Kitabı oku: «Die blauen Flügel», sayfa 2

Yazı tipi:

Murad und ich spielten Flying Zombies. Ich hämmerte auf die Tastatur ein und hatte schon zehn Zombies zur Strecke gebracht, ehe Murad auch nur einen Mausklick machen konnte.

»Der letzte gehört dir«, sagte ich.

Murad ließ die ganze Zombiestadt hochgehen.

»Das sollten wir öfter machen«, sagte er.

Jadran mochte die neuen Bettbezüge nicht, die Mama gekauft hatte. Schon ihr Geruch machte ihn unruhig. Er musste davon niesen und trat die Bettdecke von sich.

»Komm«, flüsterte ich und klopfte neben mir auf die Matratze.

Jadran schob sein Kopfkissen an meines und rutschte ganz nah zu mir.

Ich bekam kein Auge mehr zu, er dagegen schnarchte sich selig durch die Nacht.

Am nächsten Morgen brachten wir Tirie seinen Namen bei.

»Tirie«, krächzte Jadran. Er war jetzt der Kranichpapa und warf ein paar Körner auf den Boden.

Schon bald kam der Vogel zu uns, wenn wir seinen Namen sagten. Weil er noch nicht rufen konnte wie ein erwachsener Kranich, antwortete er mit einer Art Jammerlaut.

Triririri trrrrie.

»Tirie! Tirie!«

Es machte Spaß, gemeinsam mit Jadran den Vogel zu zähmen. Mein Bruder hatte lange keine so gute Laune mehr gehabt. Als Tirie zum ersten Mal ein Stück Brotrinde aus seiner Hand nahm, strahlte er. Und darum erlaubte Mama auch, dass der Kranich noch ein Weilchen blieb. Seine Wunde heilte gut. Ein paar Tage noch, dann könnten wir ihn zurück zum See bringen.

Es dauerte nicht lange, und Tirie hüpfte hinter uns her. Wenn Mama gerade nicht in der Nähe war, öffnete Jadran die Balkontür und stolzierte zusammen mit dem Vogel durch die Wohnung. Ich gab ihm Hinweise, wie er Tiries Bewegungen am besten nachahmen konnte: den Hals recken, den Bauch einziehen und auf Zehenspitzen trippeln.

Nur fliegen konnte Tirie noch nicht. Das heißt, er machte keinerlei Anstalten dazu. Er versuchte nicht einmal, seine Flügel auszubreiten.

»Wir müssen’s ihm beibringen«, sagte Jadran.

»Wir können nicht fliegen«, wandte ich ein. »Wie soll man jemandem etwas beibringen, das man selber nicht kann?«

»Wenn man ganz fest will, kann man alles.«

Das hatten sie ihm natürlich im Freiraum, seiner Spezialschule, eingehämmert. Dort wurde er mit Lob und Tipps überschüttet. Jadran hatte es richtig gut drauf, die Sätze der Betreuer ständig zu wiederholen.

»Wir sind viel zu schwer«, sagte ich.

Jadran warf mir einen vernichtenden Blick zu. »Wir brauchen Flügel!«

Damit meinte er nicht etwa selbst gebastelte Flügel aus Papier oder Karton. Er wollte große Flügel mit echten Federn. Er wollte Mamas blaue Flügel.

Die hatte sie getragen, als sie noch mit Papa in Musicals auftrat. Sie waren nach Maß angefertigt worden.

Aber seit Papa fort war, wollte sie nichts mehr von ihnen wissen.

Jadran war schon auf dem Weg in die Diele, um den Schlüssel zu holen, der über dem Schuhschrank hing. Denn die Musicalkostüme befanden sich im Keller. Und dort durfte Jadran nicht allein hin, das sah ich genau wie Mama. Also musste ich ihn davon abhalten. Oder mitgehen.

Mama selbst ging ungern in den Keller. Dort sei es wie in einer Zeitmaschine, sagte sie. Ehe sie sich’s versehe, hätte sie den falschen alten Karton aufgemacht und sei in einem früheren Leben gelandet. Einem früheren Leben, von dem sie glaubte, es beinahe vergessen zu haben.

Ich steckte den Schlüssel ein und ging vor Jadran her die Treppe hinab bis ganz nach unten.

Im Kellergeschoss roch es nach Schimmel und Mottenkugeln. Links und rechts gingen viele Metalltüren ab, aber ich wusste genau, welches unsere war.

Der kleine Kellerraum war bis an die Decke voll mit Kisten, Kartons, Stapeln von vergilbtem Papier und Sachen wie aus dem Secondhandladen. Ganz hinten befand sich ein Ständer, an dem große schwarze Kleidersäcke hingen.

»Wir hätten Mama erst fragen sollen«, sagte ich.

Aber Jadran ging bereits strahlend auf den Kleiderständer zu. Mamas Musicals hatte er immer toll gefunden. Bevor sie und Papa auseinandergingen, war er oft bei Aufführungen dabei gewesen. Er hatte hinten im Saal gesessen und alle Lieder mitgesungen. Sogar die Dialoge hätte er auswendig gekonnt, behauptete Mama, auch wenn er sie nur halb verstand.

Jadran ließ seine Finger über die Bügel gleiten.

»Weißt du, wo sie drin sind?«, fragte ich.

Er zögerte kurz und griff dann nach einem Kleidersack, der sich ziemlich ausbeulte.

Ich öffnete den Reißverschluss für ihn. Die Flügelspitzen fluppten heraus, als hätten sie seit Jahren auf diesen Moment gewartet. Jadran nahm die Flügel ganz aus der Hülle, lief damit durch den Gang zur Kellertür und hielt sie unter die Lampe.

Sie waren blau gefärbt, im schönsten Blau, das ich je gesehen hatte. An einem Gestell aus Draht waren viele Hundert echte Federn festgenäht. Ellenlange Schwungfedern, glänzende Deckfedern und an der Unterseite seidenweiche Flaumfedern. Jadran blies den Staub von den Flügeln. Er steckte eine Hand in die dicke Federschicht und glättete sie dann wieder. Anschließend nahm er die Flügel auf seinen Rücken und schob die Arme durch die Lederschlaufen.

Es war ein seltsamer Anblick: mein baumlanger Bruder mit den anmutigen Flügeln. Aber irgendwie standen sie ihm. Ich schnallte die schmalen Riemen um seine Handgelenke. Wenn er nun die Arme auf und ab bewegte, konnte er richtig flattern. Das tat er prompt.

Jadran flog vor mir her die Treppen hinauf. Oben rauschte er durch die Diele ins Wohnzimmer. Ich konnte kaum schnell genug alles Zerbrechliche in Sicherheit bringen.

»Aber Kinder, was soll das denn?« Beim Anblick der Flügel sprang Mama von ihrem Stuhl auf. Das Messer, mit dem sie Gemüse putzte, landete klirrend auf dem Boden.

»Ich bringe sie nachher wieder runter«, beeilte ich mich zu sagen.

Aber Mama hörte mich nicht. Mit großen Augen starrte sie Jadran an, der jetzt flügelschlagend am Balkonfenster stand.

»Auf und ab!«, rief er.

Bei jedem Flügelschlag bewegte Mamas Kopf sich hin und her, als wollte sie eine böse Erinnerung herausschütteln. Dann bückte sie sich nach dem Messer und schnitt weiter Brokkoli.

Der Vogel sah Jadran durch die Scheibe an.

»Gib ihm etwas zu fressen«, sagte ich. »Dann lernt er, dass Fliegen etwas Gutes ist.«

Und so begann die erste Übungsstunde. Jadran machte vor, was Tirie tun sollte, und ich gab ihm jedes Mal, wenn er seine Flügel ein wenig anhob, einen Käfer. Auf der Seite mit der Wunde ging es langsamer, aber der Flügel bewegte sich mit.

»Hopp!«, rief Jadran.

Happ, machte Tirie.

Yasmin trat in die Balkontür. Ihr Pony hing über den oberen Rand der Brille.

»Willst du auch mal probieren?«, fragte Jadran. »Du bist ein schöner Mamavogel, Yassi.« Mit nach hinten gerecktem Po als buschiges Schwanzgefieder trabte er vor ihr auf und ab.

»Ihr tickt wohl nicht richtig? Schwachköpfe seid ihr, alle beide!« Yasmin wich zurück und warf die Balkontür zu.

»So was sagt man nicht, Yasmin!«, rief Murad, der mit seiner Stoffhose in der Hand am Bügelbrett stand. »Entschuldige dich bei ihnen!«

Aber Yasmin sagte weder Entschuldigung noch sonst etwas.

Jadran ließ die Flügel sinken. »Sind sie denn nicht schön?«

»Doch, Riese. Sie sind wunderschön.«

Drinnen lief Murad hinter Yasmin her, um sie zusammenzustauchen. Schwachköpfe seien wir, hatte sie gesagt. Alle beide. Das klang schlimm. Und es stimmte überhaupt nicht. Trotzdem fühlte ich mich auf eine seltsame Art erleichtert. Yasmin zumindest machte keinen Unterschied zwischen meinem Bruder und mir.


Hinter unserem Wohnblock war eine Wiese. Dorthin wollten wir mit Tirie. Weil es mit dem Flattern immer besser ging, fand ich, es wäre jetzt an der Zeit, im Freien mit ihm zu üben. Jadran ging mit den Flügeln auf dem Rücken zum Lift und klapperte mit der Futterdose, damit Tirie uns folgte. Für jedes Stockwerk bekam der Kranich einen Wurm. Die ganze Zeit starrte er die aufleuchtenden Zahlen an.

Im dritten Stock hielt der Lift. Rasch bugsierte ich Tirie in eine Ecke und stellte mich mit Jadran wie eine Mauer vor ihn. So hatten wir es abgemacht, denn keiner durfte wissen, dass wir einen Kranich dabeihatten.

Frau Rafaelis stieg mit ihren Zwillingen an der Hand ein.

»Guten Morgen«, sagte Jadran übertrieben freundlich und versuchte unterdessen, den Vogel mit seiner weiten Hose zu verdecken. »Wie geht’s Ihnen?«

Frau Rafaelis lachte, ihre Mädchen dagegen guckten ängstlich den geflügelten Riesen an, der den halben Lift einnahm.

»Uns geht’s prima, Jadran. Und euch?«

Frau Rafaelis mochte meinen Bruder gern. Sie arbeitete in der Apotheke und schenkte ihm manchmal Zahnpastapröbchen, solche Minituben mit neuen Geschmacksrichtungen.

»Prima, danke!« Jadran grinste breit, damit sie sehen konnte, dass die Zahnpasta etwas nützte.

Tirie rieb sich an meiner Jeans. Ich kam fast um vor Nervosität.

»Ihr habt jetzt bestimmt viel zu tun nach dem Einzug von Murad. Scheint ein netter Mensch zu sein. Und eine hübsche Tochter hat er auch. Ist sie nicht ungefähr so alt wie du, Josh?«

Ping!, machte der Lift.

Die Mädchen drängelten, weil jede als Erste rauswollte.

»Die Flügel stehen dir prächtig«, sagte Frau Rafaelis noch zu Jadran. Sie tat, als hätte sie Tirie nicht gesehen.

Wir warteten, bis sie weg waren. Dann folgte Tirie Jadran wie ein Hündchen in den Eingangsflur. Er rutschte auf den glatten Fliesen aus, rappelte sich wieder auf und hüpfte dann mit uns ins Freie.

»Brav, Tirie. Komm, komm!«

Ich ging voraus, um nachzusehen, ob auch niemand auf der Wiese war.

»Die Luft ist rein!«, rief ich um die Hausecke.

Jadran ging jetzt nicht mehr krumm, sondern stolzierte mit erhobenem Kinn über den Betonstreifen, der um den Block herumlief. Ich kam mir noch kleiner vor als sonst.

Jadran gab mir die Futterdose und stieg auf eine Holzbank.

»Kru kru kru!«, tönte er und breitete die Flügel aus.

Tirie pickte an einem Klecks Mayonnaise neben dem Abfalleimer herum.

»Weg da! Davon wirst du krank!« Ich versuchte, den Vogel zur Bank hin zu scheuchen, aber das klappte nicht, weil er als Nächstes eine feuchte Brotrinde erspähte.

Jadran ließ sich nicht verdrießen. »Schau zu, wie ich’s mache!«, rief er, sprang von der Bank und rannte mit ausgebreiteten Flügeln über das Gras.

Tirie floh, so schnell er konnte, in die Gegenrichtung.

Jadran nahm im Sturzflug die Verfolgung auf.

»Halt!«, schrie ich.

Aber dieses Wort verstand der Kranichpapa nicht. Mit seinen langen Stelzen sauste er zum Fahrradschuppen und trieb dort sein Junges in eine Ecke.

»Los! Du kannst das! Du kannst das!«, rief er. Genau so wie seine Betreuer im Freiraum.

Tirie zitterte wie Espenlaub. Gleich haut er ab, dachte ich, und in der Stadt ist er verloren. Also musste ich etwas tun.

Ich stellte mich hinter Jadran und versuchte, seine Arme nach unten zu ziehen.

Er spannte die Muskeln an.

»So machst du ihm nur Angst«, sagte ich.

»Er muss fliegen! Seiner Familie nachfliegen!«

»Schon, aber du bist zu schnell.« Ich presste mich an seinen Rücken und strich ihm so lange über die Schultern, bis er zu flattern aufhörte. »Das ist genau wie beim Atmen, Riese«, sagte ich. »Du musst es in seinem Tempo machen.«

Mit der Futterdose lockten wir Tirie vom Fahrradschuppen weg. Es dauerte eine ganze Weile, bis wir ihn so weit hatten, dass er auf die Bank sprang. Und als er erst einmal oben war, wollte er nicht mehr herunter.

Jadran schlug unaufhörlich mit den Flügeln. Manchmal bewegte er sich tänzelnd, dann wieder schoss er wie ein Düsenjäger über die Wiese. Aber Tirie hatte keine Lust. Sogar als er von der Banklehne purzelte, hielt er die Flügel an den Leib gedrückt.

»Das ist nicht hoch genug«, entschied Jadran.

Aber auch vom Müllcontainer aus klappte es nicht. Jadran hob Tirie hinauf, aber der rutschte auf dem glatten Deckel aus und wäre um ein Haar kopfüber heruntergefallen. Danach wollte Jadran auf das Dach des Fahrradschuppens klettern. Ich konnte ihn gerade noch davon abhalten.

Sein Blick wanderte zur Seitenfront unseres Wohnblocks. Dann trieb er Tirie unter heftigem Geflatter dorthin.

Mir war klar, was er vorhatte. Aber das ging auf keinen Fall. Es war streng verboten, die Feuerleiter zu benutzen. Sie war nur für Notfälle gedacht.

»Da!« Jadran wies mit einem Flügel auf die Metallplattform auf halber Höhe des Hauses, zwischen dem dritten und dem vierten Stock.

Ich schüttelte den Kopf. »Kraniche steigen immer vom Boden auf.«

Jadran schlug so wild mit den Flügeln, dass ihm Schweiß über die Schläfen rann. Staub wölkte auf. Er machte Sprünge, so hoch er es mit seinen dicken Waden schaffte.

Tirie hüpfte hierhin und dorthin, flog aber nicht.

Jadrans Mund wurde schmal. »Vom Boden aus klappt’s nicht!«

»Du musst ein bisschen mehr Geduld haben, Riese«, sagte ich. »Komm, wir gehen jetzt rein. Und morgen probieren wir es wieder.«

Jadran glaubte nicht an morgen. Für ihn war alles jetzt. Er zog eine Grimasse und steuerte auf die Feuerleiter zu. Ich rannte ihm nach und zerrte an seiner Hand.

»Lass das! Mama wird sonst böse!« Und damit meinte ich nicht nur böse auf ihn. Sondern vor allem auf mich. Wenn ich es nicht schaffte, Jadran von seinem Plan abzubringen, war ich ein lausiger Schutzengel.

Aber ihn kümmerte es nicht, ob Mama böse würde. Er schubste mich einfach weg.

Also musste ich mir etwas einfallen lassen. Doch was auch immer es war, es würde falsch sein.


Ich befand mich zwischen Jadran und der Feuerleiter und hatte das Gefühl, die Grashalme wie Nägel unter meinen Schuhsohlen zu spüren. Jadran fuchtelte drohend mit seinen Riesenhänden. Aber ich gab nicht nach.

»Lass mich das machen«, sagte ich. »Ich bin nicht so schwer wie du und …«

»Ich bin nicht zu schwer!« Jadran hob die Nase wie einen Schnabel in die Luft und zog den Bauch so weit ein, dass die Rippen vorstanden.

»Gib mir die Flügel.«

Jadran fixierte mich aus dem Augenwinkel. »Nimmst du Tirie dann mit?« Er ließ die Hände sinken.

Ich nickte und löste die Riemen um seine Handgelenke. Er schlüpfte aus den Lederschlaufen und rannte los, um den Kranich zu holen. Mamas Flügel waren viel zu groß für mich. Die Schwungfedern reichten mir bis zu den Knien.

Aber jetzt gab es kein Zurück mehr.

Ich verabredete mit Jadran, dass er unten warten sollte, und begann mit dem Aufstieg. Mit einer Hand umfasste ich das kalte Metall der Leiter, mit der anderen drückte ich Tirie an mich. Sein langer Hals war im Weg, und er trat immer wieder tückisch nach mir, aber ich ließ ihn nicht los.

Sprosse um Sprosse suchte ich mit den Füßen Halt. Der Wind fuhr unter Mamas Flügel und blies mir die Federn ins Gesicht.

Nicht runterschauen, dachte ich, bald ist es vorbei.

Von unten wirken zehn Meter nicht sonderlich hoch, aber als ich die Plattform erreichte, hatte ich wacklige Knie, und mir wurde schwindlig. Ich stellte Tirie ab und hielt mich am Geländer fest.

»Riese!«, schrie ich nach unten. »Ich bin da!«

Aber es kam keine Antwort, und auf der Wiese war niemand zu sehen. Ein Motorrad röhrte vorbei.

Erst dann merkte ich, dass die Leiter vibrierte. Und ich hörte keuchende Atemzüge.

»Puuuh!« Jadrans Gesicht tauchte am Rand der Plattform auf. Es war rot angelaufen und schwitzig. »Ganz schön hoch, oder?«

Ich trat ein paar Schritte zurück und wollte schreien, dass er sich nicht an unsere Abmachung gehalten hatte, und ihn sofort wieder hinunterschicken. Aber ich traute mich nicht. Denn jedes Wort konnte verkehrt sein, konnte seine Lunte entzünden.

Ich dachte an das, was ich bei Mama schon oft gesehen hatte: drei Sekunden die Augen zumachen, tief Luft holen und dann möglichst ruhig mit ihm reden.

»Halt dich mit beiden Händen fest, Riese.«

Tirie hatte keine Höhenangst. Seine spitzen Krallen klackerten auf dem Metallboden.

»Du musst die Flügel bewegen«, sagte Jadran, »damit Tirie sieht, wie es geht.«

»Das ist hier zu gefährlich«, wandte ich ein.

»Dann mach ich’s eben.« Jadran packte meinen Arm und wollte mir die Flügel abnehmen.

»Lass das!« Ich riss mich los und trat an den Rand der Plattform. Dann streckte ich die Arme seitlich aus.

Jadran dirigierte Tirie zu mir hin und redete dabei auf ihn ein: »Schau zu, mein Vögelchen. So geht Fliegen. Flügel spreizen und dann springen. Verstehst du?« Und zu mir sagte er: »Auf und ab, Josh. Immer auf und ab.«

Es war schaurig tief, und ich hatte Mühe, die riesigen Flügel ausgebreitet zu halten.

»So, jetzt ist es genug«, flüsterte ich. »Tirie hat’s kapiert.«

»Hat er nicht!«

»Vielleicht ist er noch nicht so weit …«

Zornig stampfte Jadran auf. »Mach endlich, Josh! Los!«

Im nächsten Moment erklangen von unten laute Rufe. Ich sah Yasmin über die Wiese rennen, anscheinend suchte sie uns. Sie sah hinter dem Fahrradschuppen nach, und als sie den Metallboden unter Jadrans Füßen dröhnen hörte, schaute sie hoch. Einen Augenblick lang mit offenem Mund.

»Was treibt ihr da?«, rief sie dann.

Ich legte die Flügel an und trat ein Stück zurück.

»Tirie lernt fliegen!«, brüllte Jadran. »Schau!«

Neben mir stand Tirie und hatte beide Flügel gehoben, auch den verletzten. Endlich ahmte er mich nach.

»Siehst du!« Jadrans tiefe Stimme hallte zwischen den Hochhäusern. »Ich hab’s doch gesagt. Ich sag immer alles, oder?« Nun breitete Tirie die Flügel weit aus, was er noch nie zuvor getan hatte. Sein Körper schwankte im Wind, es sah aus, als würde er gleich emporgehoben.

Yasmin winkte mit beiden Armen. »Eure Mutter ist nach Hause gekommen. Was, wenn sie euch so sieht?!«

»Komm, Jadran«, murmelte ich. »Gleich gibt’s Essen.« Damit konnte Mama ihn sogar aus der Badewanne locken.

Pwie ie ie! Flügelschlagend hüpfte Tirie auf der Plattform herum. Pwie ie!

»Er fliegt fast«, zischte Jadran. »Wir dürfen jetzt nicht aufhören.«

Wieder schloss ich die Augen und zählte bis drei. Dann ging ich auf Tirie zu. Jadran durfte auf keinen Fall explodieren. Nicht hier, zehn Meter über dem Boden.

Ich schluckte. »Gut. Ein Mal noch. Und dann gehen wir runter, abgemacht?«

Zwei Paar Flügel öffneten sich und begannen zu schlagen.

»Stärker!«, schrie Jadran. »Schneller, Kleiner!«

Er stand jetzt dicht hinter mir und Tirie. Ich hörte ihn keuchen. Ein letztes Mal schwenkte ich die blauen Flügel.

»Nicht!«, schrie Yasmin.

»Los! Du kannst das!«, rief Jadran triumphierend. »Wenn man es ganz fest will, kann man alles!«

Und dann versetzte er mir einen solchen Stoß, dass ich von der Plattform in die Tiefe stürzte.

Deltaflieger



Das Bett, die zwei Stühle und der Schrank – alles war weiß. Die Vorhänge waren grün, aber auch der Himmel sah wie ein blütenweißes Laken aus.

»Willst du Wasser?«, fragte Mama.

Aber ich hatte keinen Durst. Ich war noch zu benommen von der Narkose.

Mama hatte mir in groben Zügen erzählt, was passiert war. Ich war aus zehn Metern Höhe in die Tiefe gestürzt und lag wie tot im Gras. Yasmin war weinend losgerannt, um Hilfe zu holen. Währenddessen war Jadran ausgerastet. Schließlich hatten sie ihn durch ein Fenster im dritten Stock hereingezerrt.

»Ich hab ihn ermordet!«, brüllte er, als der Krankenwagen mit Blaulicht angerast kam. »Ich hab meinen Bruder ermordet!«

Es brauchte vier Sanitäter, um mich auf die Trage zu heben und gleichzeitig Jadran zu bändigen. Zum Glück hatten sie Beruhigungstabletten dabei, denn allein mit Worten wäre nichts zu machen gewesen. Von den Tabletten wurde Jadrans Zunge dick, und er bekam einen Zombieblick.

Ich wurde ins Krankenhaus gebracht. Stundenlang war mein Bein operiert worden, und danach hatte ich fast rund um die Uhr geschlafen.

»Ist Tirie geflogen?« Meine Stimme klang heiser und wie von weit her, als gehörte sie jemand anderem.

Mama seufzte, und es war, als zöge damit eine dunkle Wolke ins Zimmer. »Dreimal um die Wiese, hat Yasmin gesagt.«

Frau Doktor Mbasa stand in der Tür. Sie war groß und hatte sehnige Arme. Ihre dunklen Locken schauten unter der Kappe hervor.

»Du hast viel Glück gehabt, Josh.« Sie lächelte, wie nur Ärzte es können, mit einem liebevollen Zug um den Mund und ansonsten unbewegter Miene. »Deine Wirbelsäule hat keinen Schaden genommen. Und die Beine sind auch noch dran.«

Meine Beine.

Ich schob meine Hand unter die Bettdecke und fühlte ein dünnes Krankenhaushemd und jede Menge Verband und Pflaster. Mein rechtes Bein war von der Leiste bis unter die Wade eingegipst. Und um den linken Fußknöchel hatte ich eine dicke Bandage.

»Drei Brüche und ein Wunder«, sagte Mama leise.

»Morgen bekommst du einen Rollstuhl«, sagte Frau Doktor Mbasa. »Und dann wird geübt. Glaub mir, ich mache einen Rollstuhlchampion aus dir.«

Meine Haut unter dem Gips zog sich zusammen. Mama sagte, die Operationswunde sei mit zwölf Stichen genäht worden.

»Wann kann ich wieder laufen?«, fragte ich.

»Da musst du noch ein bisschen Geduld haben«, meinte Frau Doktor Mbasa. »Aber wenn der Winter vorbei ist, rennst du wieder in die Schule.«

»Das sind ja ein paar Monate!«

Mama fand es auch zu lang, das sah ich ihr an, aber sie sagte nichts. Stattdessen stand sie auf und stopfte mir ein Kissen in den Rücken.

Um sechs kamen Murad und Yasmin, um Mama abzulösen.

Jadran saß draußen im Auto, er hatte nicht aussteigen wollen.

»Hallo«, sagte Murad.

Und »Hallo« sagte auch Yasmin.

Ich grüßte nicht zurück.

Yasmin hängte ihren Wollschal über die Heizung. Bald roch das ganze Zimmer nach nassem Schaf.

»Ich habe was Feines mitgebracht.« Murad zauberte ein Karamellbonbon nach dem anderen hervor.

Mama ging Kaffee holen. Als sie wiederkam, gab sie Murad den Plastikbecher. Dann rückte sie einen Stuhl ans Kopfende meines Betts und klopfte auf die Sitzfläche, um ihm deutlich zu machen, dass er dort sitzen sollte. »Ich schaue inzwischen nach Jadran«, sagte sie. »Später rufe ich dich noch mal an, kleiner Riese.« Sie gab mir einen Kuss, der so laut schmatzte, als wäre es ein Abschied für Jahre.

Yasmin fummelte an ihrer Jacke herum. Sie starrte den Gipshügel unter der Decke an. Ihr Pony war nachgeschnitten. Zwischen den schwarzen Fransen und ihren Augenbrauen war fast ein Zentimeter frei.

»Hast du Schmerzen?«, fragte sie.

Ich zuckte mit den Schultern.

»Heute Nacht habe ich von dir geträumt«, fuhr Yasmin fort. »Du hast die Flügel angehabt und bist wie eine Rakete losgeschossen.«

Wir tranken lauwarmes Krankenhauswasser und lutschten Murads Karamellbonbons. Yasmin spitzte ein wenig die Lippen. Ich ertappte mich dabei, dass mir das ziemlich gut gefiel.

»Die Flügel habe ich in euer Zimmer gelegt«, sagte Yasmin.

»Deine Mutter wollte sie wegwerfen, aber ich dachte …«

Das Karamellbonbon klebte an meinen Zähnen fest. Darum lächelte ich mit geschlossenem Mund.

Murad rückte noch ein wenig näher an mein Bett. Auf dem Flur ratterte es, wahrscheinlich eine Schwester mit einer Karre.

»Bist du sehr böse auf Jadran?«, fragte Murad.

»Er ist mein Bruder.«

»Ich an deiner Stelle würde rasen vor Wut. Aber du nimmst das Ganze ziemlich gelassen.«

Gelassen fühlte ich mich ganz und gar nicht. Gerädert, das traf es besser. Ich schob die Hand unter das Krankenhaushemd. Mein Bauch war hart und kalt, als wäre der Gips bis zum Nabel hochgewandert.

»Jadran hat geglaubt, dass ich fliegen kann«, sagte ich.

Murad zog die Augenbrauen hoch. Ich sah ein paar graue Haare darin.

»Du hast es, glaube ich, nicht leicht mit Jadran. Er ist manchmal so fürchterlich …«

»Fröhlich!«, ergänzte ich rasch. Ich konnte es nicht leiden, wenn andere über Jadran redeten, als wäre er ein Problem, für das man sich eine Lösung ausdenken musste.

»Stimmt, fröhlich ist er oft.« Murad lachte. »Aber wenn das mal nicht so ist, kannst du mich jederzeit …«

Ich fühlte mich wie eine Gipsmumie. Murad trank einen Schluck aus meinem Becher und legte dann eine Hand aufs Bett, dicht neben meine.

»Hast du gewusst, dass Kraniche voll eklig rülpsen?«, fragte ich.

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