Kitabı oku: «Lochhansi oder Wie man böse Buben macht», sayfa 2

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Mutter Beffa war selten zu sehen, sie arbeitete in der «Hüetlifabrik» im Kantonshauptort, wo von den Frauen Strohhüte hergestellt wurden. Der Vater zog als Maurer von Baustelle zu Baustelle, auch ihn bemerkte man nur am Wochenende, wenn er bei schönem Wetter mit seiner Familie vor dem Haus unter dem Kirschbaum sass und ihre Gesänge auf seiner Okarina begleitete.

Gesungen wurde viel dort drüben, meistens war dann auch Besuch da. Ich fand die Lieder wunderschön, so schön wurde nicht einmal in der Kirche gesungen. Mein Vater, der etwas Italienisch sprach, sagte dann, es seien Sozialisten- oder Kommunistenlieder, also mit Kirche hätten die auf alle Fälle nichts zu tun. Meine Mutter spuckte dann hinter sich aus und machte das Zeichen, das vor dem bösen Blick beschützen sollte. Oft hörte ich sie den Ätti schelten, weil er das Haus den Beffas vermietet hatte. Der aber pfiff durch seine Zahnlücken und hatte auf diesem Ohr überhaupt kein Musikgehör. Zu mir sagte er dann, das sei doch alles dummes Weibergeschwätz, was da über die Nonna Beffa umging. Dabei spuckte er seinen Tabakpriem zielgenau in den Katzenteller, eine Angewohnheit, die meine Mutter schrecklich ärgerte.

Zum Ätti, dem Grossvater, hatte ich einen ganz besonderen Draht. Zwischen uns entwickelte sich im Lauf der Zeit eine Art Verschwörung, eine seltsame Zutraulichkeit, wie ich sie bis anhin nicht gekannt hatte, war ich doch den meisten Menschen gegenüber recht misstrauisch und zurückhaltend. Beim Ätti war das anders. Ihn hatte das Leben nicht sauer gemacht, er gehörte nicht zu denen, die sich mit Fluchen, Chnorzen und Bitterkeit bis zum Grabesrand vorarbeiten, um dann wütend den letzten Schnauf zu tun. Er lebte in einer Wolke kindlicher Sorglosigkeit und lässig zelebrierter Gleichgültigkeit.

So konnte nur er, als Einziger im ganzen Haus, es sich erlauben, meiner Mutter Paroli zu bieten, wofür ich ihn bewunderte und ihm eine Macht zuschrieb, die er bestimmt nicht besass. Doch vor mir konnte er seine Position glaubhaft inszenieren, wofür er auch jede Gelegenheit nutzte. Dabei konnte er ein richtiger alter Stinker sein, das lag jeweils an seiner Laune oder seinem Wohlbefinden und nicht zuletzt am Alkoholpegel, er sprach nur allzugern dem Geist in gebrannten Wassern zu.

Er wohnte noch immer in seinem eigenen Haus, dem «Vaterhaus», das vertikal zweigeteilt war. Es war dies ein gewandetes Langhaus, das auf dicken Mauern stand, mit Lauben, Vordächern und Kellern, sicher schon fünfhundert Jahre alt, die Schindeln schwarz von Sonne, Wind und Regen.

Dort bewohnte er das hintere Stübli, verfügte auch über eine eigene Küche und eine Schlafkammer im oberen Stock. Doch hatte sich im Lauf der Zeit die Gewohnheit ergeben, dass er mit uns zu Tisch sass, auch seine Wäsche wurde von meiner Mutter besorgt wie das Reinemachen in seiner Behausung.

Unweit vom Vaterhaus stand sein Bienenhaus, wo er der Imkerei oblag, zwar nicht so, wie es sich gehörte, befand sein Sohn, mein Vater, der selbst auch Bienen hielt. Er befand, der Alte halte seine Völker schlecht und recht gerade so am Leben, dass sie nicht verhungern konnten, er habe keine Ordnung in seiner Imkerei und ihm fehle jegliches System. Wobei der Umstand, dass der Alte im Allgemeinen einen besseren Ertrag erwirtschaftete als der Junge mit all seiner Systematik, stets Anlass zu heftigen Diskussionen gab, da einfach nicht sein konnte, was nicht sein durfte.

Hinter dem Vaterhaus stand auch noch die alte Scheune. Ein bisschen abseits in der Wiese, und vom Haus nur durch eine schmale, steinbepflasterte Gasse getrennt, lag die Waschhütte mit dem Brunnen im Schatten einer mächtigen alten Linde. In dieser Waschhütte ging der Grossvater mit grossem Können und Geschick seiner liebsten und ertragreichsten Tätigkeit nach, er brannte «Bätziwasser». Das tat er «schwarz», das heisst klandestin, weshalb dieser Vorgang stets mit viel Heimlichtuerei verbunden war. Doch gab es auch von Seiten meiner Eltern keine Kritik, profitierten doch auch sie von den verbotenen Früchten und hatten dabei auch noch nichts zu befürchten, da der Alte alles Risiko auf sich nahm. Diese Brennerei im Waschhaus hatte immer bei schlechtem Wetter zu geschehen, wenn der Wind vom Brünig her etwaigen Schnapsdunst schnurstracks über den Kaiserstuhl hinab in die Tiefe fegte.

Eine andere Schlechtwettertätigkeit des Ätti bestand im Reparieren von allerlei Holzgeschirr, von Rechen und Heugabeln, dem Anfertigen von Stielen für Garten- und Landwirtschaftswerkzeug. Dazu hatte er sich im Untergeschoss des Alpenblicks eine kleine Holzwerkstatt eingerichtet, wo er viele trübe Tage verbrachte und wo ich mich bei Gelegenheit nur allzu gerne aufhielt, um ihm Gesellschaft zu leisten und seinen Geschichten zu lauschen. Doch kam es auch vor, dass er überhaupt nicht zu Hause war, oft war er tagelang weg, was zwar niemand sonderlich störte. Plötzlich und völlig unerwartet war er dann wieder da, stand ziemlich unsicher und sichtlich verlegen vor der Tür oder sass einfach auf der Bank unter der Laube, wo er im Windschatten seine eigene Raucherecke hatte und Stumpen paffte. Meines Wissens kam er aber bei seinen Eskapaden nie zu Schaden. Im Gegenteil, oft brachte er sogar noch etwas mit nach Hause, einen alten Vorderlader, einen Kosakensäbel oder einen Tschako aus der Bourbakizeit, einmal sogar eine alte Geige, auf der er direkt zu fiedeln begann.

Die Ansiedlung in einer Senke unter der Fluh auf dem Kaiserstuhl, wo wir wohnten, hiess «das Loch». Folglich lag es auf der Hand, dass die Bewohner, wie es hier üblich war, als Zunamen den des «Heimets» trugen, wir waren, seit Generationen wohl, die «Lochers». Der Ätti wurde «dr Lochhänsel» genannt, hiess er doch auch Johannes, Hannes oder Hans, wie mein Vater, der war der «Lochhans» und ich der «Lochhansi». Dass die Häuser, Scheunen und Hütten im Loch standen, hatte wohl seine Bewandtnis in der geografischen Lage der Ansiedlung, sie lag nordseits des Lungern­sees im Schatten der Schynbergfluh, war also schattenhalb, selbst im Hochsommer fiel die Besonnung erst im Lauf des Morgens ein, da die hohe Felswand gegen Sonnenaufgang aufragte.

Dafür genossen wir am Abend lange Sonnenschein, am längsten wohl im ganzen Tal, da das Gebirge auf der west­lichen Talseite nicht schroff aufragend, sondern eher hügelig war, so wie man es in den Voralpen oft antrifft. Der Kaiserstuhl wurde die felsige Schranke oder Aufschüttung genannt, die den Lungernsee gegen Norden hin wie eine natürliche Staumauer abschliesst und am Auslaufen ins Unterland hindert. Warum der Kaiserstuhl so heisst, konnte mir nie jemand erklären. Mein Vater meinte dazu, vielleicht entspringe der Name dem Umstand, dass auch der Kaiser, als er einmal über den Brünig zog, mal aus der Hose musste oder aber dorthin, wohin auch der Kaiser zu Fuss hingeht.

Wie dem auch sei: Kaiserstuhl heisst heute noch die kleine Bahnstation an der Brüniglinie zwischen Luzern und Interlaken-Ost, wo aber schon lange kein Stationsvorstand mehr existiert, genauso wenig, wie noch ein Kaplan im Kaplaneihaus sitzt oder im Schulhaus den Kindern das Lesen, Rechnen und Schreiben beigebracht wird. Ob der Postschalter dem Bahnhof direkt gegenüber noch bedient ist, weiss ich nicht.

Übrigens heisst die Post Bürglen, wie auch der Weiler, zu dem die Fraktion Kaiserstuhl gehört. Bürglen aber gehört politisch zur Gemeinde Lungern. «Wir Bürgler sind nur Biisäss», was so viel wie Menschen zweiter Klasse bedeutet, das sagte mein Vater immer wieder, wenn er frustriert feststellen musste, dass einer seiner Vorstösse von der Gemeindeversammlung mit grossem Mehr verworfen wurde. Was er aber trotz allem schaffte, war die neue Wasserversorgung für die Bürgler, auf die er persönlich sehr stolz war und die jedem Haushalt in Zukunft sauberes Trinkwasser garantierte.

Die Landschaft um den Lungernsee ist an sich recht lieblich, nach Norden zu öffnet sich der Kessel und gibt den Blick frei auf den Sarnersee und das Tal der Sarneraa, in der Ferne der Pilatusberg und das Stanserhorn. Südseitig wird das Tal abgeschlossen durch den wuchtigen Riegel des Brünig, während dahinter die Firne der Wetterhorngruppe in den Himmel ragen und zur rechten Hand der urchige Kopf des Wilerhorns das Panorama abschliesst.

Das Dorfbild von Lungern wird nicht nur durch die übergrosse, neugotische Pfarrkirche verschandelt, die, der Basilika von Lourdes nachempfunden, die Silhouette der dörflichen Bebauung beherrscht und auf einer alles überragenden Anhöhe steht. Durch die Linienführung der Kantonsstrasse wird das Dorf entzweigeschnitten, es ist nun ein typisches Strassendorf, dazu verunstalten einige klotzige Hotelbauten aus dem Fin de siècle die gewachsenen Strukturen. Reste des ursprünglichen Dorfbilds sind eigentlich nur noch rund um die barocke Dorfkapelle auszumachen.

Dass in Lungern kaum noch alte und historisch interessante Bauten bestehen, ist vor allem zwei Katastrophen zu verdanken, die das Dorf schwer trafen. Im Jahre 1739 zerstörte ein gewaltiger Brand das ganze Oberdorf bis hinab zur Dorfkapelle. Ätti erzählte mir, es seien Zigeuner gewesen, die den Brand gelegt hätten. Aus Rache, weil die Dörfler ihre Königin nicht mit Respekt empfangen hätten und weil man ihrem Stamm die Bewirtung verweigert habe.

Ein imposanter alter Glockenturm steht abseits auf einer Wiese, wahrscheinlich inmitten des früheren Friedhofs, zwischen dem Dorf und dem Weiler Mühlebach. Es handelt sich um den mittelalterlichen Turm der alten Pfarrkirche, die vom Eibach Ende des neunzehnten Jahrhunderts weggespült wurde.

Auch das wegen seiner Malereien und den Totentanzversen bis weit über die Kantonsgrenzen hinaus berühmte Beinhaus wurde bei dieser Überschwemmung verwüstet und wie die alte Pfarrkirche nie wieder aufgebaut. Dieses Beinhaus trug die Jahreszahl 1496. Die Totentanzbilder ­bestanden in der Darstellung vom Tanz des Todes mit den Lebenden, wobei der Tod selbst als eine Art Gottesbote Menschen jeden Alters und Standes zum gemeinsamen Tanz auffordert.

Was die Ansicht der ganzen Landschaft am meisten stört und beeinträchtigt, ist der See, der eigentlich ein Stausee ist und auch als solcher genutzt wird. Das heisst, dass er im Winter abgesenkt wird. So idyllisch er sich im Sommer mit der Spiegelung der umliegenden Berge und den teilweise bewaldeten Ufern dem Auge darbietet, so brutal und hässlich zeigt er sich im Frühling und Herbst, wenn der Wasserstand täglich sinkt und die verödeten, schlammigbraunen Uferpartien zutage treten. Dabei hat dieser See Geschichte und birgt unsägliche Geheimnisse. Man sagte mir, er sei über hundert Meter tief, was ich zwar bezweifle, doch sicher ist er ein Überbleibsel aus der Eiszeit, entstanden in einer tiefen Spalte. Um ihn ranken sich mythische Sagen und allerlei Geschichten.

Der Ätti, der sich in den Mythen und Mären seiner Heimat bestens auskannte, wusste wohl über jeden Ort, jede Alp und jeden Berg im Obwaldnerland eine Sage oder Geschichte zu erzählen. Da erschienen oft die alten Götter in der Gestalt der Elemente, der Riesen, Hexer oder Zwerge, wunderbare Tiere trieben ihr Unwesen, oder fremdartige Wesen suchten die Sterblichen heim, belohnten oder be­straften sie oder verrichteten allerlei Wunderliches. Doch nichts schildert den Untergang der alten Götter- und Asenwelt eindrücklicher als die Sage vom Lungernsee.

Nach Ättis Erzählung lag der Wasserspiegel dieses Alpensees in uralten Zeiten viel tiefer als heute. Es muss dies die Zeit gewesen sein, als noch Wilde und Bergmandli auf den Alpen und im Hochwald hausten, die oft den Bauern und Älplern bei ihrer harten Arbeit zur Hand gingen und sogar ihre Tiere besorgten. Die Talleute waren damals noch Heiden, und Lungern hiess auch noch nicht so, sondern Lugarun, benannt nach dem Gott Lug, dem die Bewohner opferten und den sie als das höchste göttliche Wesen ehrten. Seine Weihestätte lag auf einem Inselchen mitten im See in einem heiligen Hain; auf dem Altarstein, der von jahrhundertealten Baumriesen umgeben war, sollen sogar Menschen geopfert worden sein. Das behauptete zumindest mein Grossvater, dabei gestikulierte er vielsagend mit den runzligen Händen in der Luft herum, als gälte es, gerade jetzt einem armen Opfer die Kehle durchzuschneiden.

Schon damals betrieben die Talbewohner Landwirtschaft, sie hielten sich Schafe, Kühe und Ziegen, der See war umsäumt von saftigen Wiesen und fruchtbaren Feldern, die bis hinab ans glasklare Wasser reichten und die Menschen mit ihrem Ertrag reich und zufrieden leben liessen. Dabei waren der See und die Bäche reich an Fischen, die Wälder boten Wild im Überfluss. Doch das sollte sich plötzlich ändern. Eines schönen Tages stieg Sankt Beat, der Glaubensbote aus dem fernen Irland, vom Brünig her ins liebliche Tal hinab. Seit vielen Jahren schon hatte er im Haslital die Lehre des Christentums verbreitet und viele Heiden dort zum wahren Glauben bekehrt. Nun war er schon fast ein Greis, mühsam fiel ihm der weite Weg von seiner Behausung in der Höhle am Thunersee bis hierher an diesen Ort, wo er Labsal und Erfrischung zu finden hoffte. Doch erst wollte er dem Volke Gottes Wort verkünden, drüben auf dem Inselchen in ihrem heiligen Hain wollte er predigen und Zeugnis ablegen vom Leben Christi und seiner Erlösung. Als er nun in die Siedlung kam und am Ufer des Sees einen Fischer antraf, bat er ihn, er möge ihn doch übersetzen in seinem Kahn, aufs Inselchen zum Götzenhain. Die Dorfbewohner aber, die seine Bitte mit anhörten, rotteten sich zusammen, sie weigerten sich sogar, dem Fremdling Gastrecht zu gewähren, sie piesackten den Glaubensboten, bewarfen ihn mit stinkenden toten Fischen, Steinen und Exkrementen so lange, bis er die Flucht ergriff und umkehrte, zurück den Berg hinauf, dem Brünig zu.

Oben über dem Dorf, wo nun das Burgchäppeli steht, sei er dann, von Erschöpfung, Hunger und Durst gequält, nach Atem ringend auf die Knie gesunken, er habe die Arme ausgebreitet und seinen Gott um Hilfe angefleht in seiner Not. Da habe sich das Firmament verfinstert, ein schweres Grollen vom Pilatusberg her habe man vernommen, Blitze zuckten, Donner grollte, und dann sei ein unheimliches Gewitter mit Sturm und schweren Regenböen über das Tal hereingebrochen, wie man es vorher noch nie erlebte. Der schäumende Wasserfall des Dundelbachs schwoll aufs Zehnfache an, spie weit hinaus über Wiesen und Matten, haushohe Steine rumpelten von den Flanken der Berge hinab ins Tal und verwüsteten die Felder, Bäche und Rinnsale stürzten sich mit verheerender Wucht von Hügeln und Hängen, eine Mure begrub das Dorf, der See füllte sich auf, und der Hain des Lug mitsamt der Insel, des Gottes Kultbild und den Menschen, die sich in ihrer Angst und Not dort versammelt hatten, versank in der Tiefe. So ging das schöne und reiche Lugarun unter, «und ich versichere dir», raunte der Ätti, «der Fluch des Sankt Beat hat seine Wirkung noch lange nicht verloren, bis heute noch ist er bemerkbar, auch wenn die Lungerer das nicht wahrhaben wollen». Vielsagend schaute er mich an, klopfte dann sein Pfeifchen aus und schaute hoch zum Himmel, wo sich, natürlich gerade jetzt, die dunklen Wolken türmten.

Die Obwaldner Schriftstellerin Rosalia Küchler-Ming, ursprünglich aus Lungern stammend und Tochter des Landammanns und Landarztes Dr. Peter Anton Ming, beschrieb in den Zwanzigerjahren des letzen Jahrhunderts die rührige Geschichte des Tales und der Talleute von Lungern und ihres Sees in einer Trilogie, die ich selbst als junger Spund noch gelesen habe, die aber gegenwärtig nicht mehr erhältlich ist. Hatte die Entwicklung doch meinem Grossvater und seiner Sage teilweise rechtgegeben, im neunzehnten Jahrhundert nämlich entbrannte um diesen See im Tal ein gehässiges Seilziehen, das sich im Laufe der Zeit fast zu einem währschaften Krieg entwickelte, da einige zwecks Landzuwachs und Ausbreitung ihrer Besitzstände eine Absenkung des Seespiegels anstrebten. Waren in diesem Hochtal doch gutes Weideland eine Rarität und höher gelegene Nutzflächen oft nur schwer zugänglich. So lag es auf der Hand, dass die Talgemeinschaft ein Durchstos­sen des Kaiserstuhls ins Auge fasste, um so den See abzusenken.

Die Befürworter dieses Projekts wurden «die Trockenen» genannt, es waren dies begreiflicherweise vor allem Viehzüchter, während ihre Gegner, die die altbewährte Alpwirtschaft vertraten, «die Nassen» hiessen. Ein Durchstich kam schliesslich dann allen Widerständen zum Trotz zustande, was unten in Giswil zu einer gewaltigen Überschwemmung führte, aber den Seespiegel wie vorausberechnet absinken liess. So weit absinken liess, dass das heilige Inselchen des Lug auf einmal wieder zum Vorschein kam und an den Ufern eine Menge neues Weideland entstand. Ein Umstand, der natürlich den Wohlstand der Viehzüchter in der Gemeinde beträchtlich steigerte, was aber wiederum zu Neid und allerlei Geplänkel Anlass gab. Das politische Gezänk und die Folgen dieser Seeabsenkung bilden das Hauptthema der literarischen Arbeit von Rosalia Küchler-Ming.

Doch irrt man sich gewaltig, wenn man denkt, dass damit die Geschichte der Lungerer und ihres Sees zu Ende sei. Die Zwanzigerjahre des letzten Jahrhunderts waren für Bauern und Viehzüchter harte Zeiten. Der Zerfall der Preise für Milch- und Agrarprodukte bewirkte eine Krise, die vor allem die Berglandwirtschaft hart traf. Durch den hohen Milchpreis zur Zeit des Ersten Weltkriegs verblendet, hatten viele Bauern ihre Viehbestände aufgestockt und sich dadurch verschuldet. Nun bekamen sie auf einmal für den Liter Milch, der vor kurzem noch 38 Rappen galt, nur noch 20 Rappen, was für viele den Ruin bedeutete. So emigrierten verarmte Bauernfamilien aus der Innerschweiz in die Städte oder gar nach Übersee, hauptsächlich nach Kalifornien oder Brasilien.

Durch die Zunahme der Industrialisierung, der Elektrifizierung der Haushalte und der Eisenbahnen kam es in dieser Zeit zu einem gewaltigen Energiedefizit. So beschlossen findige Köpfe und fortschrittliche Investoren, die einheimische Wasserkraft zur Energiegewinnung zu nutzen. Die Centralschweizerischen Kraftwerke CKW entwickelten den Plan, den Lungernsee wieder anschwellen zu lassen und so das Wasser zum Antrieb von Turbinen und Generatoren zu nutzen.

Dass sich auch zu diesem Plan heftige Opposition regte, lag auf der Hand, doch die Beschwerden bis vor Bundes­gericht zeigten keine Wirkung. Landwirtschaftsland war nichts mehr wert, eine grosse Maul- und Klauenseuche-Epidemie hatte den Viehbestand gesamtschweizerisch bis zur Hälfte dezimiert. Die ehmals stolze Bauernschaft wurde durch die Krise hart gebeutelt. Nutztiere waren wohlfeil, auf den vielen Ganten rings im Land billig zu haben. Die Argumente der Befürworter des Stauseeprojekts fasste ein Einsender in einem Leserbrief wie folgt zusammen: «Eine Kuh schenkt dem Bauern jeden Tag Milch, jedes Jahr ein Kalb und alle Jahre wieder eine Landwirtschaftskrise.»

So wurde das Lungernseeprojekt 1921 von der CKW in drei Etappen in Angriff genommen und konnte Anfang der Dreissigerjahre, durch einen Stollen aus dem kleinen Melch­tal, welcher das Wasser der Melchaa dem See zuführt, erweitert und abgeschlossen werden. Nun versank der Hain des Lug aufs Neue in den Fluten.

Das Inselchen im Lungernsee tauchte seither nur einmal wieder auf, als bei Reinigungs- und Reparaturarbeiten an der Anlage Ende der Sechzigerjahre der Seepegel abgesenkt werden musste. Ich habe es noch gesehen, ich bin extra dafür aus Holland angereist, sogar die Stümpfe der alten Bäume waren noch auszumachen und einige Reste von rohem Mauerwerk.

Grossvater erzählte diese Geschichten, mein Vater ergänzte, was er ausgelassen oder vergessen hatte. Dass seine Brüder Robert, Fredi und Benz beim Stollenbau am Lungernsee-Kraftwerk ihr erstes gutes Geld verdienten. Robert wanderte dann Mitte der Zwanzigerjahre nach Amerika aus, wo er schon bald in Kalifornien sein eigenes Unternehmen gründete. Auch Fredi und Benz blieben Karrette, Schaufel und Pickel treu, beide wurden Bauunternehmer. Benz geschäftete sogar mit grossem Erfolg und wurde reich dabei, während Fredi immer wieder von Krisen geplagt wurde und zuletzt kaum mehr besass als am Anfang.

Nun kann man über das Lungernseeprojekt, über Sinn oder Nutzen der damaligen Entscheidungen und Beschlüsse, über die Lungerer und ihre Politiker denken, wie man will, doch eines muss man zugeben: Der Stausee war, ist und bleibt ein wahrer Segen für das Tal. In weiser Voraussicht haben die Talleute von Lungern ihren See weder verkauft, noch an die CKW abgetreten. Sie haben die Nutzungsrechte nur verpachtet, für eine gewisse Zeit, irgendwann gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts war die Pacht dann abgelaufen, und die Gemeinde konnte Anlage und Nutzung in eigener Regie weiterführen oder den Pachtvertrag erneuern. Aus dem Geld, das sie für ihren Stausee einkassierten, ­haben sie ein neues Schulhaus gebaut mit einer modernen Infrastruktur, mit Wohnungen für das Lehrpersonal und mit ­einer grossen Turnhalle, wo sogar, wenigstens noch zu meiner Zeit, alljährlich um die Fasnachtszeit vortreffliches Volkstheater gespielt wurde.

Das Wichtigste aber war die Gründung einer Sekundarschule und die Anstellung eines guten Lehrers, eine Errungenschaft, wovon auch ich selber später noch profitieren sollte. Gleichzeitig wurden auch die armen «Biisäss» nicht vergessen, Bürglen bekam ein neues Schulhaus mit Zentralheizung und Wohnräumen für die Lehrschwestern. Dort wurden mir dann von mehr oder weniger gütigen Menzinger Klosterfrauen die Grundbegriffe der Bildung beigebracht, die Religion, das Lesen, Schreiben und ein wenig Rechnen.

Grossvater oder Ätti, wie wir ihn hier alle nannten und dem meine ganze Bewunderung galt, hatte als junger Mann das Sattlerhandwerk erlernt. Noch im Alter war er ein wahrer Tausendsassa, er besass eine schöne Singstimme und kannte viele Lieder, einheimische und sogar fremdländische. Er war überhaupt ein fröhlicher Mensch, sehr musikalisch, so konnte er mehrere Instrumente bespielen, vor allem das Schwyzerörgeli, doch auch Klarinette und Piccolo und sogar die Geige. Ihm war es gegeben, die Menschen durch seinen natürlichen Charme zu bezaubern mit seinen Melodien, Schwänken und Geschichten, doch auch mit seinem Witz und seinen Streichen. Er war auf jeder Stubete, jeder Kirmes, Hochzeit oder Taufe anzutreffen, überall spielte er zum Tanz auf und war darum bei Alt und Jung im ganzen Land beliebt, nicht aber bei den Pfaffen und frommen Betschwestern, die er immer wieder mit ätzendem Spott verfolgte und lächerlich machte.

Er hatte ein bewegtes Leben hinter sich, nun war er bereits Ende siebzig, doch stets noch ein stattlicher Greis mit pfiffigen Äuglein und einem grossen Schnauz, ab und zu ein wenig zittrig auf den Beinen, doch eigentlich noch gut zu Fuss. Vom Land, das der Ätti als Ältester von seinem Vater geerbt hatte, trat er seinem Bruder Josef, dem «Lochseppli», die schöne, ebene Wiese zwischen Alpenblick und Bahnhof ab, dazu das Stielti und den Schwand, sodass ihm schliesslich nur die Hügel blieben, das Berggut Schäffschliecht, der Riedplätz in Giswil und ein Stück Wald gegen die Flüe hinauf. Doch konnte er von Anfang an der Landwirtschaft nur wenig abgewinnen, was das betrifft, war er sich mit seinem Ältesten, meinem Vater, einig.

Das Bauern, meinte er, sei ihre Sache nicht, überhaupt das Arbeiten, eigentlich schade, so viel Zeit damit durchzubringen, gäbe es da doch noch viel schönere Sachen, die zu tun wären. Um immer nur anzuschaffen und zu ferggen, sei das Leben doch viel zu kurz. Aus einer Sippe von Bauern, Säumern, Söldnern und Händlern stammend, die ihren Sitz schon seit dem späten Mittelalter – das ist verbrieft –, wenn nicht schon länger, so sicher weiss das niemand, im Tal von Lungern hatte, war er durch seine Herkunft und Abstammung zu Abenteuern und allerlei Lebenskapriolen prädestiniert.

Seine Mutter war «Kriegsbeute», das sagte er lachend, und es war auch als Scherz gemeint, sie stammte aus dem Eschental, aus Domodossola, darum auch das lustige Italienisch, das er noch zeitweise sprach, und sicher sein Charakter, der sich von der stumpfen und frommen Ernsthaftigkeit der Innerschweizer wohltuend abhob.

Ätti war schon früh Witwer geworden, in erster Ehe hatte er die Tochter des Gastwirts, eine Feierabend, geheiratet, die aber schon im Alter von neunzehn Jahren im Kindbett starb. Auch er war damals kaum viel älter, was ihn aber nicht daran hinderte, durch halb Europa zu reisen und sich die Welt anzusehen, wie er sein lustiges Wanderleben nannte. Hatten doch noch viele Mütter schöne Töchter, und schliesslich war auch hier das Leben viel zu kurz, um lang zu trauern.

Noch heute besitze ich seinen Hakenstock aus jener Zeit, verziert mit vielen feinen Kupferplaketten, Zeugnis seiner Wanderungen durch die Welt. Von Bergamo bis Trier, von Königstein bis nach Paris sei er gereist, sogar die Weltausstellung von 1889 habe er besucht und den dreihundert Meter hohen Eiffelturm bestiegen. Nun waren solche Reisen damals für Handwerksburschen üblich, wohl meist zu Fuss und selten gar so weit. Das weite Laufen sei er gewohnt gewesen, meinte der Ätti, spannende Berichte gab es da zu hören von den Säumerzügen, die er schon als Bub mit seinem Vater unternommen habe, über den Brünig, die Grimsel und den Griespass hinab ins italienische Val Antigorio, ins Eschental nach Domodossola, manchmal sogar bis Mailand. Selbst mein Vater konnte sich noch erinnern, einmal eine solche «Welschlandfahrt» unternommen zu haben, als kleiner Pfupf, einen Rock habe er noch getragen, das sei lange vor dem ersten Krieg gewesen, und als sie auf dem Heimweg waren, habe es auf den Pässen schon geschneit.

Ab und zu wurden auch «Fremde», wie man Touristen oder Globetrotter hier nannte, mit den Mulis über den Brünig «gebastet», Engländer meistens oder Deutsche, die die Schweiz bereisten. Es war dies eine einträgliche Beschäftigung, leichte Arbeit, ein guter Nebenverdienst. Die alte Brünigstrasse führte nämlich direkt am «Alpenblick» vorbei, nach Norden über die Sommerweid, dann «nidsi» ins Unterland und nach Süden über den Kaiserstuhl «obsi» dem See entlang nach Obsee und Lungern-Dorf, von wo sie dann in vielen Kehren den Berg hinauf dem Brünig zustrebte. Doch nun gab es auf einmal eine neue Kantonsstrasse, und eine Eisenbahn über den Brünig wurde auch gebaut, die Säumer und Träger waren nicht mehr nötig. Auch Kutschen fuhren keine mehr den Pass hinauf, Sattler, Karrer und Wagner wurden arbeitslos.

Ättis Vater hatte mit dem Italienhandel, seiner Säumerei und Landwirtschaft noch gutes Geld verdient. Seinen zwei Söhnen Hans und Jost sicherte der Bauernhof auf dem Kaiserstuhl ein gutes und sicheres Auskommen. Ein anderer Sohn war nach Ost-Preussen ausgewandert und dort bei einer Messerstecherei umgekommen, einer hatte sich in die Dienste des Königs der zwei Sizilien begeben, von dem hatte man schon lange nichts mehr gehört.

Als der Grossvater nun als junger Witwer auf Wanderschaft nach Frankreich ging, hinterliess er seine kleine Tochter Sabina, das Bineli, unter der Obhut seiner beiden unverheirateten Schwestern Karolin und Josefin, als Amme hatte er die Sigristin verpflichtet, eine dralle, rotbackige Österreicherin, die mit dem Schreiner in der Nachbarschaft verheiratet war und selbst auch Kinder hatte. Für die Landwirtschaft sorgte in seiner Abwesenheit sein Bruder Jost mit Leon, einem ehemaligen Bourbaki, der schon viele Jahre unter ihrem Dach lebte und dem es dort scheinbar so gut gefiel, dass er gar nicht mehr nach Frankreich zurückwollte.

Obwohl es, wie Ätti schmunzelnd behauptete, für seine Schollentreue auch noch andere Gründe gegeben habe. Kam doch die kleine Sabina, damals fünf oder sechs Jahre alt, eines Tages völlig aufgeregt in die Küche gerannt und schrie lauthals: «Kommet schnell, kommet schnell, das Fineli springt halbblutt vierbeinig auf dem Heustock ume und kann gar nicht mehr schnuufe.» Seit diesem Vorfall wurde die arme Tante Josefine oft gehänselt und frotzelnd nur «das doppelte Fineli» genannt. Vielleicht war das dann auch der Grund, dass der treue Leon bald darauf beschloss, wieder heimzukehren, wo man scheinbar doch besser lebte.

Wie dem auch sei, die Tante Josefine, die immer etwas Besonderes war, konnte sie doch das Gras wachsen hören und Geister sehen, ja, sogar mit den armen Seelen reden, wurde mit jedem Tag eigener. Nicht nur beim Rechen und auf dem Kartoffelacker lispelte sie kaum hörbar Gebete und Beschwörungen, sondern auch beim Kochen und deutlich hörbar dann des Nachts im Bett. Die Hausgenossen bemerkten, wie sich ihr Geist immer mehr verwirrte, bis sie an einem schönen Sommerabend mit der Familienbibel dem oberen Stall zuging und sich dort mit Bibel, Stall und allem, was darin war, verbrannte.

Kaum war der Ätti von seiner grande tour zurück, begab er sich auch schon auf Freiersfüsse, versuchte landauf, landab vorzusondieren, wo eine reiche Mitgift zu erwarten war. Herrschte doch inzwischen Ebbe in seiner Kasse, die Heiraterei, die Reisen und dazu all die Kosten, dabei war er nicht unbedingt der Mann, dem Sparen und Haushalten angeboren war. Dazu war in seiner Abwesenheit auch noch ein alter Onkel aufgetaucht, ein Invalider mit einer Beinprothese, man nannte ihn nur den Batavianer, weil er als junger Mann nach Holland ausgewandert war und dort bei den «Mijnheeren» in der Niederländischen Legion Sold genommen hatte. Jahrelang war er dann in Batavia, in Insulinde, stationiert, bis er, von seinen Verwundungen gezeichnet, in Pension entlassen wurde und nun wieder in die Heimat zurückgefunden hatte.

Auch dieser Onkel hockte nun auf seinem Sack und ass an seinem Tisch, paffte unaufhörlich seine lange Pfeife und dirigierte jeden gern herum, ein Raubein halt, nicht unbedingt ein angenehmer Zeitgenosse. Dass er dann im zweiten oder dritten Winter auf der Aussentreppe unglücklich zu Fall kam, in den Kellerhals abstürzte und kurz darauf starb, bedeutete für alle Hausgenossen eine Erleichterung. Was er zurückliess, füllte zwar für kurze Zeit den kleinen Säckel, doch für die grosse Kasse reichte es nicht. Nun musste wirklich dringend eine Frau her, schon mussten auf das Heimet Gülten aufgenommen werden, und die Zinslast drückte immer mehr.

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