwinkerte zwei Jungen in der ersten Reihe zu. Während sich alle wie wild unterhielten, schaute ich immer wieder von Ms Carrol zu dem leeren Platz neben mir und fühlte mich seltsam alleine und unwohl.
»Ich möchte, dass ihr mehr über denjenigen neben euch in Erfahrung bringt und ihn so darstellt, dass jeder direkt sieht, was ihn auszeichnet«, fuhr unsere Lehrerin fort und legte nacheinander ein paar Folien auf, die Beispielbilder von einer anderen Klasse zeigten. »Ihr könnt also den Ort selbst aussuchen und auch frei bestimmen, welche Gegenstände die Person auf der Zeichnung gegeben falls bei sich trägt.«
Etwas unsicher blickte ich immer wieder von einigen Schülern um mich herum zur Tafel, dann wieder zu dem leeren Platz neben mir und schließlich zu Ms Carrol. Als sich unsere Blicke zufällig trafen, machte sie ein überraschtes Gesicht, warf einen Blick auf die Klassenliste und kam schließlich lächelnd auf mich zu.
»Hi, ähm…wie war dein Name nochmal?«
»Anjuli Aishani. Ich bin neu an der Schule«, antwortete ich, während ich in ihre großen blauen Augen blickte.
»Also gut, Anjuli. Darf ich mich kurz zu dir setzen?«
Ich nickte und rückte ein Stück zur Seite, um ihr Platz zu machen.
»Wie du wohl auch schon bemerkt hast, ist der Platz neben dir heute leer. Ich habe aber gerade in der Klassenliste nachgezählt und ihr seid 20 Schüler. Dein Banknachbar ist heute also wahrscheinlich nur verhindert und wird in der nächsten Stunde wohl hoffentlich hier sein und dann könnt ihr auch mit dem Ideensammeln anfangen.«
Ich wusste nicht, ob ich erleichtert oder doch eher enttäuscht sein sollte. Was ich aber auf jeden Fall spürte, waren Aufregung und Neugier, die mein Herz schneller schlagen ließen, ohne überhaupt zu wissen, wer mein Nachbar sein würde. Ich hoffte nur, dass wir einigermaßen miteinander auskommen würden und konnte gar nicht erwarten, es in zwei Wochen endlich herauszufinden. Während ich mir bereits ausmalte, wie er oder sie aussehen könnte, hatte ich Ms Carrol neben mir schon fast vergessen und erschrak leicht, als sie plötzlich wieder mit mir sprach.
»Sonst hast du die Aufgabenstellung aber verstanden oder ist dir noch was unklar?«
»Ich denke, ich habe alles verstanden. Danke.«
»Schön, das freut mich. Wann bist du denn hierher gezogen, wenn ich fragen darf?«
Es verunsicherte mich etwas, dass sie so viel Interesse an mir zeigte, ließ sie jedoch auch sehr freundlich und menschlich wirken. »Wir sind erst letzte Woche aus Portland hergezogen.«
»Wirklich, Portland?«, fragte sie sichtlich überrascht. Ich nickte kurz und war gespannt, was daran so interessant sein sollte. »Dort ganz in der Nähe habe ich früher als Kind auch gewohnt. Wunderschöne Gegend.« Sie schloss für einen kurzen Moment die Augen und lächelte, so als würde sie sich gerade an die schöne Zeit zurückerinnern. Überrascht schaute ich sie von der Seite an.
»Und wieso sind sie jetzt hier, ausgerechnet in Floresville?«
Okay, Floresville hatte schon seine Vorzüge. Ein kleines ruhiges Städtchen, im Herzen von Texas, umgeben von Wäldern, mitten in der Natur. Allerdings musste man etwa hundert Kilometer bis zur nächsten großen Stadt und sogar hundertsechzig Kilometer bis nach Austin, der Staatshauptstadt, zurücklegen und war somit doch sehr isoliert. Ich konnte mir nur schwer vorstellen, dass jemand, der ursprünglich aus Portland kam, an Floresville Gefallen finden konnte. Schließlich war meine Heimatstadt mit mehr als einer halben Millionen Einwohnern die größte Stadt des Bundesstaates. Auch mit der Lage konnte Portland punkten: Ganz im Nordwesten der Vereinigten Staaten, nur einen Katzensprung von der kanadischen Grenze oder der Metropole Seattle entfernt und außerdem nicht weit vom Pazifik. Die beiden Städte im Vergleich waren so unterschiedlich wie Tag und Nacht.
Ich hoffe, es wird mir nicht allzu schwer fallen, mich umzugewöhnen.
Ms Carrol erklärte mir kurz, dass sie sich mit sechzehn in einen Jungen aus dieser Gegend verliebt hatte und schließlich für ihn hierhin gezogen war. Ziemlich mutig, dachte ich mir und hing noch meinen Gedanken nach, als sie schon wieder aufstand, um einigen anderen Schülern zu helfen. Den Rest der Stunde verbrachten alle damit, sich wild mit ihren Partnern zu unterhalten, Skizzen zu zeichnen und ihre Ideen auszutauschen.
Alle außer mir.
Ich saß still und alleine auf meinem Platz, dachte über den Tag nach und wartete, bis es endlich zum Schulschluss klingelte.
Zur gleichen Zeit, etwas weiter entfernt:
Der Hunger quält ihn, macht ihn schwach und träge. Seit drei Dutzend Stunden hat er nichts mehr zu sich genommen.
Den ganzen Tag hat er damit verbracht, etwas Essbares zu suchen – doch vergebens. Der Wald scheint wie leer gefegt zu sein. Besonders, nachdem jetzt auch noch die Jäger ihr Unwesen dort treiben.
Sie hatten damit rechnen müssen, dass ihre Anwesenheit eines Tages bemerkt werden würde, und doch ärgert es ihn. Er hat den Auftrag noch nicht zu Ende gebracht, er kann jetzt noch nicht gehen.
So muss er wohl oder übel wieder auf die Notreserve zurückgreifen, auch wenn es gefährlich ist, da sein Diebstahl bereits bemerkt worden ist und er den Geschmack der kleinen Wesen verabscheut.
Es ist ein Leichtes für ihn, den dünnen Maschendraht auseinanderzubiegen und eines der fauchenden Dinger zu entnehmen. Normalerweise tut er es nachts, im Schutze der Dunkelheit, doch er kann nicht riskieren, noch länger hungrig zu bleiben. Wenn ihm jemand begegnen sollte, kann er für nichts garantieren.
So landet er vorsichtig auf dem Dach des Hauses und vergewissert sich, dass er unentdeckt geblieben ist. Vor dem Alten muss er sich nicht fürchten, den nimmt keiner mehr für voll, doch vor den Nachbarn sollte er sich in Acht nehmen.
Fast lautlos gleitet er die Dachrinne hinab, landet leichtfüßig und beugt sich über die kleinen Käfige. Sobald ihm der Duft des warmen pulsierenden Bluts in die Nase steigt, setzen seine Gedanken aus – sein Trieb handelt.
Mit einem gezielten Schlag durchtrennt er den Draht und greift nach seiner Beute. Diese wehrt sich jedoch und erwischt ihn mit ihren Krallen. Leise flucht er.
Dann ein weiterer einstudierter Handgriff und das Wesen liegt regungslos in seinen Händen. An der getroffenen Stelle hat sich ein hauchdünner Riss aufgetan, ein wenig Blut tritt aus. Er beobachtet die Wunde ein paar Sekunden lang, dann schließt sie sich auch schon wie gewohnt von selbst.
Noch einmal blickt er sich um und grinst schließlich erleichtert, da alles um ihn ruhig geblieben ist. Nur die übrigen Geschöpfe in dem Käfig machen einen Aufstand, doch das kümmert ihn nicht. Vorsichtig biegt er den Draht in seine ursprüngliche Stellung zurück und klettert flink über die Regenrinne wieder hinauf aufs Dach. Dort versteckt er sich im Schatten des alten Schornsteins und verspeist seine Beute.
KAPITEL 3 – GRANDMA‘S SPEZIALSOßE
Als ich nach Schulschluss verträumt den Weg zu den Parkplätzen hinunter schlenderte und schließlich an meinem Audi ankam, fiel mir auf, dass die schwarze Corvette nicht mehr an ihrem Platz stand. Entweder war Nathan pünktlich um halb drei aus dem Unterricht gestürmt und davon gefahren oder aber er hatte einige Stunden geschwänzt. Das würde auch erklären, warum ich ihn nach der Mathestunde nicht mehr gesehen hatte. Nicht, dass ich nach ihm Ausschau halten würde, aber er war nun wirklich nicht zu übersehen.
Nichts ahnend stieg ich in mein Auto und machte mich auf den Weg nach Hause. Erst später würde ich erfahren, warum der geheimnisvolle Corvettefahrer so plötzlich die Flucht ergriffen hatte.
Während der Fahrt konzentrierte ich mich nicht wirklich auf den Weg, schaute mir nicht die farbenprächtig aufblühende Gegend an, sondern war in Gedanken schon bei meinem neuen Zimmer. Da ich heute in keinem Fach Hausaufgaben aufbekommen hatte, wollte ich die Zeit nutzen, um endlich mal die unzähligen Kisten auszupacken und alles nach meinem Geschmack einzurichten.
Ich bemerkte, dass meine Eltern nicht zu Hause waren, als ich die große Eingangstür aufdrückte und den Flur betrat. Stattdessen klebte ein kleiner Zettel am Spiegel und ich erkannte sofort die Handschrift meiner Mutter.
Sind noch schnell was erledigen. Kommen so gegen 6 Uhr wieder. Stell bitte um 5 den Herd an. Danke.
Perfekt. Ich konnte also tun und lassen, was ich wollte. Schnell holte ich mir noch meinen Lieblingsjoghurt aus dem Kühlschrank und stieg dann die Treppe zum ersten Stock hinauf. Als ich die Tür zu meinem Zimmer öffnete, stand ich vor einem tristen und schlichten weißen Raum.
Da muss ich unbedingt was dran ändern.
Die erste Kiste, die ich öffnete, beinhaltete hunderte von Skizzen, die ich selbst damals in Portland angefertigt hatte. Da waren Portraits von meinen Eltern, von meinen Freunden und natürlich auch von Julien. Die schönsten Bilder von meinen Eltern hängte ich über mein Bett, die Restlichen verstaute ich. Wie zuvor das Foto von Julien, legte ich sie in die unterste Schublade meines Nachttischs. Die Erinnerung an mein altes Leben war einfach zu schmerzhaft, die Wunde war zu frisch.
Als ich endlich zufrieden mit den ausgewählten Bildern war, machte ich mich an die anderen Umzugskartons. Als erstes räumte ich all meine Kleider in den Schrank, danach sortierte ich meine Schulsachen in den Schreibtisch ein, der an der Wand unter meinem Fenster stand, und während ich noch das ein oder andere irgendwo verstaute, hätte ich fast die Zeit vergessen. Beinahe zufällig blickte ich um 17:04 Uhr auf die Uhr. Gerade noch rechtzeitig.
Schnell stieg ich die Treppe herunter, nahm dabei jeweils zwei Stufen auf einmal und sprintete in die Küche. Als ich den Herd öffnete, um zu schauen, was meine Mutter vorbereitet hatte, schwebte mir sofort der köstliche Duft von Grandma‘s Spezialsoße entgegen. Tausende von Erinnerungen strömten in diesem Moment in meinen Kopf.
Die ersten zeigten einen schönen Sommertag. Ich sah mich, wie ich damals bei meinen Großeltern im Garten gesessen hatte und schon von Weitem riechen konnte, wenn meine Oma mit ihrem »Nudelauflauf speciale« die Treppe herunter kam. Ich war fröhlich, lachte… Dieser Auflauf war einfach mein Lieblingsgericht gewesen und ich hatte jedes Mal so viel davon gegessen, dass mir danach schlecht wurde. Ein Lächeln flog über meine Lippen. Ich wünschte mich in diese Zeit zurück.
Dann plötzlich schienen die Gedanken an meine Großeltern wie aufgereihte Dominosteine zu kippen und setzten eine Kettenreaktion in Gang. Im nächsten Moment schossen weitere Erinnerungen in meinen Kopf. Bild- und Wortfetzen, die ich seit diesem einen Tag vergeblich zu verdrängen versuchte. Bilder, die ungewollt vor meinem inneren Auge erschienen. Tränen stiegen mir in die Augen, die alte Wut kochte wieder hoch. Mit schmerzverzerrtem Gesicht und einem dicken Klos im Hals erinnerte ich mich zurück.
Vor ziemlich genau einem Jahr hatte sich in unserer Familie eine Tragödie abgespielt. Da es mit dem FBI zu tun hatte, wusste ich leider nicht viel darüber. Was ich jedoch wusste, war absolut grausam. Mein Vater hatte irgendeinen gefährlichen Fall – mehr sagten sie mir nicht – und war nah dran, diese Gangster auffliegen zu lassen, als er ungewollt einen schweren Fehler beging. Irgendwie hatten die Kriminellen den Namen meines Vaters herausbekommen und sich dann ganz legal bei der Auskunft unsere Telefonnummer geben lassen. Irgendwo hatten sie ein Mädchen in meinem Alter aufgetrieben und zwangen sie, bei uns zu Hause anzurufen, um sich zu erkundigen, wo ich mich aufhielt. Sie hatten wahrscheinlich vor, mich zu entführen, um meinen Vater später erpressen zu können.
Die ganze Sache war etwas verwirrend. Mein Vater sagte dem Mädchen am Telefon, dass ich den Tag bei meinen Großeltern verbringen würde und gab ihr deren Adresse, ohne zu ahnen, welche fatalen Folgen das haben würde. Was er zum Glück nicht wusste, war, dass ich mir eine Grippe zugezogen hatte und deshalb gar nicht bei Oma und Opa gewesen war.
Am Abend erzählte er mir dann, dass eine Freundin namens Tiffany angerufen und nach mir gefragt hatte. Ich war mir jedoch absolut sicher, dass ich keine gleichnamige Person kannte. Wir ahnten das Schlimmste. Ohne groß darüber nachzudenken, stiegen wir alle ins Auto und fuhren zum Haus meiner Großeltern, welches in Gresham, keine 25 km von Portland entfernt, lag.
Plötzlich brach die Erinnerung ab. Nur noch Wortfetzen, verschwommene Bilder…
Oma und Opa am Boden …
… Blut …
»Sie sind beide tot«
… so viel Blut …
»Sieh nicht hin, Anjuli«
… ganz viel rotes Blut …
»tot«
...
Schnell schüttelte ich den Kopf, hielt mir mit der einen Hand die Augen zu und versuchte mit der anderen meine Ohren zu bedecken. Ich wollte das nicht hören, ich wollte das nicht sehen!
Ein halbes Jahr war ich zur Therapie gegangen, um das alles zu vergessen, und jetzt kam es so plötzlich wieder hoch, dass ich mich nicht dagegen wehren konnte. Ich sank laut keuchend auf den Küchenboden und spürte, wie dicke Tränen meine Wangen hinab rannen. Ich versuchte mit aller Kraft an etwas Positives zu denken … so viel Blut … und stimmte leise im Kopf mein Lieblingslied an.
Baby you're all that I want
When you're lyin' here in my arms
I'm findin' it hard to believe
We're in heaven
And love is all that I need
And I found it there in your heart
It isn't too hard to see
We're in heaven
Ich hörte weit entfernt das Ticken der Uhr – um mich herum schien die Zeit jedoch stehen geblieben zu sein. Leise summte ich Bryan Adams vor mich hin und versuchte mich zu beruhigen. Ich suchte verzweifelt nach irgendetwas Positivem in meinem Kopf. Plötzlich tauchten ungewollt Bilder von heute Morgen auf. Ich sah Daniel, wie er mich anlächelte, Kathy, die mich von der Seite angrinste, Ms Carrol, die sich zu mir setzte…und auf einmal war da Nathan. Ich sah ihn vor mir, als wäre er wirklich da, wie er sich die Haare zur Seite strich und mir seine Hand entgegenstreckte.
Schlagartig verlangsamte sich mein Puls, ich atmete erleichtert auf und die Erinnerungen an meine Großeltern verblassten, sodass ich wieder klar denken konnte. Langsam öffnete ich die Augen. Solche Attacken hatte ich früher, kurz nach dem Geschehen, öfter gehabt. Ein weiterer Grund für meine Eltern umzuziehen und der Hauptgrund, der für Floresville gesprochen hatte. Eine kleine Stadt, weit weg von allem und ein Ort, an dem uns so schnell keiner mehr finden konnte.
Natürlich hatte mein Vater direkt danach unsere Nummer aus dem Telefonbuch streichen lassen und war jetzt extra vorsichtig. Es hatte sogar eine Zeit gegeben, in der er all meine Freunde, alle Telefonate und sogar meine Emails kontrolliert hatte. Erst als ich ihm später in einer heftigen Auseinandersetzung klar machte, dass das zu viel war, ließ er mir wieder ein Stück Privatsphäre. Dennoch war ich ihm dankbar dafür, wie er sich um unsere Familie kümmerte, und musste zugeben, dass ich mich mit der Alarmanlage und dem hohen Zaun um unser Haus schon um einiges sicherer fühlte.
Als ich wieder bei klarem Verstand war, stand ich auf, stützte mich an der Küchenablage ab, damit ich nicht gleich wieder das Gleichgewicht verlor, und wagte einen Blick auf die Uhr: 17:28 Uhr. Ich hoffte nur, dass der Auflauf heute besonders schnell fertig werden würde. Schnell stellte ich den Herd an und beschloss schon jetzt, dass ich gleich keinen Hunger haben würde. Die Angst, dass die Erinnerungen wieder kommen könnten, war einfach zu groß.
Langsam ging ich in das angrenzende Wohnzimmer, ließ mich auf die braune Ledercouch fallen und schaltete den Fernseher ein. Ich zappte einmal durch alle Kanäle, aber es kam leider nichts, dass mich auch nur annähernd interessierte. Ich war eher der Typ für kitschige, lustige Serien und die liefen leider nur abends. Also blieb ich bei irgendeiner beliebigen Talkshow hängen und verfolgte gelangweilt das Geschehen, während ich immer wieder den Kopf schüttelte und mich fragte, was für eine Art von Mensch sich im Fernsehen derart bloßstellen ließ. Mir war eigentlich egal, was ich mir anschaute. Hauptsache Ablenkung, denn ich wollte um jeden Preis verhindern, dass die Bilder zurückkamen. So verharrte ich also eine Weile im Wohnzimmer, bis ich endlich den Schlüssel im Schloss und kurz darauf die vertraute Stimme meiner Mutter hörte.
»Anjuli! Wir sind wieder da!«, rief sie den Flur hinauf und wirkte ein wenig überrascht, als ich ihr von der Couch aus antwortete. Eine Minute später stand sie in der Tür, runzelte leicht die Stirn und schaute mich fragend an. »Ist alles in Ordnung mit dir? Du siehst so blass aus?«
Meine Mum ist wirklich eine typische Mutter.
Eine von denen, die immer direkt bemerken, wenn etwas nicht stimmt – egal wie gut man es zu verbergen versucht. Mir blieb also nichts anderes übrig, als ihr kurz und knapp zu schildern, was passiert war. Direkt kam sie auf mich zu, setzte sich mit besorgter Miene neben mich und nahm mich in den Arm.
»Mein armer Schatz, das tut mir leid. Ich hatte gar nicht daran gedacht, wollte nur dein Lieblingsessen für dich machen. Geht es dir denn jetzt besser?«
»Ich weiß, das war auch echt nett von dir, Mum.« Ich lächelte sie dankbar an. »Mir geht‘s auch schon wieder besser. Ich mache mir einfach gleich was anderes.«
Nachdem sie noch drei Mal nachgefragt hatte, ob auch wirklich alles okay war, verließ sie endlich den Raum, schloss die Tür hinter sich und schon kurz darauf hörte ich Geschirr klappern und wusste, dass meine Eltern bereits am Essen waren.
Inzwischen leicht genervt von der Talkshow, schaltete ich den Fernseher aus und ging auf die Fensterfront zu. Ich öffnete den Riegel der Terrassentür, setzte mich nach draußen in einen der gemütlichen Sessel und legte die Füße hoch. Von hier aus hatte man einen wundervollen Ausblick auf den Englischen Garten, der hinter dem Haus angelegt worden war.
Wenn es im Sommer so richtig heiß in der Region werden würde und man es draußen fast nicht mehr aushalten konnte, würden die vielen Weiden mit ihren riesigen Baumkronen angenehmen Schatten spenden und die Hitze ertragbar machen.
Ich schloss die Augen, als mir ein leichter Sonnenstrahl ins Gesicht fiel und lauschte den Geräuschen der Natur. Unser Haus lag so abgelegen am Rande von Floresville, dass man von Autos, Baustellen oder sonstigem Lärm nichts mitbekam. In meinen Ohren klangen die verschiedensten Gesänge von Vögeln, das Summen einer Biene, die von Blume zu Blume flog, und im Hintergrund das leise Plätschern des Bachs, welcher sich am Rande unseres Grundstücks durch die Weiden schlängelte und die vielen Pflanzen darum am Leben erhielt.
Als ich die Augen wieder öffnete und auf den riesigen Garten blickte, kam es mir vor, als würde ich in einem Bilderbuch blättern. Überall sprießten weiße Lilien und die blauen Blüten der Blue Bonnets aus dem Boden. Von der Terrasse aus führte ein schmaler weißer Kiesweg durch den Garten, am Bach und den herrlichen Blumenbeeten entlang zu einer alten Holzbank an unserer Grundstücksgrenze, die sich unmittelbar vor dem angrenzenden Waldrand befand. Auf dieser Seite des Grundstücks war kein Zaun errichtet worden, da man dachte, der Bach und der Wald würden als natürlicher Schutz genügen. Ein großer Fehler, wie sich nur wenig später herausstellen sollte.