Jaqueline Merlin
Elisa
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Elisa
PRÉLUDE AN ELISA - 1. KAPITEL -
FRAU RITURN UND DEBORAH - 2. KAPITEL -
KERAMIK & ANTIQUITÄTENHANDEL - 3. KAPITEL -
EINE UNVERHOFFTE BEGEGNUNG - 4. KAPITEL -
IM RESTAURANT KOPJE - 5. KAPITEL -
DAS KLAVIERKONZERT - 6. KAPITEL -
ANKUNFT IN LONDON - 7. KAPITEL -
HOCHZEITSREISE NACH FLORIDA - 8. KAPITEL -
CANDYLAND, CHOPIN & KERAMIK - 9. KAPITEL -
EIN GESPRÄCH MIT ANTON - 10. KAPITEL -
DAS PRESSEGESPRÄCH - 11. KAPITEL -
EINE NEUE EXISTENZ - 12. KAPITEL -
DIE LANDAUKTION - 13. KAPITEL -
DAS EINGESTÄNDNIS - 14. KAPITEL -
SCHLAFLOS OHNE ELISA - 15. KAPITEL -
DER BRIEF MEINER MUTTER - 16. KAPITEL -
WIEDERSEHENSFREUDE - 17. KAPITEL -
DER PARADIESVOGEL - 18. KAPITEL -
IN TRANCE - 19. KAPITEL -
EIN TELEFONAT NACH KOPENHAGEN
SCHATTEN DER VERGANGENHEIT
EIN UNERWARTETER GAST - 22. KAPITEL -
OFFENBARUNG - 23. KAPITEL -
DIE FAHRT INS UNGEWISSE - 23. KAPITEL -
IM KRANKENHAUS - 24. KAPITEL -
DIE GERICHTSVERHANDLUNG - 25. KAPITEL -
WIEDER ZUHAUSE - 26. KAPITEL -
- 20. KAPITEL -
- 21. KAPITEL -
Impressum neobooks
Für Merlin in bleibender Liebe !
„Der Wind, der Wind, das himmlische Kind“, sagte ich, als er mich voran trieb
auf dem Heimweg, während er meine Haare zerzauste und mein Hemd aufblies.
Er war so unfassbar wie Elisa. Manchmal stürmisch, manchmal seicht oder still.
Sie wirkte einfach, gleich einer natürlichen Erscheinung, mehr als einer Person.
Ein empfindsames Wesen, das sich im ständigen Wechselspiel einer Welt zeigte,
die für viele andere kaum zugängig war im Bewusstsein ihres flüchtigen Alltags.
Vielleicht war es eine Konzentration, vielleicht die Aufmerksamkeit des Kindes.
Elisa war gegen Wind, Sonne und Regenwetter anfälliger als die Wasserjungfer.
An nieselnden Abenden öffnete sie die Veranda-Tür, um das stete Geräusch wie
den satten Duft von Pflanzen, Blüten und feucht modriger Erde herein zu lassen.
Auf dem Piano antwortete sie mit dem langatmigen, melancholischen Largo auf
das Niederprasseln schwerer, grauer Wolken am dicht verhangenen Himmel, die
sich auflösten bis ergossen in die dunkle Nacht ohne rötlichen Sonnenuntergang.
Für diese Jahreszeit, mitten im Hochsommer, blieb das Wetter sehr unbeständig.
Als ich nach Hause kam, sah ich zwischen glitzerndem Geäst eine Singdrossel in
glänzendem Federkleid, die ihr Abendlied erhob, und hörte das Prélude Chopins.
Nach heftigem Wind war stetiger, sättigender Regen gefallen auf die Stockrosen,
Lilien, Magnolien, ein Sommergruß für die Eichen, Kastanien und Weizenfelder.
Bei meinem Eintritt verstummte das Prélude von Chopin. Elisa lächelte mich an,
brach ihr Stück ab, nahm ihre Hände von der Tastatur und öffnete ihre Arme mit
einer großzügigen Geste, die Wärme und Willkommen ausstrahlte mit ehrlichen
Zeichen der Freude, ihres Dankes für all das, was sie umgab, als wollte sie mich
zugleich einladen, auffordern, dies Geschenk einer engen Umarmung zurück zu
empfangen. An jenen Abenden verschmolzen unsere Körper ohne Antrieb oder
Steuer. Sie hielten sich umklammert und glitten in einen Fluss der Freude hinab,
hinein in eine milde Strömung des Begehrens und strandeten wieder hervor mit
dem wechselseitigen Schauder unserer Flanken. Dann hörten wir wieder Regen,
als hätte er uns, noch schwach auf den Beinen, wieder zur Erde zurückgebracht.
Der Geruch des nassen Gartens und auf der nahen Wand die bewegten Schatten
unserer Körper sowie der Kastanienblätter direkt vor dem Fenster. Der schwach
glitzernde, gelbe Sonnenuntergang dabei. Wie könnte ich deshalb nicht weinen?
Gestern schlief ich zu Mitternacht ein. Ich träumte, ich würde von einem feinen,
kaum hörbaren, fremden Geräusch wie Klirren aus dem Erdgeschoss erwachen.
Das Klirren bunter Glasfiguren als Mobile, die man im Garten aufhängen kann,
um freche Vögel von frischer Aussaat und den Baumfrüchten zu verscheuchen.
Mir war, als steige ich hinab in den Salon, wo die Porzellanschränke waren mit
ihren Kostbarkeiten, antiquarischen Raritäten, die allein an ihrem Platz standen.
Diese Vitrinen zeigten zart bemalte Porzellanfiguren, die Schiffschaukel, wilde
Tiere, ein rotes Kettenkarussell und die kleine Fee, die auf ihrem Tukan thronte.
Ein schwarzer Tukan mit einem waagerecht riesigen, orange farbigen Schnabel.
Sie saß auf seinem Schnabel sowie auf einer Schaukel. Er schaute sie frech an
aus den blauen Augen im weißen Kopfgefieder über die schwarzen Flügelfedern.
Aber die Figuren weinten, zerfielen in feinste Sandkörner auf dem grünen Samt,
der auf dem Bord lag. Sie waren kaum noch erkennbar, während ich mit weinte.
Winzige Kristalle hatten wie Schneeflocken den dunklen Stoff bedeckt. Ihr Rest
waren in Farben und Formen, in Verzierungen und der Glasur nicht zu erkennen.
Ich fiel auf den Boden, weinte bitterlich, während ich rief: “Kommt doch zurück!“
Mit Schrecken erwachte ich in finsterer Nacht aus dem Traum und eilte hinunter,
um nachzusehen, ob noch alles in Ordnung sei mit einer Antiquitäten-Sammlung,
die über Jahre schon unversehrt geblieben war hinter der gläsernen Vitrinen-Tür.
Natürlich wusste ich in meinem Wissen, dass meine Sammlung nicht zerstört war.
Doch musste ich mir beweisen, dass es noch einen guten Grund gab, warum ich
mitten in der Nacht aufstand, und durch dies Haus stromerte in Gedenken an sie.
Ich nahm einige Figuren heraus und begutachtete sie. “Meine Fee auf dem Tukan“
und die Schiffschaukel, die hoch ausschwenkt, wie von der heftigen Böe ergriffen.
Dann stellte ich sie zurück auf den Platz, schloss ab und knipste das Licht aus. In
früher Morgendämmerung, die jenen Raum erhellte, legte ich mich ruhig schlafen.
MEINE KINDHEIT
Wahrscheinlich kann ich nicht einmal behaupten, dass ich jene Kunst in Keramik
seit je geliebt hätte, aber schon als kleiner Junge faszinierte mich das sehr ernst
ausgesprochene Berührungsverbot: „Sei ein lieber Junge, rühr' mir das nicht an!“
Ihr Unberührbares trug etwas Heiliges und Schönes an sich in den Glas-Vitrinen.
Das glich einem Tabernakel oder Museum, einer fremden, schönen Erscheinung.
Mein Vater hatte Zeit seines Lebens mit dem Porzellan- & Keramik- Geschäft in
London seine Existenz bestritten, eine vierköpfige Familie und zwei Angestellte.
Eine davon hieß Miss Bird, ein altes Fräulein, das auf Stöckelschuhen im Laden,
der mit Marmor gefliest war, laut hörbar im Schritt die Glas-Regale abklapperte.
Dort reihten sich ein sich aufbäumendes Pferd, ein stolzer Hirsch mit erhobenem
Geweih, die ruhende Kuh, ein springendes Reh und dies Weibchen mit dem Kitz
aneinander. Ich nannte das kleine Reh Bambi, das nah des Häschen-Rudels lag.
Ich glaubte, diese konnten nur aus einer wunderbaren Arche Noah aus Porzellan
entsprungen sein und machte mich unversehens auf die Suche nach einer Arche,
die ich nicht fand. Tatsächlich fragte ich dabei sogar Miss Bird, wo die jetzt sei?
Aufbewahrt an einem für andere unzugänglichen Ort, dachte ich, zur Sicherheit.
„Die brauchen gar keine Arche, junger Mann,“ antwortete sie. „Die Flut ist längst
vorüber. Gott hat versprochen, dass es keine zweite mehr geben wird-, niemals!
Sei ein lieber Junge, und rühre sie mir ja nicht an!“ Mit dem obligatorischen Satz
beendete sie meine Unschlüssigkeit und eilte davon, einen dringlichen Kunden zu
bedienen, der Pelz umhüllt wartete, ein blaues Tafelservice gezeigt zu bekommen.
Dieses Berührungsverbot, das ich intuitiv als strikt auffasste, regte mich eher auf,
als dass es mich frustrierte. Es zeigte, wie es sich um wertvolle Dinge zu handeln
schien, da sogar erwachsene Kunden höflichst dazu ersucht wurden, nichts allein
zu berühren. Zuhause sah ich eines Tages meine Mutter den Tränen nahe, als sie
aus Versehen die Röschen auf dem Deckel des Porzellan-Döschens abgebrochen
hatte, das auf ihrem Frisiertisch stand. “Man kann das kleben, Liebling, da bin ich
ganz sicher,“ sagte sie, wobei ich nicht gefragt hatte. Dann machte sie sich daran,
auch die noch so kleinsten Bruchstücke in einem Umschlag zu sammeln, kostbar.
Ich wusste, dass wir von den Kostbarkeiten, diesen zerbrechlichen Dingen lebten.
Der Laden unterschied sich von anderen Läden durch den frischen, reinen Geruch,
Gediegenheit bei klarem Tageslicht und gläserner, weitläufiger Räumlichkeit, dem
leichten Segment der hölzernen Verpackungskästen von Holzspäne zu Sägemehl.
Er lag in der City Londons. Exklusiveres, was man sich als eigene Kultur wünscht.
Vermutlich war ich stolz auf den Laden meines Vaters ohne dabei nachzudenken.
Stolz auf seine Vielfalt, Sauberkeit und Einzigartigkeit, die dieser Zerbrechlichkeit
seiner sanft schimmernden Kostbarkeiten ausmachte. Sacht erinnere ich mich an
ein Mahagoni farbiges, Glas getäfelte Kassenpult, aber es musste verschwunden
sein, als ich drei oder vier Jahre alt war. Dies war ein kleiner Teil von alldem, was
meine Kindheit ausmachte.
Ich war nicht oft dort. Wir lebten in einem Dorf, östlich der Stadt Northhampton,
ein paar Kilometer nördlich von London. Mit seinem urwüchsig, ländlichen Flair
als Kontrast zu der noblen Atmosphäre in der City war es immer mein Zuhause.
Dieses Haus mit seinem Ziegeldach, halber Holzverschalung und seinen Giebeln
trug den Namen Candyland. Nicht, weil das aus Zuckerguss war, sondern lieblich
anzusehen, einfach zum Wohlfühlen. Ich hatte nie ein anderes Zuhause, gar den
Wunsch, woanders heimisch zu sein. Wenn ich in warmen Sommernächten wach
lag bei geöffneten Fenstern, hörte ich das ferne Rangieren der Züge in der Stadt,
ein schwaches Schlagen der Rathausuhr, das dumpfe Läuten der Kirchenglocke.
Drei unterschiedlichen Geräusche gehörten wie zu meiner lauschenden Routine,
auf die ich schon wartete vor dem Einschlafen, wie auf unser Gute-Nacht-Gebet,
was ich jeden Abend mit meiner Mutter sprach: “Ich bin klein, mein Herz ist rein,
soll niemand drin wohnen als Jesus allein.“ Manchmal war eine sirrende Mücke
eine willkommene Ausrede, noch einmal ihre Aufmerksamkeit zu erhaschen, die
bereits im Türschließen verschwand. “Mutti, in meinem Zimmer ist ein Brummer,
der mich pieken will. “Man konnte den Angriffen des Brummers auch trotzen mit
einem Sprung aus dem Bett und sich quer über die Fensterbank legen. Der Blick
fiel dann oft auf einen rötlichen Abendhimmel, in dem sich weite Berge näherten
und manchmal eine Eule seicht im Tiefflug über sommerlichen Heu-Puppen glitt.
Im August ging dann gigantisch der Erntemond auf, der sich über jene Felder hin
streckte, die von Strohgarben gekrönt waren und unter silbernen Licht erstrahlten.
Alte, knorrige Eichen warfen gespenstige Schatten, der bei Vollmond schauderte.
EIN VOGELPARADIES
An grünen Märzabenden schrien Drosseln von den Spitzen der Silberbirken, die
die Ränder des Rasens säumten. Mein Vater sprach mit ihnen manchmal zu laut.
Dann rief er ihnen zu: “Ja, ich höre euer freches Gekreische, mit dem ihr angebt.
Da lobe ich mir eine ganz alltägliche Amsel.“ Der halb verwilderte, große Garten
war voller Vögel, denen er das ganze Jahr über seine ungeteilte Aufmerksamkeit
widmete. Im Sommer lag er in einem Liegestuhl auf dem Rasen, und die Zeitung
auf seinen Knien war nur ein Vorwand, um desto besser beobachten wie lauschen
zu können. “Irgendwo da hinten im Gezweig steckt ein Weidenlaubsänger“, sagte
er und wies rüber, wenn ich kam, um ihn zum Tee zu bitten. “Sehen kann ich den
Burschen nicht, aber hören. “Dann lehrte er mich das Absacken des Liedes hören.
wie unterscheiden von ausklingendem Gesang der Amsel, was charakteristisch ist
für die Weidenlaubsänger. „Man muss in der Lage sein, Vögel in den Gebaren zu
erkennen, mein Junge.“ Nie benutzte er sein Fernglas, aber oft setzte er sich die
Brille auf, erhob sich und ging behutsam zu dem Kleiber oder Baumläufer in den
Kiefern hinter den Rhododendren. „Wenn der Schlingel im Gegenlicht sitzt, wird
es schwierig, ihn gut zu Gesicht zu bekommen, weißt du.“ Es regte ihn auf, wenn
diese Dompfaffen auf den Pflaumenbäumen, grüne Knospen anpickten. Nie nahm
er etwas in die Hand, sie zu verscheuchen. Er sah ihnen zu und schimpfte sie aus.
Meine drei Jahre ältere Schwester und ich hängten den Meisen Ringe auf und den
Staren und Bachstelzen streuten wir harte Brotkrumen und Speckschwarte-Stücke,
die über den Pfützen bedeckten Rasen rannten. Einmal flog ein junger Buntspecht
mit ganzer Wucht an die Fensterscheibe am Ende der Veranda und verstarb einige
Minuten später in der Hand meines Vaters. Seither habe ich keinen mehr gesehen.
MEINE INTERNATSZEIT
Während der fünf Jahre, in denen ich in Northampton zur Schule ging, bekam ich
gewöhnlich Ende März eine Postkarte von meinem Vater, auf der nichts stand als:
„Ich habe den Weidenlaubsänger gehört.“- Das heißt, wenn man in einem Internat
nicht herum gestoßen werden will, muss man sich durchsetzen. Ich kann für mich
nicht sagen, dass es zutraf. In meiner Schulzeit gab es zwei Rektoren, die Strenge
nicht besonders erstrebenswert hielten, was den Ton angab, bei Lehrern wie auch
Schülern. Ohnehin haben Jungen einen natürlichen Respekt und die Fähigkeit zur
Einordnung in einer Gruppe. Rektoren und Lehrer gehörten zu humanen Männern.
Sicher müssen sich aggressive und eingebildete Jungen den besonderen Respekt
verschaffen. Aber einer wie ich, der sich in vielem genügt, wird meistens in Frieden
gelassen, weil er bis auf die eigene Würde keine großen Ansprüche für sich erhebt.
Ich nahm die Menschen fast immer so, wie ich sie vorfand, und dabei beließ ich es.
Damit verbrachte ich dort fünf ruhige und ereignislose Schuljahre, obwohl ich zwei
bis drei Freundschaften schloss, spürte ich kein drängendes Verlangen, die gerne
nach meinem Weggang fortzuführen,- anderen empfanden das eindeutig genauso.
Heute weiß ich, dass mir die Wärme und Bestimmtheit fehlten, um Pfeile in andere
Herzen einnisten zu können, nie kam es mir in den Sinn, dies einmal zu versuchen.
Im Sommersemester gab es an der Public School zwei halbe Ferientage je Woche.
Kricket war kein Pflichtfach mehr nach Beendigung des zweiten Schuljahres. Somit
konnte man in der Umgebung nach Belieben mit oder ohne Fahrrad umherstreifen.
Es machte mir nichts aus, allein zu sein. Ich erhielt gar eine offizielle Anerkennung
für meine Eigenart. Als ich die Wildblumen und Vögel zu fotografieren begann, auf
ihren Nestern, erntete ich großes Lob verschiedener Lehrer und gewann den Preis
auf der jährlichen Wissenschaftsschau: Ein Reiher, der sich in dem Nest niederlässt.
Für Mannschaftsspiele hatte ich weder Fähigkeit noch Neigung. Fechten mochte ich
gern in der Riege. Der Säbel bedeutete mir wenig, aber in der delikaten und präzisen
Disziplin des Floretts und Degens fand ich Befriedigung sowie eine introvertierte Lust.
Der maskierte Opponent, mehr reziprok als gegnerisch, das Rechteck aufmerksamer
Kampfrichter, dieses metallische Blitzen auftreffender Klingen, der plötzliche „Stopp“-
Schrei, das detaillierte Resümee mit dem kontrollierten Beschluss der Schiedsrichter.
All dies würdig, formell, diszipliniert,- was für mich der Inbegriff des Fecht-Sports war.
Auch mein Schwimmen machte mir großen Spaß. Ich war kein Wettschwimmer, aber
eine Neigung für die Einsamkeit, den Rhythmus langer Strecken, einem Spaziergang
vergleichbar. An einem schönen Sommermorgen stand ich oft um 6 Uhr auf, um dann
vergnügt durch die Wiesen hinunter zu marschieren und eine halbe Meile in dem fast
leeren Bad zu schwimmen. Kein Geräusch drang zum Ohr vom planschend bewegten
Wasser, nichts störte das streckende Spiel von Gliedmaßen und Atem. Beim aus dem
Wasser Steigen bildete ich mir manchmal ein, ich hätte das Schwimmen erfunden, so
dass es allein in einem unantastbaren, persönlichen Pantheon stand wie ein Gemälde.
Schach lernte ich ebenfalls und verwandte einige Mühe darauf, wohingegen mich das
gesellige Bridge kaum reizte. Man hätte sagen können, ich lernte in Northampton, ein
Niemand zu sein, wobei ich in einer Art natürlicher Schüchternheit keine Gelegenheit
ausließ, mich auszuzeichnen, Rasse zu zeigen. In Hartnäckigkeit ließ ich wirklich alle
mir gebotenen Chancen aus, zu beweisen, dass ich ungewöhnliche Fähigkeiten hatte.
ASSISTENZLEHRER ROBIN
Es geschah dann Folgendes:
In meinem dritten Sommer, als ich sechzehn war und mich neusprachlich orientierte,
ließ der Assistenzlehrer Robin verlauten, er sei an Hellsehen interessiert und suche
freiwillige Schüler, die ihm bei ausgewählten Experimenten behilflich sind. Die große
Anzahl der Schüler wurde von Robin schnell abgelehnt.
Er wollte keine Spaßvögel, die ihm die Glaubwürdigkeit an seinen Experimenten leicht
verspielten. Klare Kühnheit seiner wissenschaftlichen Arbeit sollte erhalten bleiben mit
Sachverstand und geprägten Wesenszügen.- Reife Jungen, die Ungewöhnliches nicht
zu dem eigenen Abenteuer machen, sich darin als explizite Superhelden widerspiegeln.
Mein Fachbereich war moderne Sprachen. Doch hatte ich in meiner Freizeit schon viel
in Naturwissenschaften erlebt, dass Robin es selber war, der mich im Labor ansprach:
“Ich brauche zuverlässige, nicht zu leicht erregbare sowie äußerst vernünftige Schüler.“
Er verdrehte mir sozusagen den Arm, warb besonnen um mich und redete auf mich ein.
Ich konnte seiner Sache keine Begeisterung schenken, willigte nur ihm zu Gefallen ein,
aber ohne Euphorie und Verständnis. Einfach, um von ihm in Ruhe gelassen zu werden.
Ich entsinne mich schwach an einige Tests mit markierten Karten und ein paar Würfeln.
Robin war schweigsam, ähnlich wie ein Arzt, der dich über gewisse Symptome befragt,
doch sorgsam bedacht ist, keine Reaktionen auf deine Antworten zu zeigen. Ich war nie
aber gläubig. Doch dass es nur Schau war, was seine wirklichen Ergebnisse anging und
dass etwas Besonderes dabei herausgekommen war, glaubte ich nicht. Vielleicht war er
vom Rektor in dieser Sache ermahnt worden, uns nicht gänzlich den Kopf zu verdrehen.
Wie auch immer, diese ganze Angelegenheit langweilte mich schon, als er einen Schüler
aus dem Nachbargebäude namens Tim Hopkins und mich an einem Freitag zu sich nach
Hause einlud für den Samstagnachmittag zu einem Tee mit seiner Frau. Robins Frau galt
als auffällig hübsches Mädchen, das am College regen Anteil nahm, und von den Ältesten
verehrt wurde. Sie machte uns einen hervorragenden Tee und war zu uns sehr angenehm.
Während sie die Tassen abräumte, plauderte Robin weiter. Offenbar wartete er nur, dass
sie wieder herein käme, um mit uns zwei außergewöhnliche Experimente durchzuführen.
„Ich weiß nicht, ob Sie schon davon gehört haben, dass es Leute gibt mit der auffälligen
Fähigkeit, Ereignisse mit tödlichem Hintergrund, die im Zusammenhang von dem Bösen
stehen, auf unerklärliche Weise zu erfassen, das galiläische zweite Gesicht vom Unheil.“
Dann berichtete Robin weiter von einem Mord-Seher im 18. Jahrhundert, der die Polizei
befähigt hätte, ein Verbrechen in Barcelona bis nach Paris zu verfolgen. Geographischer
sowie staatlicher Art über Grenzen hinaus, die keine Beamten hätten erkundigen können.
Vage Erklärungen stammten von Robin. Ich hatte nie Lust, Genaues darüber zu erfahren.
„Keine Angst, Sie brauchen keinen Mord prophezeien“, sagte er beschwichtigend. „Was
viel Harmloseres liegt in meinem Sinn. Ich bitte dazu Schüler David einmal vor die Tür,
während wir mit Schüler Tim arbeiten.“- Dreizehn Minuten später holte mich Tim herein
und runzelte seine Stirn. „Völliger Blödsinn! Der Tee war aber gut und erst Frau Robin!“
Robin ging mit mir durch den Salon zurück in einen Raum, in dem auf einem Tisch fünf
identische Labor-Gläser standen, die bis zur Hälfte mit der farblosen Flüssigkeit gefüllt
waren, die ich erfassen sollte. „David, vier sind mit Wasser, eines ist mit Schwefelsäure.
Meine Frau wird nacheinander aus jedem einzelnen Glas trinken. Sie weiß so wenig wie
Sie, womit sie gefüllt sind. Melden Sie sich, wenn sie meinen, dass es Schwefelsäure ist.
Wenn nicht, werde ich es natürlich tun.“ Robin zog seine übliche Schau ab, man schalte
den Willen aus und mache den Verstand zu einem unbeschriebenen Blatt und ähnliches.
Was folgte, war nicht dramatisch. Ich hatte keine Vorahnung, "Visionen" von Frau Robin,
die sich in Todeskrämpfen wand, sondern sah zu, wie sie aus jedem dieser Gläser trank.
Als sie einen weiteren Schluck aus dem zweitem Glas nahm, hatte ich das vage Gefühl,
dass es besser sei, wenn sie das nicht täte. Sowie man die Bahn-Tür öffnen will und eher
sein lässt, weil man ahnt, dass sich auf dem Gleis zurzeit etwas Ungewöhnliches aufhält.
Wie man einen heißen Pott nicht abstellt, weil einem klar wird, dass man sich verbrennt.
Ich hob den Arm und sagte: „Äh!“ “Richtig, das ist die Schwefelsäure!“, antwortete Robin.
„Können Sie mir genau sagen, was Ihnen durch den Kopf schoss, David“, fragte Robin.
„Nichts, Sir!- Wirklich nichts Genaues. „Ist dies tatsächlich Schwefelsäure?“, fragte Tim.
Robin riss einen Streifen blaues Lackmuspapier ab und stippte ihn in das Glas: knallrot.
Dieser Papierstreifen wurde so schnell rot, wie man es sich nur hätte wünschen können.
„Möchten Sie es noch einmal versuchen, David?“, fragte mich Robin. Ich verspürte mit
dem Erfolg keine besondere Freude, Befriedigung oder Genugtuung. Ich überlegte, wie
ich Tim dazu bewegen konnte, im College den Mund zu halten und es nicht zu erzählen.
Aber ich konnte schlecht nein sagen und ging wieder hinaus, während Robin es erneut
aufbaute. Beim zweiten Mal fühlte ich mich völlig gelangweilt und genoss einen Anblick
von Frau Robin. Ich saß einfach nur da wie unbeteiligt und hatte vergessen, warum wir
uns hier eigentlich versammelt hatten. In der Sache wurde mir klar, dass Frau Robin im
Trinken der Flüssigkeiten schon beim fünften Glas angekommen war, ohne dass etwas
geschehen war. Vermutlich hatte ich Anzeichen von Unruhe gezeigt, weil Robin zu mir
angesprungen kam und mir eine Hand auf die Schulter legte. „Keine Sorge um Wasser,
David! Diesmal war überall nur Wasser drin.“ In seltsamer Weise beobachtete ich Frau
Robin, wie sie sich vorbeugte, um jene Gläser wegzuräumen, als mich Robin ansprach.
„David, können Sie mir diesmal sagen, was in Ihnen ablief, sich nicht von mir täuschen
zu lassen?“ “Nein, Sir, nichts, kann ich nicht.“ Ich antwortete zu brüsk für einen Jungen,
der seinen Lehrer vor sich hatte. „Außerdem will ich auch keine weiteren Experimente.“
FRAU ROBIN
Ich hatte plötzlich ein vages Gefühl, zunächst einer Angst, wenn ich auch nicht wusste,
wovor, dass Robin kein moralisches Recht hätte, die Sache mit mir zu veranstalten, die
mir aus irgendeinem Grund zu viel wurde, zu nah ging. Ich dachte, es sei selbstsüchtig,
wenn es ihm vielleicht auch gar nicht bewusst war, mich in seinem Interesse zu nutzen.
Vielleicht war das für ihn wirklich nur ein Experiment, und er war sich seiner Sache gar
nicht bewusst. Peinliche Stille entstand, Robin geriet in Verlegenheit. Seine Frau nahm
sich dieser Sache an. Sie stand auf, setzte sich neben meinen Stuhl und legte mir sanft
ihre Hand auf die Stirn. „Ist Ihnen nicht gut, David?“ fragte sie. „Es gibt keinen einzigen
Grund zur Besorgnis. Es ist ein allgemein anerkanntes Phänomen, das wir eines Tages
wissenschaftlich erklärt bekommen werden. Sie brauchen in nichts Angst davor haben.“
Auf diese unverhoffte Nähe in körperlicher und verbaler Art reagierte mein Puls heftig.
Eine unbeabsichtigte Berührung mit ihrer Brust, ich konnte Wärme, weiche Festigkeit,
den Duft parfümierter Seife gemischt mit frischem Eigengeruch ganz nahe empfinden.
Fremde Vibration entlud sich in meinem Körper gegen meinen Willen.- Ich war nervös.
Urplötzlich, fernab eigener Selbstkontrolle bekam ich eine Erektion, wie es oft Jungen
passiert, die sich darin noch nicht erfahren durften. Ich sprang auf und musste husten.
Frau Robin sah mir in die Augen und lächelte, als seien wir ganz allein in einem Raum.
Sie trug eine weiße, luftige Bluse in einem enganliegenden, schmalen Rock mit Schlitz.
„Können Sie noch ein einziges Experiment mit mir machen, nur für mich allein, David?
Es muss nicht sein, doch mir zu Gefallen wäre es großartig, wenn Sie es noch können.“
EIN WEITERES EXPERIMENT
In dem Moment war ich mir sicher, dass Mrs. Robin die treibende Kraft war für diese
fragwürdige Veranstaltung, wenn er ihr selbst nicht gleichgültig gegenüber stand. Als
eine Art Vermittler für sie. Das bereitete ihr Vergnügen, ihre Anziehungskraft auf mich
auszurichten und zu erproben. Wenn ich ihr Spiel auch nicht als frivol bezeichnen will
und mir die Erfahrungen fehlten, das gleiche abzuwehren, hatte keiner das Recht dazu.
Ich verlor den Boden unter den Füßen und sah verschwommen zwei schöne Gesichter.
Der Unterschied zwischen uns war, dass ich nervös war und sie nicht, Druck ging aus.
Sie waren unheimlich selbstsüchtig wie aus Gewohnheit, nur wegen eines Kitzel oder
einer heimlichen Eigenfreude,- mich irgendeine gefährliche Tat vollbringen zu lassen.
Wie verzogene Kinder was herausfordern müssen oder eine orientalische Prinzessin
ihren jungen Höfling bezwingt, um ihre eigene Macht an ihm zu erkunden ohne einen
Sinn und um jeden Preis. Zum reinen Amüsement ihrer selbst, Macht auf ihn zu üben.
Trotz Zögern willigte ich ein, wie hätte ich ihr denn einen Gefallen abschlagen können?
Sie begann von einem Professor Gaylord Morris zu berichten, der die Fähigkeit besaß,
Gedanken und Gegenstände zu erraten, die Freunde in ihrer Abwesenheit ausmachten.
Es erinnerte mich an das Kinderspiel: „Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist -!“
Natürlich willigte ich ein, weil es mir weitaus harmloser schien als Schwefelsäure von
Wasser unterscheiden zu können. Der Professor hatte das eigentlich zum Zeitvertreib
gemacht. In ernsten Situationen verweigerte er seine Eingebung auf bestimmte Dinge.
Doch stellte ich schnell fest, dass ich mich geirrt hatte. Die Übung war ein Fehlschlag.
Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wie ich mit der Aufgabe, die man mir aufgebürdet
hatte, fertig werden sollte. Ob ich auf der Suche nach einer Art Botschaft auf die Erde
schauen sollte oder in ihre Augen in Hingabe zu einer Eingebung, die wissentlich war.
Ob ich meine Gedanken äußern oder mich leiten lassen sollte,- wie in Trance stehen,
bis der Blitz der Offenbarung mich traf. Nichts passierte. Narzisse, erinnerte ich mich,
war die erste ihrer Vorstellung. Doch an die zweite Idee erinnerte ich mich nicht mehr.
DAS LETZTE EXPERIMENT
Schnell hatte ich Tims Gegenwart durch eindringlichem Blick um Aufruhr und Hilfe
gefunden, als Frau Robin meinte: „Wir können es noch ein letztes Mal versuchen.“
Als ich wieder ins Zimmer zurückkam, fühlte ich mich verlegen und erleichtert, weil
eine Sache, die sie an mir erproben wollten, anscheinend nicht richtig funktionierte.
Bald würden Sie mich in Ruhe lassen. Ich könnte hinunter zum Fluss angeln gehen.
Der College-Tee, an dem jeder Schüler teilnehmen musste, begann in einer Stunde.
Ich stand unschlüssig im Raum vor dem Fenster. Mein Blick fiel auf ein Rosenbeet.
Eine Harke, mit der die Erde frisch aufgeworfen worden war, stand hochkant davor.
Ohne zu wissen warum, blieb mein Augenmerk an der Harke haften wie an seltsam
erscheinende Dinge, die es zu erkunden gab. Früher war es ein Stieglitz im Strauch.
Hatte sich dieser Vogel verirrt? Denn üblicher Weise war dies nicht sein Aufenthalt.
Diese Harke wurde der ausschließliche Gegenstand meiner Aufmerksamkeit sowie
meines Interesses, wobei Dinge um mich herum wegsanken, ausgeblendet wurden.
Danach überrollten mich Ekel und Furcht, Widerwärtigkeit wie die eines Horrorfilms.
Meine Gefühle, soweit ich sie noch im Gedächtnis habe, glichen der Verbliebenen,
der durch das Fenster ein Telegramm gereicht wird, während sie den Inhalt bereits
weiß. Ich schien völlig allein zu stehen in einer verlassenen Stille meines Wissens.
Die aufrechte Harke wurde zu meinem Albtraum, der mich mit seinem würgenden
Brechreiz erfüllte. Der Garten mit dem Rosenbeet war nur Schein und verbarg den
Leichenhaufen unschuldiger, hilfloser Opfer, deren wollüstige Ermordung Garten-
Idylle zunichte machte wie die weichen Brüste von Frau Robin und kühlen Hände.
Dies Himmelszelt brach über mich zusammen mit der Schwere hängender Falten.