Kitabı oku: «Das Badezimmer»
»Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.« Blaise Pascal
Ein junger Mann, der, merkwürdig genug, von sich sagt, »noch 27, bald 29 Jahre alt« zu sein, beschließt, künftig sein Leben in der Badewanne zu verbringen. Er will ein abstraktes Leben führen, unabgelenkt sein, warum, das verrät er nicht. Er liest Bücher, geht eigenen Gedanken nach. Ein Ich in Isolation, das registriert, was um es herum passiert. Da ist Edmondsson, seine Frau, die in einer Kunstgalerie arbeitet; da gibt es zwei Polen, Kunstmaler eigentlich, die für billig Geld die Küche streichen sollen. Ein Freund der Familie schaut vorbei, die besorgte Mutter kommt ihn besuchen. Dann aber eines Tages, fast überstürzt und ohne Gepäck, verlässt er sein Badezimmer, verlässt Paris, nimmt einen Zug, der ihn nach Venedig in ein Hotelzimmer bringt, das er nur selten verlässt. Dort spielt er Dart. Und er ist auf der Suche nach einem Tennisplatz.
Als Jean-Philippe Toussaint 1985 in Frankreich »Das Badezimmer« veröffentlichte, seinen inzwischen berühmten Traktat über Bewegung und Stillstand, über den Sinn menschlichen Handelns und den Tod, rüttelte das die damals eintönig gewordene französische Romanlandschaft auf. Da legte ein unbekannter junger Autor ein Buch vor, das so ganz anders war, ein karger, alles Unnötige verbannender, glasklarer Stil, eine kuriose Geschichte. Hier war unerwartet in der ernst-komischen Schnittstelle eines Samuel Beckett und Jacques Tati ein neuer großer Autor aus dem Nichts aufgetaucht.
»Nun sind wir eingesperrt. Wir müssen zu Hause bleiben. Keine Reisemöglichkeiten mehr. Was kann man tun, um nicht der Langeweile zu verfallen? Der Debütroman eines heute bekannten französischen Autors [erregte], als es 1985 erschien, sofort Aufsehen – ›Das Badezimmer‹ von Jean-Philippe Toussaint. Ein sehr aktuell gewordener Roman.« Marc Sagnol in der Thüringischen Allgemeine
»Das Ich in der Badewanne: eine Variante des Aussteigers; aber während andere das Abenteuer mit dem Wandersack auf dem Rücken oder in einer alternativen Szenerie suchen, heisst das Abenteuer hier immobilite.« NZZ (1987)
INHALT
Paris
Die Hypothenuse
Paris
»Die Seelenruhe meines abstrakten Lebens.« Nachwort von Joachim Unseld
Im rechtwinkligen Dreieck
ist das Hypotenusenquadrat
gleich der Summe der Kathetenquadrate.
Pythagoras
PARIS
1) Als ich begann, meine Nachmittage im Badezimmer zu verbringen, hatte ich nicht vor, mich dort einzurichten; nein, ich verlebte angenehme Stunden da, hing in der Badewanne meinen Gedanken nach, mal in Kleidern, mal ohne. Edmondsson, der es an meiner Lagerstatt gefiel, fand mich ausgeglichener. Ich brachte es fertig zu scherzen, wir lachten. Ich redete mit ausladenden Gesten, befand, dass die praktischsten Badewannen die mit parallel verlaufenden Seitenwänden, schräger Rücklehne und senkrecht abfallendem Fußteil sind, das dem Benutzer als Fußstütze dienen konnte.
2) Edmondsson meinte zwar, dass in meiner Weigerung, das Badezimmer zu verlassen, etwas Lähmendes liege, doch das hinderte sie nicht daran, mir das Leben zu erleichtern und zu unserem Unterhalt beizutragen, indem sie halbtags in einer Kunstgalerie arbeitete.
3) Um mich herum befanden sich Schränke, Handtuchhalter, ein Bidet. Das Waschbecken war weiß; darüber ragte eine Ablage, auf der Zahnbürsten und Rasierer lagen. Die Wand mir gegenüber, übersät mit Klümpchen, wies kleine Risse auf. Krater hier und da durchlöcherten den stumpfen Anstrich. Ein Spalt schien weiter zu wachsen. Stundenlang starrte ich auf seine Konturen, versuchte vergeblich, eine Veränderung festzustellen. Manchmal unternahm ich andere Experimente. Ich beobachtete die Oberfläche meines Gesichts in einem Taschenspiegel und gleichzeitig das Rucken des Zeigers meiner Armbanduhr. Aber mein Gesicht gab nichts preis. Nie.
4) Eines Morgens habe ich die Wäscheleine abgerissen. Ich habe alle Schränke ausgeräumt, alles von den Regalen entfernt. Nachdem die Toilettenartikel in einem großen Müllsack verstaut waren, habe ich begonnen, mit einem Teil meiner Bibliothek umzuziehen. Als Edmondsson nach Hause kam, empfing ich sie mit einem Buch in der Hand, liegend, die Füße auf dem Wasserhahn gekreuzt.
5) Schließlich benachrichtigte Edmondsson meine Eltern.
6) Mama brachte mir Kuchen. Auf dem Bidet sitzend, den weit geöffneten Karton zwischen den Beinen, verteilte sie die Stückchen auf einen Suppenteller. Ich fand sie sorgenvoll; seit sie gekommen war, wich sie meinen Blicken aus. Sie hob den Kopf mit müder Traurigkeit, setzte zum Sprechen an, schwieg jedoch, nahm sich stattdessen ein Eclair und biss hinein. Du solltest dich ablenken, sagte sie, Sport treiben, was weiß ich. Sie säuberte sich die Mundwinkel mit ihrem Handschuh. Ich antwortete, das Bedürfnis nach Ablenkung erscheine mir suspekt. Als ich, dabei fast lächelnd, hinzufügte, dass ich nichts mehr fürchtete als Ablenkung, musste sie wohl oder übel einsehen, dass man mit mir nicht diskutieren konnte, und hielt mir mechanisch ein Mille-feuille hin.
7) Zweimal die Woche verfolgte ich im Radio die Zusammenfassung der Fußballspiele der französischen Ersten Liga. Die Übertragung dauerte zwei Stunden. Von seinem Pariser Studio aus dirigierte der Moderator die Stimmen der Reporter, die aus den einzelnen Stadien über die Spiele berichteten. Da ich der Ansicht bin, dass Fußball in der Vorstellung nur gewinnen kann, versäumte ich die Sendung kein einziges Mal. Eingelullt von warmen Menschenstimmen lauschte ich den Reportagen bei ausgeschaltetem Licht, manchmal mit geschlossenen Augen.
8) Ein Freund meiner Eltern, auf der Durchreise in Paris, kam mich besuchen. Er berichtete mir, dass es regne. Mit dem Arm aufs Waschbecken zeigend forderte ich ihn höflich auf, ein Handtuch zu nehmen. Besser das gelbe, das andere war gebraucht. Er trocknete sich die Haare lange und gründlich. Ich hatte keine Ahnung, was er von mir wollte. Da sich Schweigen breitmachte, fing er an, mir Neuigkeiten aus seinem Berufsleben zu erzählen, er erklärte mir, dass die Schwierigkeiten, auf die er derzeit stoße, unüberwindbar seien, da sie aus der Unverträglichkeit der Charaktere ranggleicher Personen herrührten. Nervös mit meinem Handtuch wedelnd lief er in großen Schritten neben der Badewanne auf und ab und ließ sich von seinen Äußerungen immer mehr mitreißen, wurde immer unnachgiebiger. Er fluchte und schimpfte. Am Ende bezeichnete er Lacour als verantwortungslos. Ich versuche das Unmögliche, sagte er, das Unmögliche!, aber keiner schaut hin.
9) Ich trug einfache Kleidung. Eine beige Leinenhose, ein blaues Hemd und eine einfarbige Krawatte. Der Stoff fiel so vorteilhaft auf meinem Körper, dass ich den Eindruck vermittelte, ich sei, auch angekleidet, auf eine fein definierte, kräftige Weise muskulös. Ich lag ausgestreckt und entspannt da, die Augen geschlossen. Ich dachte an eine Dame Blanche, das Dessert, eine Kugel Vanilleeis mit heißer Schokolade übergossen. Seit Wochen machte ich mir darüber Gedanken. Von einem wissenschaftlichen Standpunkt aus (ich bin kein Feinschmecker). Mir erschien diese Kombination wie die Vollkommenheit schlechthin. Ein Mondrian. Die dickflüssige Schokolade über dem gefrorenen Vanilleeis, das Warme und das Kalte, das Feste und das Flüssige. Ungleichgewicht und Strenge, Genauigkeit. Ein Brathähnchen hält da, bei aller Liebe, bei dem Vergleich nicht mit. Nein. Und ich war gerade am Einschlafen, da trat Edmondsson ins Badezimmer, vollführte eine Pirouette und hielt mir zwei Briefe hin. Einer kam von der österreichischen Botschaft. Ich öffnete ihn mit einem Kamm. Edmondsson, die hinter meinem Rücken mitlas, betonte meinen Namen, der auf der Einladungskarte stand. Da ich weder Österreicher noch Diplomaten kenne, sagte ich, dass es sich um einen Irrtum handeln müsse, aller Voraussicht nach.
10) Auf dem Rand der Badewanne sitzend erklärte ich Edmondsson, es sei möglicherweise nicht sehr gesund, im Alter von siebenundzwanzig, bald neunundzwanzig Jahren mehr oder weniger zurückgezogen in einer Badewanne zu leben. Ich müsste das Wagnis eingehen, sagte ich mit gesenktem Blick und streichelte dabei über das Emaille der Badewanne, das Wagnis, die Seelenruhe meines abstrakten Lebens aufs Spiel zu setzen, um. Ich beendete meinen Satz nicht.
11) Am folgenden Tag verließ ich das Badezimmer.
12) Kabrowinski. Und Ihr Vorname?, fragte ich. Witold. Ein Mann mit weißen Haaren und grauem Anzug saß in meiner Küche, eine Zigarettenspitze in der Hand. Hinter ihm stand ein jüngerer Mann. Mit einem Satz sprang Kabrowinski auf und bot mir seinen Stuhl an. Er hatte geglaubt, allein im Haus zu sein, war verlegen, entschuldigte sich. Um seine Anwesenheit in meiner Wohnung zu rechtfertigen, beeilte er sich, mir zu erklären, Edmondsson habe ihn gebeten, die Küche zu streichen. Ich war im Bilde. Die Kunstgalerie, in der Edmondsson arbeitete, stellte gerade polnische Künstler aus. Da die nie Geld hatten, so Edmondsson, konnte man das ausnutzen und sie unter Tarif die Küche neu streichen lassen.
13) Ich hatte einen ruhigen Tag verbracht, gestört bei meinen Ausflügen in der Wohnung durch die Anwesenheit der beiden Polen, die die Küche nicht verließen und in aller Ruhe auf die Farbe warteten, die Edmondsson vergessen hatte zu besorgen. Gelegentlich klopfte Kabrowinski bei mir an, streckte seinen Kopf durch die halb geöffnete Tür und stellte mir Fragen, auf die ich auf das allerfreundlichste antwortete, ich hätte keine Ahnung. Seit einigen Minuten war von ihnen nichts mehr zu hören gewesen. Ich saß auf meinem Bett, den Rücken an ein Kopfkissen gelehnt, und las. Die Eingangstür fiel ins Schloss, ich hob den Kopf. Kurze Zeit darauf erschien Edmondsson mit freudestrahlendem Gesicht. Sie wollte mit mir schlafen.
14) Jetzt.
15) Jetzt mit mir schlafen? Bedächtig klappte ich mein Buch zu, behielt dabei einen Finger zwischen den Seiten, um die Stelle nicht zu verlieren. Edmondsson lachte und hüpfte mit beiden Beinen auf der Stelle. Sie knöpfte ihre Bluse auf. Hinter der Tür ließ Kabrowinski mit ernster Stimme vernehmen, dass er bereits seit heute Morgen auf die Farbe warte. Er sprach von einem verlorenen, zerfahrenen Tag. Als sei es das Selbstverständlichste der Welt, öffnete die immer noch lachende Edmondsson die Tür und schlug ihnen vor, mit uns gemeinsam zu Abend zu essen.
16) Beim Probieren der Nudeln verbrannte sich Edmondsson die Lippen. Kabrowinski saß, wie um sein Nachdenken anschaulich zu machen, mit leicht geneigtem Gesicht auf einem Küchenschemel und nuckelte versonnen an seiner Zigarettenspitze. Seit er wusste, warum Edmondsson keine Farbe gekauft hatte (die Drogerien hatten geschlossen), beklagte er in einem fort, dass heute Montag war. Im selben Atemzug versuchte er herauszubekommen, ob ihm der Tag dennoch bezahlt werde. Edmondsson antwortete ausweichend. Sie erklärte, dass sie heute die Farbe sowieso nicht gekauft hätte, da sie sich noch nicht für einen Farbton entschieden hatte, sie schwankte noch zwischen einem Beige, bei dem sie befürchtete, es mache die Küche zu dunkel, und einem Weiß – das wiederum den Schmutz anzog. Kabrowinski fragte sie mit gedämpfter Stimme, ob sie die Absicht hätte, sich bis zum nächsten Tag zu entscheiden. Sie servierte ihm eine Portion Nudeln, er bedankte sich. Davon abgesehen, dass es Kammmuscheln waren und keine Venusmuscheln, aßen wir Spaghetti alle vongole. Das Bier war lauwarm, ich schenkte es in schräg gehaltene Gläser ein. Kabrowinski aß langsam. Während er sorgfältig die Spaghetti um seine Gabel wickelte, meinte er, dass man so früh wie möglich mit dem Streichen beginnen müsse, und fragte, jetzt zu mir gewandt, mit einer Art weltmännischem Ausdruck, was ich von Glyzerinlack hielte. Um seine Frage zu untermauern, fügte er hinzu, dass er in unserer Abstellkammer zwei Töpfe Glyzerinlack bemerkt habe. Um mich nicht völlig aus der Unterhaltung auszuklinken, antwortete ich, dass ich ganz persönlich nichts davon hielte. Edmondsson war sogar strikt dagegen. Die betreffenden Farbtöpfe, teilte sie uns mit, abgesehen davon, dass sie leer waren, gehörten unseren Vormietern, in ihren Augen ein zweiter guter Grund, sie nicht zu verwenden.
17) Edmondsson hatte noch nicht ganz die Tür hinter unseren Gästen geschlossen, da zog sie auch schon ihren Rock und die Strumpfhosen aus, rollte sie, sich hin und her windend, die Beine hinunter. Kabrowinski zögerte seinen Abschied weiter hinaus; durch den winzigen Türspalt hindurch bedankte er sich für das Abendessen und empfahl, was die Farbe anbelangte, in distanziertem Tonfall Beige. Als Edmondsson die Tür ganz zudrücken wollte, steckte er geistesgegenwärtig die Spitze seines Regenschirms in den Spalt und bedankte sich erneut mit einem entschuldigenden Lächeln und wieder anderen Worten für das sehr gute Essen. Nach einem Moment der Stille zog er den Schirm zurück, und während Edmondsson, verdeckt durch die Zwischenwand, ihr Höschen auszog, wurde Kabrowinski deutlicher. Er verlangte einen Vorschuss auf den versprochenen Lohn, wollte etwas Geld, um sich ein Taxi zu nehmen und das Hotel zu bezahlen. Edmondsson ließ sich nicht darauf ein. Sobald es ihr gelungen war, die Tür zu verriegeln, schenkte sie mir ein schnelles Lächeln und schaute mit nacktem Hintern auf den Zehenspitzen stehend durch den Türspion. Ohne sich umzudrehen knöpfte sie ihre Bluse auf. Ich streifte meine Hose hinunter, um ihr zu Gefallen zu sein.
18) Nachdem wir uns aus unserer Umarmung gelöst hatten, blieben wir einen Augenblick auf dem Teppich der Diele sitzen, einer dem anderen gegenüber, nackt.
19) Im Badezimmer war das Licht gelöscht, eine Kerze beschien Edmondsson an einigen Stellen. Auf ihrem Körper glänzten Wassertropfen. Sie lag ausgestreckt in der Badewanne und schlug sachte mit der flachen Hand kleine Klapse auf die Wasseroberfläche. Schweigend schaute ich sie an, wir lächelten uns zu.
20) Ich lag im Bett und versuchte, mein Kapitel zu beenden. Nackt, ein Handtuch um den Kopf geschlungen, schlenderte Edmondsson träge-lasziv im Zimmer umher, ihre Brüste waren nach vorne gestreckt, sie beschrieb mit langsamen, in der Luft kreisenden Armbewegungen unendliche Spiralen vor meinen Augen. Mit dem Finger auf der richtigen Zeile wartete ich darauf, zu meiner Lektüre zurückkehren zu können. Sich um sich selbst drehend las Edmondsson Briefe, ordnete Dokumente. Sie ging vom Schreibtisch weg auf mich zu. Sie setzte sich in einen Sessel und las mit stummen Lippenbewegungen das Gedruckte; dann schlug sie die Beine auseinander, stand wieder auf und erging sich in Kommentaren. Sei doch still, sagte ich von Zeit zu Zeit. Sie hörte auf, kratzte sich am Oberschenkel. Nachdenklich fuhr sie mit einem Finger über die Oberfläche des Schreibtischs, blickte um sich, griff nach einem Stück Papier und zerriss es. Sie blieb unbeweglich stehen. Mit einer zögerlichen Geste nahm sie eine große weiße Karte und legte sich zu mir aufs Bett. Weil ich immer noch nicht aufschaute, legte sie die Karte auf die Seite, die ich gerade las. Ich fragte sie, was sie wolle. Nichts, sie wollte nur wissen, wer mir diese Einladung geschickt hatte. Ich nickte lange und zustimmend, nachdenklich, dann schob ich die Karte mit einem Finger beiseite und wandte mich wieder meiner Lektüre zu. Nach einer kurzen Pause fragte sie mich erneut mit einem unterdrückten Gähnen, wer mir diese Einladung geschickt habe. Nun? Ich zögerte. Seit einigen Tagen hätte ich Zeit gehabt, mir darüber Gedanken zu machen. Mag sein, dass sich das Sekretariat der österreichischen Botschaft schlicht und einfach geirrt hatte, als es die Einladung an mich adressierte. Gesetzt den Fall, dann konnte ich mir allerdings schwer erklären, warum es beim Schreiben meiner Adresse nicht zu noch mehr Fehlern gekommen war. Möglicherweise hatte sich nämliches Sekretariat an andere Stellen gewandt, um an meine Anschrift zu kommen. Möglicherweise. In einer nicht allzu fernen Vergangenheit, in der ich gewissermaßen den Beruf eines Forschers ausübte, hatte ich Umgang mit Historikern und Soziologen gepflegt. Ich war Assistent von T., der die Geschicke eines Seminars leitete, ich unterrichtete Studenten, spielte Tennis. Das alles waren in meinen Augen hervorragende Gründe, um irgendwo meine Anwesenheit zu erwünschen, keiner aber war meines Erachtens letztlich hinreichend, um eine Einladung in eine Botschaft zu rechtfertigen. Was sie darüber denke? Nichts. Edmondsson war eingeschlafen.
21) Einen Arm unter dem Kopfkissen fragte mich Edmondsson gequält, wie spät es sei, denn es hatte geklingelt. Es war früh. Draußen war es noch nicht hell. Die Vorhänge waren halb aufgezogen, aber kein Tageslicht störte die stille Dunkelheit des Zimmers. Das Halbdunkel glättete die Umrisse und umhüllte Wände, Schreibtisch und Sessel. Es klingelte erneut. Faschist, sagte Edmondsson mit völlig verschlafener Stimme. Sie blieb reglos auf dem Bauch liegen wie erschöpft, die Hände in das Laken verkrallt. Als es zum dritten Mal klingelte, gestand sie schließlich, dass sie nicht den Mut aufbringen könne aufzustehen, um zu öffnen. Konziliant schlug ich ihr vor, sie zu begleiten; wenn wir beide hingingen, war das in meinen Augen ein fairer Kompromiss. Edmondsson zog sich bedächtig an. Ich saß wartend auf der Bettkante und wurde ganz nervös wegen des Gelärmes der Klingel, das nicht mehr aufhörte. Als sie soweit war, folgte ich ihr, meinen Schlafanzug zuknöpfend, in den Flur. Kabrowinski tat ganz überrascht, so oft geklingelt zu haben. Er stand auf der Türschwelle, den Parka bis zum Kragen geschlossen, um den Hals trug er einen Schal. Zwischen seinen Beinen lehnte ein durchsichtiger Plastiksack voll glibbriger Körpermasse. Er griff ihn sich mit spitzen Fingern, gab Edmondsson einen Handkuss und trat ein. Kovalskazinski Jean-Marie ist noch nicht da?, fragte er sich umblickend. Er wird nicht lange auf sich warten lassen, versicherte er, er ist sehr pünktlich. Als er merkte, dass Flüssigkeit aus seinem Plastiksack auf Teppich und seine Schuhe tropfte, entschuldigte er sich mit einem Blick und hielt Edmondsson vorsichtig die triefende Tüte hin. Tintenfische, sagte er. Geschenk. Doch, doch, er bestand darauf: Geschenk. Auf demselben Küchenschemel wie am Vorabend sitzend erzählte er, wie er die ganze Nacht in einem Hinterzimmer eines Cafés verbracht und Schach gespielt, dabei sein Gegenüber näher kennengelernt hatte, einen jungen Kerl, der ihn, als die Bar schloss, mit zu den Markthallen nahm, wo sie eine Kiste Tintenfische erstanden hatten, die sie sich im Morgengrauen in der Metro teilten, in der Station am Invalidendom. Ich sah ihn an und dachte an etwas anderes. Edmondsson hörte gleichfalls nicht hin; sie hatte den Hahn aufgedreht und füllte den Wasserkessel. Kabrowinski hatte es sich in der Küche bequem gemacht, breitbeinig saß er da und rieb weiter kräftig seine Hände aneinander. Er hätte sich in den eisigen Markthallen erkältet, sagte er, diese Nacht, zwischen Rinderhälften, die er uns beschrieb. Mit einem feinsinnigen Lächeln, Soutine zitierend, sprach er von rohem Fleisch, von Blut, Fliegen, Hirn, Kutteln, Gedärmen, von aufgehäuften, in Kisten verteilten Schlachtresten; die widerlichen Einzelheiten begleitete er mit sprechenden Gesten, die in ein heftiges Niesen ausarteten. Gesundheit, sagte Edmondsson höflich, sie hatte ihm den Rücken zugedreht und machte Kaffee. Den Ellbogen hoch in der Luft goss sie heißes Wasser in den Filter. Ich bot ihr an weiterzumachen, damit sie Croissants kaufen gehen könnte (und die Farbe, fügte Kabrowinski hinzu).
22) Als Edmondsson gegangen war, wünschte Kabrowinski mit meiner Erlaubnis, sich die Zähne zu putzen, etwas zurechtzumachen und rasch zu waschen. Ich zeigte mich von meiner freundlichsten Seite, lächelnd erklärte ich ihm, dass ich das Badezimmer für etwas anderes benötigte, aber das Spülbecken stünde ganz zu seiner Verfügung, das Spülbecken, in dem seine Calamares schwammen. Man muss sie nur woanders hintun; machen Sie ruhig, sagte ich und ging, um ihm Handtuch und Seife zu holen. Danach schloss ich mich im Badezimmer ein.
23) Ich stand vor dem Spiegel und betrachtete aufmerksam mein Gesicht. Ich hatte meine Uhr abgelegt, sie lag vor mir auf der Ablage des Waschbeckens. Der Sekundenzeiger ruckte über das Ziffernblatt. Unbeweglich. Bei jeder Umdrehung verstrich eine Minute. Das war langsam und angenehm. Ohne den Blick von meinem Gesicht abzuwenden, bestrich ich den Pinsel mit Rasierseife; ich verteilte die Creme auf Wangen und Hals. Langsam strich ich mit der Klinge darüber, kratzte Rechtecke aus dem Schaum, und die Haut erschien wieder im Spiegel, gespannt, leicht gerötet. Als das getan war, band ich meine Uhr wieder um mein Handgelenk.
24) Auf dem Küchentisch neben der vertrauten Tüte mit den Croissants standen drei Töpfe mit Farbe. Einen hatte Kabrowinski bereits mit einem Klappmesser geöffnet und fand es ultramodern, dass man sich für einen orangefarbenen Lack entschieden hatte, um die Küche neu zu streichen. Edmondsson korrigierte ihn, erklärte, das sei kein Orange, sondern ein kräftiges Beige. Sie räumte die Töpfe in eine Ecke und brachte den Kaffee. Ich setzte mich. Während ich mir eine Tasse einschenkte, versuchte mir gegenüber Kabrowinski, mit seinem Klappmesser das Marmeladenglas zu öffnen. Schweigend aßen wir. Edmondsson blätterte in einer Zeitschrift, äußerte Erstaunen, dass die Raffael-Ausstellung nicht verlängert wurde. Kabrowinski hatte die Retrospektive in London gesehen. Er fand ihn nicht schlecht, den Raffael. Er begann uns von seinen anderen Vorlieben zu erzählen, bekannte, dass er van Gogh schätze, Hartung und Pollock bewundere. Mit einer Hand unter dem Kinn, damit sie die Krümel auffangen konnte, verzehrte Edmondsson hastig den Rest ihres Croissants. Sie musste aufbrechen, die Galerie öffnete um zehn Uhr. Kabrowinski goss sich Kaffee nach und ersuchte sie, seine besten Grüße dem außergewöhnlichen Menschen zu übermitteln, der der Chef der Galerie war und entscheidend dafür, dass seine Werke dort jetzt ausgestellt wurden, und nachdenklich einen großen Schluck Kaffee trinkend fügte er hinzu, dass sie den außergewöhnlichen Menschen bitte auch daran erinnern möge, dass er sich jederzeit zur Verfügung halte, um potentielle Käufer zu treffen. Edmondsson ordnete ihre Frisur, knotete den Gürtel ihres Mantels zu. Als sie am Spülbecken vorbeikam meinte sie, dass wir die Tintenfische ausnehmen und die Haut abziehen müssten, wenn wir sie zu Mittag essen wollten. Kabrowinski stimmte dem großzügig zu. Sein Gesicht heiterte sich auf, strahlte. Den Körper weit zurückgelehnt wischte er sich zufrieden den Mund und rief Edmondsson, die bereits in der Diele war, nach, sie solle auch nicht vergessen, im Atelier anzurufen und zu fragen, ob die Lithographien fertig seien.
25) Seitwärts gebeugt, mit weißem Hemd unter grauen Hosenträgern, mühte sich Kabrowinski ab, die Messerspitze in die glitschige Fleischmasse eines der Fangarme des Tintenfisches zu stechen, der platt vor ihm auf einem Holzbrett lag. Ihm gegenüber hielt Kovalskazinski Jean-Marie (in dem eleganten Aufzug, in dem er kurz nach Edmondssons Weggang erschienen war) die Molluske mit seinen feingliedrigen Fingern fest, damit sie nicht wegrutschen konnte. Er hatte seine Uhr ausgezogen und widmete sich der Aufgabe mit sichtbarer Zurückhaltung. Um die Hose ein Geschirrtuch gebunden stand er da, sehr aufrecht, mit steifem Kopf und zusammengepressten Lippen. Gelegentlich empfahl er mit viel Distanz in der Stimme eine Stelle, die ihm zugänglicher erschien für die Klinge. Kabrowinski, über den Messergriff gekrümmt, die Haare fielen ihm in die Augen, hörte nicht hin; mit verzerrtem Gesicht und verkrampften Händen drückte er mit aller Kraft das Taschenmesser in die glitschige Masse. Ich saß mit übereinandergeschlagenen Beinen am anderen Ende der Küche und rauchte eine Zigarette. Ich betrachtete mein Filterstück, aus dem sich ein einzelner Rauchschwaden kringelte, und fragte mich, ob ich zum Empfang der österreichischen Botschaft gehen sollte. Was könnte mich dort erwarten? Der Ablauf des Empfangs, der für kommenden Dienstag geplant war, stand mir in seiner absoluten Unabänderlichkeit vor Augen. Ich würde einen dunklen Anzug und eine schwarze Krawatte tragen. Am Eingang würde ich meine Einladungskarte vorzeigen. Unter Kristalllüstern glänzten nackte Schultern, Perlen, die Seidenrevers der Anzüge. Langsam würde ich von Salon zu Salon schlendern, den Blick ein wenig zu Boden gerichtet. Ich würde nicht sprechen, nicht lächeln. Ich hielte mich sehr gerade, würde mich dem Fenster nähern. Mit einem Finger den Vorhang beiseiteschieben und auf die Straße blicken. Dunkle Nacht. Würde es regnen? Ich würde den Vorhang zurückgleiten lassen und zum Büfett zurückkehren. Hinter einer Gruppe von Eingeladenen bliebe ich stehen. Ein Botschafter würde das Wort ergreifen. Unser Land ist in ausgezeichneter Verfassung, würde er sagen. Diese Tatsache, die sich auf eine ungeschönte Bilanz stützt, wurde gleich zu Beginn des turnusmäßigen Treffens unserer Regierung vorgelegt. Eine solche Feststellung ist umso bemerkenswerter, als sie in einem sehr problematischen internationalen Umfeld getroffen werden kann. Ich würde ihm zuhören. Er wäre beeindruckend, spräche mit selbstgefälliger Stimme. Vor diesem ermutigenden Hintergrund, würde er fortfahren, konnten die diversen Themen, die auf der Tagesordnung standen, erörtert und im weiteren Verlauf der Zusammenkunft eine Vielzahl von Klärungen erreicht werden, so dass es, unter anderem dank fruchtbarer Zusammenarbeit, in allen wesentlichen Punkten zu Ergebnissen kam. Damit stellen sich qualitativ neue Anforderungen, die da heißen: Realismus in den Zielsetzungen, Bündelung aller Kapazitäten, konsequentes Handeln der Verwaltung. Konsequentes Handeln. Über diesen Ausdruck müsste ich lächeln; ich würde versuchen, das Lächeln zu unterdrücken, mich abwenden und mit einer Hand in der Hosentasche durch die Salons schlendern. Dann würde ich aufbrechen, ohne zu vergessen, meinen Schal an der Garderobe abzuholen. Nach meiner Rückkehr würde ich Edmondsson berichten, wie sich die Diplomaten um mich geschart hätten, um mich über Abrüstung sprechen zu hören, wie sich die Frauen in die kleine Gruppe gedrängt hätten, wo ich mit einem Glas in der Hand meinen Vortrag hielt, und wie Eigenschaften selbst, also der österreichische Botschafter, ein ernster, maßvoller und gebildeter Mann, mir gestanden hätte, wie äußerst beeindruckt er von der Klugheit meiner Argumente gewesen sei, wie überrascht von der Scharfsinnigkeit meiner Überlegungen und schließlich, wie sehr er, ganz aufrichtig gesagt, geblendet sei von meiner Schönheit. Spätestens da würde Edmondsson die Augen verdrehen, die Backen aufblasen und lachen. Und weiter? Ich stand von meinem Stuhl auf und machte meine Zigarette unter dem Wasserhahn aus. Im Vorbeigehen warf ich einen schnellen Blick auf den Tintenfisch, von dem erst die obere Hälfte glatt abgezogen war. Kabrowinski war es gelungen, ein längeres Stück der gräulichen Haut abzulösen, doch bei aller Mühe gelang es ihm nicht, diese über den größten Fangarm zu ziehen. Wie wild stach er mit seinem Messer auf die Saugnäpfe ein, schlug Kerben, um die Haut loszubekommen. Sein Schnupfen erleichterte ihm die Aufgabe keinesfalls: Kurz zuvor hatte ein heftiges Niesen ihn gezwungen, innezuhalten und sich die Finger abzuwischen.
26) Einen Fuß vor den anderen setzend, fast im Laufschritt, trabte ich in den Flur, um das Telefon abzuheben. Falsch verbunden, der Anruf galt den Vormietern. Im Zimmer drang ein grauer Tag durch die Tüllvorhänge. Ich legte den Hörer zurück auf die Gabel des alten Apparats, umrundete in Gedanken versunken meinen Schreibtisch und blieb reglos am Fenster stehen. Es regnete. Die Straße war nass, die Bürgersteige glänzten dunkel. Autos parkten ein. Über andere, die bereits standen, ging der Regen nieder. Leute beeilten sich, über die Straße zu kommen, betraten und verließen das Postamt, den modernen Bau mir gegenüber. Auf die Fensterscheibe vor mir legte sich ein leichter Beschlag. Hinter dem zarten Dunstfilm beobachtete ich, wie Passanten Briefe einwarfen. Der Regen verlieh ihnen etwas Konspiratives: Am Briefkasten angekommen, zogen sie einen Umschlag unter dem Mantel hervor und steckten ihn, sehr schnell, damit er nicht nass wurde, in einen Schlitz, richteten danach den Mantelkragen auf, um sich vor dem Regen zu schützen. Ich bewegte mein Gesicht noch näher ans Fenster, und plötzlich, die Augen an die Scheibe gepresst, konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich alle diese Leute da unten in einem Aquarium befanden. Hatten sie vielleicht Angst? Das Aquarium füllte sich langsam.
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