Kitabı oku: «Guten Morgen, Mitternacht», sayfa 2
Guten Morgen, Mitternacht!
Ich komm jetzt nach Haus,
Der Tag ist meiner müde –
Wie könnte ich seiner müde sein?
Das Sonnenlicht war so süß,
Ich wäre gern geblieben –
Doch der Morgen wollte mich nicht – jetzt –
Drum gute Nacht, Tag!
Emily Dickinson
Erster Teil
›Ganz wie in alten Zeiten‹, sagt das Zimmer. ›Ja? Nein?‹
Da sind zwei Betten, ein großes für Madame und gegenüber ein kleineres für Monsieur. Das Waschbecken ist durch einen Vorhang verdeckt. Es ist ein großes Zimmer, und es riecht nur schwach, fast unmerklich, nach billigem Hotel. Die Straße draußen ist schmal, mit Kopfsteinen gepflastert, sie führt steil bergauf und endet in einer Treppe. Sie nennen das impasse.
Fünf Tage bin ich jetzt hier. Ich habe mir ein Lokal fürs Mittagessen ausgesucht, ein anderes fürs Abendessen, ein drittes für den Drink nach dem Abendessen. Ich habe mir mein kleines Leben eingerichtet.
Das Lokal, in dem ich meinen Drink nach dem Essen nehme … Halt, da muss ich vorsichtig sein. Diese Dinge sind sehr wichtig.
Gestern Abend zum Beispiel. Gestern Abend war eine Katastrophe … Die Frau am Nebentisch fing ein Gespräch mit mir an – eine dunkle, magere Frau von etwa vierzig Jahren, sehr gut zurechtgemacht. Sie hatte die Noten eines Liedes bei sich, und sie hatte es leise vor sich hin gesummt, während sie mit den Fingern den Takt klopfte.
»Ein hübsches Lied.«
»Ah, ja, aber es ist ein trauriges Lied. Gloomy Sunday.« Sie lachte leise. »Ein bisschen traurig.«
Sie warte auf ihren Freund, sagte sie mir.
Der Freund kam – ein Amerikaner. Er bestellte mir noch einen Brandy mit Soda, und während ich ihn trank, fing ich an zu weinen.
Ich sagte: »Ich musste an etwas denken.«
Die Dunkle setzte sich sehr gerade hin und drückte die Brust heraus.
»Ich verstehe«, sagte sie, »ich verstehe. Trotzdem … Ich bin manchmal genauso unglücklich wie Sie. Aber das heißt nicht, dass ich es alle Leute merken lasse.«
Da ich nicht aufhören konnte zu weinen, ging ich hinunter in die Damentoilette. Eine Toilette wie so viele, und zum Glück ganz leer. Die Toilettenfrau saß draußen neben dem Telefon und unterhielt sich mit einem Mädchen.
Da stand ich nun und starrte mein Spiegelbild an. Habe ich denn Grund zum Weinen? … Ganz im Gegenteil, gerade wenn ich ganz vernünftig bin wie jetzt, wenn ich ein paar Glas mehr getrunken habe und ganz vernünftig bin, dann wird mir klar, was ich für ein Glück hatte. Gerettet, geborgen, halb ertrunken herausgefischt aus dem tiefen, dunklen Fluss, trockene Kleider, das Haar gewaschen und frisiert. Niemand käme auf den Gedanken, dass ich je darin war. Nur, dass natürlich immer etwas bleibt. Ja, es bleibt immer etwas … Trotzdem, hier bin ich, gesund und trocken, ich habe mein Zimmer zum Verstecken. Was will ich mehr? … Ein wenig bin ich wie ein Automat, aber durchaus bei Verstand – trocken, kalt und bei Verstand. Die dunklen Straßen und die dunklen Flüsse, den Schmerz, den Kampf und das Ertrinken habe ich vergessen. Wohlgemerkt, ich spreche nicht von dem Kampf, den man besteht, wenn man stark ist und ein guter Schwimmer, wenn Freunde hilfsbereit und eifrig am Ufer darauf warten, dich beim ersten Anzeichen von Erschöpfung herauszuziehen. Ich spreche vom Ernstfall. Du springst hinein, ohne dass hilfsbereite und eifrige Freunde in der Nähe sind, und wenn du untergehst, hörst du die anderen laut lachen.
Damentoiletten … Wie wär’s mit einer Abhandlung über Damentoiletten – Toiletten – Damen? … Eine Londoner Toilette in schwarzem und weißem Marmor, fünfzehn Frauen stehen Schlange, jede hält ihren Penny fest in der Hand, und keine bringt den Mut auf auszuscheren und an der streng blickenden Wärterin vorbeizustürzen. Das nenne ich Disziplin … Die Toilette in Florenz und das bildhübsche, phantastisch gekleidete Mädchen, das hereinstürmte, die Toilettenfrau zärtlich küsste und umarmte und sie mit Gebäck aus einer Tüte fütterte. Die Tochter Tänzerin? … Die gemütliche kleine Damentoilette in Paris, wo man bei der Aufwärterin Rauschgift bekommen konnte – Pflaster auf wunde Herzen.
Als ich wieder nach oben kam, waren der Amerikaner und seine Freundin gegangen. »Ich musste an etwas denken«, sagte ich zu dem Kellner, und er sah mich verständnislos an, machte sich nicht einmal die Mühe, über mich zu lachen. Sein Gesicht war reglos, ohne jeden Ausdruck.
Das war gestern Abend.
Ich liege wach, denke an gestern und an das Geld, das Sidonie mir geliehen hat, und wie sie sagte: »Ich kann’s nicht ertragen, dich so zu sehen.« Mit halb geschlossenen Augen und jenem Lächeln, das bedeutet: Sie fängt an, alt auszusehen. Sie trinkt.
»Wir beide kennen uns schon so lange, Sasha«, sagte sie. »Wir brauchen uns doch nichts vorzumachen.«
Ich war gerade heimgekommen von meinem kleinen Verdauungsspaziergang rund um den Mecklenburgh Square und durch die Gray’s Inn Road. Ich hatte nur dies angeschaut, ich hatte nur jenes angeschaut, ich hatte die Leute auf der Straße angeschaut und ein Schaufenster voller künstlicher Gliedmaßen. Nun kam ich heim zu jemandem, der sagte: »Ich kann’s nicht ertragen, dich so zu sehen.«
»Wie denn?«, sagte ich.
»Ich glaube, du brauchst eine Veränderung. Warum gehst du nicht wieder mal ein Weilchen nach Paris? … Du könntest dir ein paar neue Kleider kaufen – die brauchst du wirklich … Ich werde dir das Geld borgen«, sagte sie. »Nächste Woche bin ich dort, ich könnte dir ein Zimmer besorgen, wenn’s dir recht ist.« Et cetera, et cetera …
Ich hatte diese Frau seit Monaten nicht gesehen, und nun fiel sie plötzlich über mich her … Hier bin ich also. Wenn man kalt und sehr vernünftig geworden ist, wird man auch sehr willenlos. (Warum sich den Kopf zerbrechen, warum?)
Ich kann nicht schlafen. Wälze mich hin und her …
War es 1923 oder 1924, als wir hier um die Ecke in der Rue Victor Cousin wohnten und Enno mir die Kosakenmütze und den Mantel aus falschem Astrachan kaufte? Damals fing ich an, mich Sasha zu nennen. Ich dachte, es brächte mir vielleicht Glück, wenn ich meinen Namen änderte. Hat es mir Glück gebracht, frage ich mich – dass ich mich Sasha nenne?
War es 1926 oder 1927?
Ich mache das Licht an. Die Flasche Evian auf dem Nachttisch, das Röhrchen Luminal, die zwei Bücher, die Uhr, die auf dem Sims tickt, die roten Vorhänge …
Ich sehe Sidonie vor mir, wie sie mit Bedacht gerade ein solches Hotel aussucht. Sie stellt sich vor, das sei meine Atmosphäre. Lieber Gott, wenn man sich’s recht überlegt, ist es eine Beleidigung. Wieder dunkle Zimmer, wieder rote Vorhänge …
Aber man darf nicht alles auf die gleiche Stufe stellen. Das sagt sie doch immer. Und man darf auch nicht alle Menschen auf die gleiche Stufe stellen. Natürlich nicht. Und das hier ist eben meine Stufe … Quatrième à gauche, und passen Sie auf, dass Sie nicht über das Loch im Teppich stolpern. Das bin ich.
Es sind ein paar schwarze Flecke auf der Wand. Ich starre sie an und bin überzeugt, dass sie sich bewegen. Nun, ich sollte doch inzwischen über ein paar Wanzen hinwegsehen können. ›Il ne faut pas mettre tout sur le même plan …‹
Ich stehe auf und sehe nach. Nur Schmutzspritzer. Es ist ja auch gar nicht die Jahreszeit für Wanzen.
Ich nehme noch etwas Luminal, mache das Licht aus und schlafe sofort ein.
Ich bin im Durchgang einer U-Bahn-Station in London; vor mir sind viele Leute, hinter mir sind viele Leute. Überall hängen Plakate, auf denen in roten Buchstaben gedruckt steht: Zur Ausstellung – geradeaus. Zur Ausstellung – geradeaus. Aber ich suche nicht den Weg zur Ausstellung – ich suche den Weg hinaus. Ich sehe Gänge nach rechts und Gänge nach links, aber nirgends steht ›Ausgang‹. Überall zeigen die Finger und verkünden die Plakate: Zur Ausstellung – geradeaus … Ich berühre den Mann, der vor mir geht, an der Schulter, ich sage: ›Ich suche den Ausgang.‹ Aber er deutet auf die Plakate, und seine Hand ist aus Stahl. Ich gehe mit gesenktem Kopf weiter, sehr beschämt, und denke: ›Das sieht mir wieder ähnlich – immer will ich anders sein als andere Leute.‹ Der Stahlfinger zeigt auf einen langen steinernen Gang. Geradeaus – Geradeaus – Geradeaus – Zur Ausstellung …
Jetzt redet ein kleiner bärtiger Mann mit Stupsnase in einem langen weißen Nachthemd ernsthaft auf mich ein. ›Ich bin dein Vater‹, sagt er. ›Denk daran, dass ich dein Vater bin.‹ Aber aus einer Wunde in seiner Stirn fließt Blut. ›Mord‹, schreit er, ›Mord, Mord.‹ Hilflos sehe ich zu, wie das Blut fließt. Schließlich befreit sich meine Stimme aus meiner Brust. Auch ich schreie: ›Mord, Mord, Hilfe, Hilfe‹, und die Schreie erfüllen das Zimmer. Ich wache auf, und draußen auf der Straße singt ein Mann den Walzer aus Les Saltimbanques. »C’est l’amour, qui flotte dans l’air à la ronde«, singt er.
Ich glaube, es ist schön draußen, aber es ist so schummrig in diesem Zimmer, dass man es nicht genau wissen kann. Draußen auf dem Flur sieht man überhaupt nichts, wenn das elektrische Licht nicht brennt. Es ist ein geräumiger Flur, der von morgens bis abends voller Besen und Eimer, Haufen schmutziger Bettwäsche und so weiter ist – Strandgut der pompösen unteren Stockwerke.
Der Mann, der das Zimmer neben mir hat, spreizt sich wie üblich in seinem weißen Morgenrock. Lungert da herum. Er ist wie der Geist dieses Flurs. Immer laufe ich ihm in die Arme.
Er ist dürr wie ein Gerippe. Er hat ein Vogelgesicht und dunkle, tief liegende Augen mit einem eigentümlichen Ausdruck – hündisch, zudringlich, durchtrieben. Warum muss er mich so ansehen? … Immer hat er einen Morgenrock an – einen blauen mit schwarzen Punkten oder den berühmten weißen. In Straßenkleidern kann ich ihn mir gar nicht vorstellen.
»Bonjour.«
»Bonjour«, murmele ich. Ich mag ihn nicht, diesen verdammten Mann …
Unten angekommen, sagt mir der Patron, dass er meinen Pass sehen möchte. Ich habe die Passnummer nicht auf die fiche geschrieben, sagt er.
Der Patron gleicht aufs Haar einem von den Angestellten, mit denen ich in der Pfandleihe in der Rue de Rennes zu tun hatte – dem, der so mürrisch war, wenn er einem die Sachen zum Schätzen abnahm. Ein Fisch, der in seinem kleinen Behälter den Tyrannen spielt und die Welt draußen mit glasigen, verständnislosen Augen anstarrt.
Was stimmt denn nicht mit der fiche? Ich habe sie doch richtig ausgefüllt, oder nicht? Name soundso, Staatsangehörigkeit soundso … Staatsangehörigkeit – das hat ihm Kopfzerbrechen bereitet. Ich hätte schreiben sollen: Staatsangehörigkeit durch Heirat.
Ich sage ihm, dass ich ihm den Pass am Nachmittag gebe, und er wirft einen unfreundlichen, missbilligenden Blick auf meinen Hut. Das nehme ich ihm nicht übel. Er schreit ›Anglaise‹, mein Hut. Und mein Kleid macht mich zur Null. Und zu alledem noch dieser verdammte alte Pelzmantel – idiotischer, unpassender geht es wirklich nicht.
Immerhin, ich habe jetzt ein bisschen Geld. Vielleicht lässt sich da was machen. Zwölf Uhr an einem schönen Herbsttag und keine Sorgen. Etwas Geld und keine Sorgen.
Doch Vorsicht, Vorsicht! Lass dich nicht hinreißen. Du weißt, was geschieht, wenn du dich hinreißen lässt und ins Schwärmen kommst, nicht wahr? … Ja … Und dann, du weißt doch, dass du dann zusammenfällst wie ein angestochener Ballon, nicht wahr? Weil du kein Stehvermögen hast … Ja, ich weiß es genau … Also, keine Schwärmerei. Dies sollen vierzehn ruhige, vernünftige Tage werden. Nicht zu viel trinken, bestimmte Cafés, bestimmte Straßen, bestimmte Stellen meiden, dann wird alles großartig laufen.
Hauptsache, man hat ein Programm und überlässt nichts dem Zufall – keine Lücken. Nicht ziellos herumziehen, bis plötzlich in deinem Kopf kitschige Grammophonplatten zu laufen anfangen, kein ›Hier ist dies passiert, hier ist das passiert‹. Vor allem keine Tränen in der Öffentlichkeit, überhaupt keine Tränen, wenn irgend möglich.
Während mir all das durch den Kopf geht, komme ich an dem richtigen Lokal für meinen Drink nach dem Essen vorbei. Ein Café an der Avenue de l’Observatoire, das immer leer wirkt. Ich erinnere mich, dass das auch früher schon so war.
Ich werde hineingehen und einen Pernod trinken. Nur einen, nur einmal, als Glücksbringer … Auf das Wunder, werde ich sagen, auf das Wunder …
Ein Mann kommt herein, der wie ein Araber aussieht, begleitet von einem melancholischen Mädchen mit Brille.
»Das Leben ist schwer«, sagt der Araber.
»Ja, das Leben ist nicht leicht«, sagt das Mädchen.
Lange Pause.
»Man braucht viel Mut zum Leben«, sagt der Araber.
»Ach, da haben Sie recht«, sagt das Mädchen, schüttelt den Kopf und schnalzt mit der Zunge.
Sie trinken ihren Wermut aus und gehen wieder, und ich sitze allein in einem großen, sauberen, leeren Raum und betrachte mich im langen Spiegel gegenüber, blättere eine alte Nummer der Illustration durch und denke, dass ich keine Sorgen habe, außer dass morgen Sonntag ist – überall ein schwieriger Tag. Sombre dimanche …
Alles planen. Essen. Kino. Wieder essen. Ein einziger Drink. Den ganzen Weg zu Fuß zurück ins Hotel. Bett. Luminal. Schlaf. Nur Schlaf – keine Träume.
Am nächsten Nachmittag um vier Uhr sitze ich planmäßig in einem Kino an den Champs-Élysées. Und lache von Herzen an den richtigen Stellen.
Es ist ein sehr guter Film, und ich sehe ihn mir zweimal an. Als ich aus dem Kino komme, ist es dunkel, und die Laternen brennen. Ich bin froh darüber. Wenn man allein herumlaufen muss, ist es leichter, wenn die Laternen brennen.
Paris sieht heute Abend sehr hübsch aus … Du siehst sehr hübsch aus heute Abend, meine Schöne, mein Liebling, und oh, wie gemein kannst du doch sein! Aber umgebracht hast du mich schließlich doch nicht, nicht wahr? Und sie konnten mich auch nicht umbringen …
Ganz in der Nähe haben wir mehrere Stunden gewartet, um Anatole France’ Leichenzug zu sehen, weil wir – wie Enno sagte – einen so bedeutenden Literaten nicht dahingehen lassen durften, ohne ihm den Tribut eines letzten Grußes zu entrichten.
Da standen wir, schwatzten munter drauflos und entrichteten Anatole France den Tribut eines letzten Grußes, und die meisten Leute, die in der Prozession vorüberzogen, schwatzten genauso munter drauflos und sahen aus, als träfen sie Verabredungen zum Mittagessen und zum Abendessen, und alle entrichteten wir Anatole France den Tribut eines letzten Grußes.
Ich gehe weiter, erinnere mich an dies, erinnere mich an das, während ich auf der Suche nach einem billigen Speiselokal bin – nicht so leicht hier in der Gegend. Die Grammophonplatte dröhnt in meinem Kopf: ›Hier ist dies passiert, hier ist das passiert …‹
Damals arbeitete ich in einem Geschäft gleich um die Ecke.
Ich sehe mich jeden Morgen um halb neun aus der Metrostation am Rond-Point kommen, die Avenue Marigny entlanggehen, erst links und dann rechts abbiegen, Hut und Mantel in der Garderobe ablegen, durch einen Korridor gehen und meine Arbeit beginnen mit den Worten: ›Guten Morgen, Madame. Haben Madame eine vendeuse?‹
*
… Es war ein großer weißgoldener Raum mit dunkel glänzendem Fußboden. Falsche Louis-Quinze-Stühle, farbige spanische Wände, drei oder vier übergroße Puppen mit wunderbaren Kleidern und reizenden, boshaften ovalen Gesichtern.
Jedes Mal, wenn eine Kundin kam, drückte der Portier eine Klingel, die genau über meinem Kopf läutete. Ich ging dann auf die drei Stufen zu, die zur Eingangstür hinabführten, und blieb dort mit einem kleinen diskreten Lächeln stehen. Dann sagte ich »Guten Tag, Madame … Gewiss, Madame«, oder »Guten Tag, Madame. Mademoiselle Mercédès hat Ihre Nachricht erhalten, alles liegt bereit«, oder »Gewiss, Madame … Haben Madame eine vendeuse?«
Dann führte ich die Kundin ins Obergeschoss, wo sich der eigentliche Geschäftsbetrieb abspielte, und verlangte Mademoiselle Mercédès oder Mademoiselle Henriette oder Madame Perron, je nachdem. Wenn ich ein Gesicht vergessen hatte oder eine neue Kundin einer Verkäuferin zuwies, die nicht an der Reihe war, gab es Krach.
Das Geschäft hatte keinen Lift. Deshalb war ich dort. Es war eines jener Modeateliers, die sich – jedenfalls unter Franzosen – ein gewisses Ansehen bewahrt hatten, doch wurden die Kunden immer weniger.
Ich hatte die Stelle seit drei Wochen. Es war langweilig. Man durfte nicht lesen: Das mochten sie nicht. Ich fühlte mich immer wie betäubt, wenn ich dasaß, diese verdammten Puppen betrachtete und mir überlegte, was für ein erfolgreiches Leben sie hätten führen können, wenn sie Frauen gewesen wären. Atlashaut, Seidenhaar, Samtaugen, ein Herz aus Sägemehl – alles perfekt. Ich beneidete den Portier, weil er doch wenigstens die Leute auf der Straße beobachten konnte. Andererseits musste er die ganze Zeit stehen. Ja, vielleicht war ich doch besser dran als der Portier.
Es roch immer sehr stark nach Parfum. Ich bildete mir ein, ich könne die verschiedenen Parfums unterscheiden. Heute ist es L’Heure Bleu; gestern war’s Nuits de Chine … Es roch auch nach dem Wachs auf dem Fußboden, nach den alten Möbeln, nach den Kleidern der Puppen.
Das Geschäft hatte eine Filiale in London, und der Chef der Londoner Filiale hatte den ganzen Laden aufgekauft. Alle drei Monate etwa kam er in die französische Niederlassung, und jetzt hieß es, sein Besuch sei dieser Tage fällig. Wie ist er denn? Oh, er ist ein typischer Engländer. Sehr nett, sehr, sehr chic, wirklich ein typischer Engländer, le businessman … Ich dachte: ›O Gott, ich weiß, was diese Leute meinen, wenn sie sagen ,ein typischer Engländer‘.‹
… Er ist da. Melone, würdevolle Hose, seine Miene sagt ›Oh my God‹, seine Augen sagen ›Haha‹ – ich weiß sofort Bescheid. Er kommt die Stufen herauf. Salvatini, der sehr besorgt aussieht, folgt ihm. (Salvatini ist der Chef unseres Geschäfts.) Mach, dass er mich nicht bemerkt, mach, dass er mich nicht ansieht. Kannst du nicht irgendwas tun, dass dich niemand anschaut, dass dich niemand sieht? Natürlich, du musst deinen Kopf ganz leer machen, ganz unbeteiligt, dann wird auch dein Gesicht ganz leer, ganz unbeteiligt – du bist unsichtbar.
Zwecklos. Er kommt auf meinen Tisch zu.
»Guten Morgen, guten Morgen, Miss …«
»Mrs Jansen«, sagt Salvatini.
Aufstehen oder sitzen bleiben? Aufstehen, natürlich. Ich stehe auf.
»Guten Morgen.«
Ich lächle ihn an.
»Und wie viele Sprachen sprechen Sie?«
Er scheint ganz angetan zu sein. Er lächelt auch. Zugewandt, das ist das richtige Wort. Wahrscheinlich denke ich deshalb, er macht Spaß.
»Eine«, sage ich und lächle immer noch.
Was ist jetzt passiert? … Oh, natürlich …
»Ich verstehe Französisch recht gut.«
Er spielt an seinen Rockknöpfen herum.
»Man hat mir gesagt, die Empfangsdame spricht fließend Französisch und Deutsch«, sagt er zu Salvatini.
»Sie spricht Französisch«, sagt Salvatini. »Assez bien, assez bien.«
Mr Blank sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.
»Manchmal«, sage ich idiotischerweise.
Natürlich, manchmal, wenn ich ein bisschen getrunken habe und mit jemandem spreche, den ich mag und den ich kenne, spreche ich wirklich fließend Französisch. Andere Male spreche ich es nur gerade soso. Im Übrigen, mein lieber Herr, sind Sie vollkommen im Irrtum. Ich bin hier, weil ich eine Freundin habe, die Herrn Salvatinis Geliebte kennt, und Herrn Salvatinis Geliebte hat mit Herrn Salvatini über mich gesprochen, und an dem Tag, an dem er mich kennenlernte, sah ich ganz passabel aus, und er hatte gute Laune. Hat überhaupt nichts mit fließend Deutsch und Französisch zu tun, lieber Herr, nicht das Geringste. Ich bin hier, weil ich hier bin, weil ich hier bin. Und um Ihnen zu beweisen, dass ich Französisch spreche, werde ich Ihnen jetzt ein kleines Lied vorsingen: ›Si vous saviez, si vous saviez comment ça se fait.‹
Um Gottes willen, denke ich, reiß dich zusammen.
Ich sage: »Ich spreche ziemlich gut Französisch. Ich lebe schon acht Jahre in Frankreich.«
Nein, jetzt ist er misstrauisch. Kurze und scharfe Fragen.
»Wie lange arbeiten Sie schon hier?«
»Ungefähr drei Wochen.«
»Was war Ihre letzte Stelle?«
»Ich habe in der Maison Chose an der Place Vendôme gearbeitet.«
»Ach, tatsächlich, Sie haben für Chose gearbeitet, ja? Sie haben für Chose gearbeitet.« Jetzt liegt mehr Respekt in seiner Stimme.
»Sind Sie dort Empfangsdame gewesen?«
»Nein«, sage ich. »Ich habe als Mannequin gearbeitet.«
»Sie haben als Mannequin gearbeitet?« Seine Augen wandern auf und ab, auf und ab.
»Wie lange ist das her?«, sagt er.
Wie lange ist das her? In meinem Kopf ist jetzt alles ausgelöscht – Jahre, Tage, Stunden, alles ist ausgelöscht in meinem Kopf. Wie lange ist das her? Ich weiß es nicht.
»Vier, fast fünf Jahre.«
»Wie lange waren Sie dort?«
»Ungefähr drei Monate«, sage ich.
Er scheint auf weitere Auskünfte zu warten.
»Und dann bin ich gegangen«, sage ich mit hoher Stimme. (Heute habe ich eindeutig einen guten Tag. Das ist so ein Tag, an dem ich immer das Richtige sage.)
»Ach, Sie sind gegangen?«
»Ja, ich bin gegangen.«
Ja, mein lieber Herr, ich bin gegangen. Mir wurde langweilig, und ich habe diese Leute sitzen lassen. Aber das war vor vier, fast fünf Jahren, und in fünf Jahren kann viel passieren. Ich habe nicht die leiseste Absicht, Sie sitzen zu lassen, das kann ich Ihnen versichern. Und ich hoffe, auch Sie haben nicht die leiseste Absicht, mich … Und allein der Gedanke, Sie könnten die leiseste Absicht haben, mich … lässt meine Hände kalt werden und mein Herz laut klopfen.
»Haben Sie seither noch irgendwo anders gearbeitet?«
»Hm, nein. Nein, nirgends.«
»Aha«, sagt er. Er schwankt vor und zurück wie ein hoher Baum, der gleich auf mich fallen wird. Dann gibt er einen Laut von sich, der wie ›Ha‹ klingt, und begibt sich in ein Hinterzimmer. Salvatini hinterher.
Nun, das ist schlecht gegangen, das lässt sich nicht verheimlichen. Es ist so schlecht gegangen wie nur möglich. Es hätte gar nicht schlechter gehen können. Aber es ist vorbei. Jetzt wird er mich nicht mehr beachten, er wird mich vergessen.
Eine alte Engländerin und ihre Tochter betreten den Laden. Ich führe sie nach oben und mache mich dann an der Auslage in den Schaukästen hinten im Raum zu schaffen. Nach etwa einer Stunde kommen sie wieder herunter. Sie treten an die Schaukästen heran, die alte Dame voller Eifer, die Tochter nur sehr widerwillig.
»Können Sie mir ein paar von diesen hübschen Sachen zeigen?«, sagt die alte Dame. »Ich möchte etwas für die Haare, am Abend.«
Sie nimmt den Hut ab, und sie ist oben auf dem Kopf vollkommen kahl – ein weißer, kahler Schädel mit einem Kranz grauer Haare. Die Tochter bleibt im Hintergrund. Sie schämt sich schon nicht mehr, sie distanziert sich grollend.
»Komm, Mutter, gehen wir. Sei nicht albern, Mutter. Hier findest du nichts.«
Zwischen den beiden Fenstern ist ein hoher Spiegel. Die alte Dame, ganz mit sich zufrieden, probiert alles Mögliche auf ihrem kahlen Schädel aus.
Die Augen der Tochter begegnen meinen im Spiegel. Verdammte alte Hexe, ist sie nicht komisch? … Ich antworte mit einem eisigen Blick.
Die alte Dame kümmert das nicht im Geringsten. Sie deutet auf verschiedene Dinge und sagt: »Zeigen Sie mir das – zeigen Sie mir jenes.« Eine rüstige alte Dame mit fröhlichem, forschem Blick.
Sie probiert ein Stirnband, einen spanischen Kamm, eine Blume. Eine grüne Feder wedelt über dem kahlen Kopf. Sie ist gelassen und völlig unbefangen. Mit dem letzten Kopfschmuck, den sie aufprobierte, sah sie aus wie ein römischer Kaiser.
»Mutter, bitte komm. Lass uns gehen.«
Die alte Dame lässt sich nicht im Geringsten beirren, und als sie geht, sind beide Kästen ausgeräumt. Dann sagt sie: »Also – es tut mir sehr leid. Es tut mir leid, dass ich Ihnen so viel Mühe gemacht habe.«
»Das macht durchaus nichts, Madame.«
Während sie zur Tür gehen, kann sich die Tochter nicht mehr beherrschen. Ein lautes, bösartiges Zischen: »Na, du hast dich ja wieder mal gründlich lächerlich gemacht. Alle im Laden haben gekichert. Wenn du das noch mal vorhast, kannst du’s allein machen. Ich bin raus.«
Die alte Dame antwortet nicht. Ich kann ihr Gesicht in einem Spiegel sehen, ihre Augen blicken noch unverzagt, aber um Mund und Kinn bricht etwas zusammen … Ach, warum kauft man ihr keine Perücke, ein paar ordentliche Kleider, so viel Champagner, wie sie trinken kann, alles, was sie gern isst und eigentlich nicht essen sollte, einen Gigolo, wenn sie einen haben will? Ein letztes Auflodern, und spätestens in einem halben Jahr ist sie tot. Darauf wartet ihr doch alle, nicht wahr? Aber nein, für euch muss es der langsame Tod sein, das unblutige Töten, das euer Gewissen rein lässt …
Ich lege die Sachen wieder in die Kästen, langsam, vorsichtig, genau wie sie vorher gelegen haben.
Damit ist meine Zeit bis zum Mittagessen ausgefüllt. Ich gehe hinauf. Ein langer Tisch, Mannequins und Verkäuferinnen bunt durcheinander.
Es gibt natürlich auch ein englisches Mannequin. »Kind, kind and gentle is she« – das ist auch wieder so eine verdammte Lüge. Aber sie ist sehr schön – »belle comme une fleur de verre«. Und die andere, die kleine Französin, die ich so gernhabe, sie ist »belle comme une fleur de terre« …
Noch immer komme ich mit dem Essen hier im Geschäft nicht zurande. Ich habe in der letzten Zeit von Brot und Kaffee gelebt, und mein Magen rebelliert jedes Mal. Vorspeise, Hauptgericht, Gemüse, Nachspeise. Kaffee und ein Viertel Wein gehen extra, aber der Aufschlag ist so gering, dass keiner verzichtet.
Niemand spricht über den englischen Manager – ein wachsames Schweigen.
Ich gehe die Treppe hinunter, benommen und glücklich. Allmählich schwindet das Glücksgefühl, die Benommenheit bleibt.
Salvatini steckt den Kopf durch die Tür hinter mir und sagt: »Mr Blank möchte Sie sprechen.«
Ich bilde mir sofort ein, dass er feststellen will, ob ich Deutsch spreche. Das ganze bisschen Deutsch, das ich kann, entschwindet aus meinem Kopf. Lieber Gott, hilf mir! Ja, ja, nein, nein, was kostet es, Wien ist eine sehr schöne Stadt, Budapest ist auch sehr schön, ist schön, mein Herr, ich habe meine Blumen vergessen, aus meinen großen Schmerzen, homo homini lupus, aus meinen großen Schmerzen mach ich die kleinen Lieder, homo homini lupus (das jedenfalls sitzt), do re mi fa so la si do …
Er sitzt am Schreibtisch und schreibt einen Brief. Ich stehe da. Bestimmt merkt er jetzt, wie abgetragen meine Schuhe sind.
Salvatini blickt auf, lächelt mir flüchtig zu und sieht dann wieder weg.
Komm, komm, steh gerade, halt den Kopf hoch, lächle … Nein, lächle nicht. Wenn du lächelst, denkt er, du willst dich einschmeicheln. Ich kenne diesen Typ. Er wird ganz sicher immer gleich das Schlimmste denken. Lächle also nicht, aber gib dich munter, unbefangen, aufmerksam … Lauf zur Tür hinaus und geh fort … Du dummes Ding, steh gerade, gib dich munter, unbefangen, aufmerksam … Nein, schau doch, er macht das ja mit Absicht … Natürlich macht er es nicht mit Absicht. Er schreibt einfach einen Brief … Doch, doch. Es ist Absicht. Er weiß es, ich fühle es. Ich stehe nun schon fünf Minuten hier. Das ist unmöglich.
»Sie wollten mich sprechen, Mr Blank?«
Er blickt auf und sagt schroff: »Ja, ja, was ist los? Was wollen Sie? Warten Sie einen Augenblick, warten Sie einen Augenblick.«
Ich weiß sofort Bescheid. Er will gar nicht, dass ich Deutsch spreche, er will mich rausschmeißen. Also schön, mach schnell, bring’s hinter dich …
Nichts. Ich stehe einfach da. Jetzt gerate ich in Panik. Meine Hände zittern, mein Herz pocht, meine Hände sind kalt. Weg, nur weg, flieh vor dieser grässlichen Stimme, diesen abscheulichen Augen …
Er beendet seinen Brief, schreibt eine oder zwei Zeilen auf ein anderes Blatt Papier und steckt es in einen Umschlag.
»Würden Sie das bitte zur Kaise bringen?«
Zur Kaise bringen … Ich sehe Salvatini an. Er lächelt aufmunternd.
Mr Blank schnarrt: »Machen Sie so schnell Sie können, Mrs … äh … bitte. Vielen Dank.«
Ich drehe mich um und gehe blindlings durch eine Tür. Es ist eine Toilette. Spöttisch beobachten sie mich, während ich zur richtigen Tür hinausgehe.
Ich laufe ein kleines Stück den Korridor entlang, dann lehne ich mich mit dem Rücken gegen die Wand.
Dies ist ein sehr altes Haus – zwei alte Häuser. Der erste Stock, das eigentliche Geschäft, ist modernisiert worden. Die Ausstellungsräume, die Ankleidekabinen, das Zimmer für die Mannequins … Im Erdgeschoss sind die Arbeitsräume und die Büros und Dutzende von kleinen Zimmern, Gänge, die nirgendwo hinführen, Treppen nach oben und Treppen nach unten.
Kaise, Kaise … Es sagt mir überhaupt nichts. Er hat mich derart durcheinandergebracht, dass ich keine Idee habe, was es bedeuten mag.
Jetzt nur keine Panik. Auf dem Umschlag muss doch ein Name stehen … Monsieur L. Grousset.
Irgendwo in diesem Haus gibt es einen Monsieur L. Grousset. Ich muss ihm diesen Brief bringen. Ganz leicht. Irgendjemand wird mir sagen, wo sein Zimmer ist. Grousset, Grousset …
Ich wende mich nach rechts, gehe einen anderen Korridor entlang, eine Treppe hinunter. Die Arbeitsräume … Nein, hier kann ich nicht fragen. Die Mädchen werden mich alle anstarren. Wie ein Idiot werde ich dastehen.
Ich probiere es mit einem anderen Korridor. Er endet vor einer Toilette. Wie viele Toiletten es in diesem Haus gibt, c’est inouï … Ich gehe um die Ecke, bin wieder im ersten Korridor und stoße mit einem fremden jungen Mann zusammen. Er bedenkt mich mit einem höchst unfreundlichen Blick.
»Könnten Sie mir bitte sagen, wo ich Monsieur Grousset finde?«
»Connais pas«, sagt der junge Mann.
Danach wird es ein Albtraum. Ich gehe Treppen hinauf, an Türen vorbei, Korridore entlang – alle verschieden, alle vollkommen gleich. Ich muss etwas sehr Dringendes erledigen. Aber ich begegne keiner Menschenseele, und alle Türen sind zu.
So kann das nicht weitergehen. Soll ich das verdammte Ding wegwerfen und die ganze Geschichte vergessen? ›Du musst folgendermaßen vorgehen‹, sage ich mir. ›Du musst zu ihm gehen und ganz ruhig sagen: ,Es tut mir leid, aber ich habe nicht verstanden, wo ich diesen Brief hinbringen sollte‘.‹
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