Kitabı oku: «Der Lucas ist los!»

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Datensind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

eISBN 9783865064363

© der deutschsprachigen Ausgabe

2012 by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers

Originally published in Englisch under the title:

The Lucas Unleashed by Jeff Lucas

Copyright © 2010 by Jeff Lucas

Published by Authentic Media Limited, 52 Presley Way,

Crownhill, Milton Keynes, MK8 0ES

Übersetzt von Christian Rendel

Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers

Satz: BrendowPrintMedien, Moers

www.brendow-verlag.de

Für David Wilkes (1947–2008),

der unter der Gnade mutig einen dunklen Weg ging.

Und für die liebe Annie, seinen „Felsen“.

Inhalt

Innentitel

Impressum

Zitat

Einleitung

Ein Ständchen

Ein menschlicher Sonnenuntergang

Batman

Das Schwert der Wahrheit in der Hand

Willkommen

Taxi

Stummer Zeuge?

Das Alltägliche feiern

Veränderung

Ein Lob auf Plass

Immer schön locker bleiben

Ausgerechnet Alaska

Mal wieder so ein Tag

Perfekte Sehschärfe

Autsch

Hope

Mein Name ist

Ich kann mich irren

Ich kann mich immer noch irren

Das Tempo des Lebens 1: Ketchup

Das Tempo des Lebens 2: Bevor du zubeisst

Spieglein, Spieglein

Rob Lacey

Schrei um Hilfe

Zeichen

Aberglaube

Die Gepäckpolizei

Weihnachten im Frühjahr

Eine tödliche Waffe

Nicht wie in der Werbung

Westminster Cathedral

Hoppla, jetzt kommst du ...

Fixiert

Träum weiter

EINLEITUNG

Das Gespräch hatte etwas Verstohlenes an sich, so als unterhielten wir uns über irgendetwas furchtbar Unanständiges. Diese Unterredung hinter vorgehaltener Hand fand hinten in einem Gottesdienstsaal statt, nachdem ich dort gerade gepredigt hatte. Gewappnet mit Teetassen und leckeren Plätzchen, war ein älteres Ehepaar auf mich zugekommen und hatte mich „auf ein Wort“ gebeten, mit derselben Formulierung, die Phil Mitchell aus EastEnders meistens gebraucht, wenn er im Begriff ist, jemanden umzubringen. Ich fürchtete um meine Kniescheiben.

Anfangs machten die beiden sehr ernste Gesichter, und ich machte mich schon zumindest auf einen „in Liebe“ mitgeteilten Kommentar gefasst (von der Sorte, wie ich sie schon hin und wieder zu hören bekommen habe – mein Wunsch in solchen Situationen ist immer, mich mit einem Hechtsprung in Sicherheit zu bringen). Während des Abends hatte ich reichlich Geschichten erzählt, auch humorvoller Natur. Ob sie darüber empört waren? Hatte ich ihren Zorn erregt mit meinem hingeworfenen Spruch über miesepetrige Christen, die ich die „gefrorenen Erkorenen“ nannte, die „den Herrn kennen, aber trotzdem noch Weizenkleie brauchen“? Auch ein paar provozierende theologische Fragen hatte ich gestellt – nicht so radikal, dass ich Gefahr gelaufen wäre, als Ketzer verbrannt zu werden, aber doch vielleicht heftig genug, um die eine oder andere heilige Kuh zu verschrecken.

Als das Ehepaar näher kam, beruhigte mich der Ausdruck in ihren herzlichen, funkelnden Augen. Selbst wenn sie sich beschweren wollten, würden sie es auf freundliche Art tun. Doch statt mir die Leviten zu lesen, waren sie gekommen, um mir zu sagen, wie sehr sie den Gottesdienst im Allgemeinen und meine Predigt im Besonderen genossen hatten. Ich seufzte erleichtert. Ich weiß, konstruktive Kritik ist dem Wachstum förderlich, aber deswegen muss ich ja keinen Spaß daran haben. Und hin und wieder laufe ich gestrengen Seelen in die Arme, die erst dann munter werden, wenn sie anderen ihre Irrtümer nachweisen können. Da sind mir freundliche Worte stets viel willkommener.

„Jeff, vielen Dank für die Predigt“, flüsterte die Frau. Ihr Mann nickte und steuerte im selben gedämpften Tonfall eine rhetorische Frage bei. „Meine Güte, was haben wir uns amüsiert, was?“, sagte er. Ob die beiden wohl Angst hatten, der Gemeindesaal wäre verwanzt? Plötzlich merkte ich, dass die beiden sich beim Sprechen nach allen Richtungen umschauten, so als rechneten sie damit, gleich von der Gedankenpolizei verhaftet zu werden. Was mochte es mit dieser Heimlichtuerei auf sich haben? Waren sie im Begriff, mich zu fragen, welche Bibelübersetzung ich benutze, um mir dann unter der Hand Cannabis zu verkaufen?

„Gelernt haben wir auch eine Menge“, sagte die Frau, wie um geflissentlich klarzustellen, dass sie den Inhalt ebenso zu schätzen wussten wie die Witze. „Es war richtig erfrischend – es tut so gut, wenn es in der Kirche zur Abwechslung mal um das wirkliche Leben geht.“

Wir unterhielten uns noch ein paar Minuten lang, und als sie sich schließlich verabschiedeten und davongingen, murmelte ich ein Dankgebet für diese liebenswerten, aufmerksamen Leute, die extra zurückblieben, um mir ein paar bestärkende Worte zu sagen. Dann jedoch kamen mir ein paar Fragen in den Sinn, die ich nicht wieder abschütteln konnte. Wie Mückengebrumm summten sie gut und gern eine Stunde lang zwischen meinen Ohren hin und her. Das ist jetzt Monate her, und sie nagen immer noch an mir.

Wie kommt es, dass es manchen Leuten so seltsam und ungewöhnlich vorkommt, in der Kirche lauthals zu lachen? Und wenn die Beschäftigung mit dem wirklichen Leben eine willkommene „Erfrischung“ ist, wovon reden diese lieben Leute dann die ganze übrige Zeit?

Zum Glück leben wir in einer Zeit, in der es in der Kirche immer selbstverständlicher wird, dass in ihren öffentlichen Äußerungen Humor und Geschichten vorkommen und dass ein Prediger sich verwundbar zeigt, statt sich zu präsentieren wie Superman, nur ohne die blauen Strumpfhosen. Und dennoch gibt es immer noch viel zu viele Christen, die es merkwürdig finden, am Sonntagmorgen ohne frömmelnden oder weltfremden Jargon von den Dingen des Montagmorgens zu sprechen. Es gibt immer noch Gemeinden, in denen man angeguckt wird, als hätte man Herpes, wenn man zugibt, hin und wieder mal Zweifel zu haben, und in denen die „Zeugnisse“ immer ein Happy End haben müssen. Und es gibt Christen, die nur mit einem Glauben etwas anfangen können, der immer die Antworten liefert, aber mit hartnäckigen Fragen seine Not hat.

Womit wir bei diesem meinem vierten Buch in der Serie meiner Gedankenspaziergänge über das Leben sind, Der Lucas ist los. Anfangs hatte ich meine Bedenken, was diesen Titel angeht, weil er sich anhört, als hätte man mich von der Leine gelassen wie einen bissigen Hund. Loslassen kann man auch eine Salve von Beleidigungen. Außerdem hört sich Der Lucas ist los gefährlich ähnlich an wie Hau den Lucas. Vielleicht lässt der Titel an einen außer Rand und Band geratenen Verrückten denken. Eine Schimpftirade würde keiner lesen wollen.

Aber was das angeht, kann ich Sie beruhigen. Ich möchte Sie mit diesem Buch zum Lachen, zum Weinen und zum Nachdenken bringen, wenn auch nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Wenn ich mich auf diesen Seiten über irgendetwas beschwere, dann werde ich der Versuchung widerstehen, das in eine Gardinenpredigt ausarten zu lassen, und mir ist völlig klar, dass ich selbst ein Teil des Problems bin. Aber Der Lucas ist los ist ein guter Titel, denn ich lasse mich nicht in jene Zwangsjacke aus Etikette, Höflichkeit oder Fadheit stecken, die in der Kirche so oft zu finden ist.

Vielleicht wird es vorkommen, dass ich in diesem Buch Dinge offen ausspreche, die Sie im Stillen auch schon gedacht haben. Vielleicht äußere ich auch eine Ansicht, mit der Sie überhaupt nicht einverstanden sind. Das ist wunderbar. Wir gehören zur Gemeinde Jesu Christi, nicht zu einer Sekte. Meinungsverschiedenheiten gehören zum Lernprozess. Jeder von uns könnte sich irren. Vielleicht lassen Sie sich anregen, über etwas noch einmal neu nachzudenken, oder vielleicht bringen Sie sich mit Tränen in der Öffentlichkeit in Verlegenheit, wenn Sie manche der nun folgenden Worte lesen. Ich möchte Ihnen auf diesen Seiten ein paar umwerfende Leute vorstellen; selbst mir kommen immer noch die Tränen, wenn ich mich an sie erinnere.

Aber wie auch immer Ihre Reaktion ausfällt, ich hoffe, dass dieses Buch etwas Neues in Ihnen loslässt – einen Hunger nach mehr echtem Gespräch über den Glauben, ein Verlangen nach handfestem Vertrauen, das Sie durch einen ganzen Wald voller Fragezeichen steuern kann, und vielleicht sogar eine tiefere Liebe zu Gott und diesen seltsamen Leuten, die ihm nachfolgen – zu uns.

Und wer weiß? Vielleicht macht das Ganze ja auch noch Spaß.

Herzlichst,

Jeff Lucas


EIN STÄNDCHEN

Letzte Woche wurde mir – erstmals in meinem Leben – von drei betrunkenen Männern ein Ständchen dargebracht. Ihr Gesang war nicht gerade umwerfend, was wohl vor allem daran lag, dass einer aus dem Trio innere Freiheit bewies und sich für eine andere Tonart entschied. Ziemlich aus dem Takt war er auch; und mit dem Text war er mindestens eine Sekunde hinterher. Er hörte sich an wie ein verstimmtes Echo.

Das Ganze fand während einer Karaokeveranstaltung statt. Ich kann Karaoke (was meiner Vermutung nach wohl das japanische Wort für „musikalische Taubheit“ sein muss) nicht ausstehen, weil es meistens darin besteht, dass Leute ihr Gesangstalent präsentieren, die eigentlich nicht einmal in der Dusche singen sollten, geschweige denn in der Öffentlichkeit. Trotz alledem war das Liedchen, das jenes fröhliche Triumvirat so unmelodiös trällerte, ein ausgesprochen lieblicher Klang in meinen Ohren.

Es passierte während einer landesweiten Pastorenkonferenz, und keine Angst, diese Jungs, die schon etwas zu lange beim Wein gesessen hatten, waren keine Teilnehmer dieser kirchlichen Veranstaltung. Zweitausend Pastoren hatten sich in einem Konferenzzentrum in San Diego eingefunden. Ich war einer der Referenten auf der Konferenz. Meine Frau Kay begleitete mich, und an einem der Abende beschlossen wir, noch zu später Stunde in der Hotelbar einen Schlummertrunk zu uns zu nehmen. Ein paar Pastoren von der Konferenz saßen verstreut in der Bar herum; manche davon in ernste Gespräche über das Leben, die Kirche und das Universum vertieft.

Mir fiel auf, dass die meisten von ihnen Limonade nippten. Ermutigt durch das erste Wunder, von dem Johannes in seinem Evangelium berichtet, bestellten wir uns zwei Gläser Cabernet Sauvignon.

Dann kamen unüberhörbar und in bester Stimmung die drei Männer herein. Sie waren nach einem feucht-fröhlichen Abend weniger betrunken als vielmehr beschwingt und gerade dabei, sich auf eine bevorstehende Hochzeit einzustimmen. Nachdem sie sich etwas zu trinken bestellt hatten, wandten sie sich zu uns und begrüßten uns wie alte Freunde. Unser britischer Akzent machte ihnen sichtlich Freude, und sie erzählten uns von ihrem Abend, ihrem Leben, ihren Berufen und einer Vielzahl weiterer Einzelheiten. Einer von ihnen fragte sogar Kay, wieso eine so schöne Frau wie sie sich entschlossen habe, einen älteren Herrn wie mich zu heiraten.

Wir plauderten eine Zeit lang, und sie schienen uns zu mögen. Nach einer Weile entschuldigte sich einer von ihnen für ihre ausgelassene Stimmung und sagte, wenn wir sie loswerden wollten, würden sie ohne Umschweife gehen, denn sie wollten uns nicht belästigen. Wir baten sie zu bleiben, denn wir hatten unseren Spaß mit ihnen. Auf der Leiterkonferenz hatten wir soeben zwei schöne, aber auch sehr kopflastige Tage lang versucht dahinterzukommen, wie wir die Welt effizienter verändern könnten. Ich war mürbe von der „Tyrannei des Sollens“, die mich auf christlichen Versammlungen oft verfolgt, und auch ein kleines bisschen ungeduldig mit der christlichen Gemeinde, die, wenngleich zu radikaler Veränderung berufen, oft schon zu jammern anfängt, wenn die Gesangbücher ausgetauscht werden. Es war erfrischend, sich zur Abwechslung mal über Dinge zu unterhalten, die nichts mit Kirche zu tun hatten, auch wenn unsere Gesprächspartner schon ein wenig undeutlich sprachen.

Nach langem Hin und Her gab ich mich schließlich als Geistlicher und Vortragsredner zu erkennen. Ich dachte schon, sie würden schlagartig nüchtern werden, sich Knoblauch um die Hälse hängen und die Flucht ergreifen: Pastoren sind nicht bei jedermann beliebt. Doch falls sie über die Anwesenheit eines Geistlichen beunruhigt waren, ließen sie sich nichts davon anmerken. Das war auch besser so, denn schließlich hielten sich zweitausend davon in der Nähe auf. Der künftige Trauzeuge unter ihnen bat mich um ein paar Tipps für seine Hochzeitsansprache, mit denen ich ihm gerne aushalf.

Dann passierte es. Sie entschuldigten sich, gingen hinüber zu der vermaledeiten Karaokemaschine und meldeten sich zu einer Darbietung an. Bevor sie ein paar Minuten später eine fast nicht wiederzuerkennende Version eines Elton-John-Klassikers anstimmten, überraschte uns einer von ihnen, indem er uns das Lied widmete. Er deutete aufs Geratewohl in unsere Richtung:

„Wir möchten dieses Lied unseren Freunden da drüben widmen, Jeff und Kay Lucas … dies ist für euch.“ Ich spürte die Blicke einiger der ernsten, Limonade nippenden Geistlichen in meine Richtung schwenken – oder war das nur Einbildung? Meinerseits starrte ich stur geradeaus und überlegte, ob jetzt alle dachten, ich hätte eine Sause gemacht und mich mit einer betrunkenen Schar von Möchtegern-Nachtclubsängern zusammengetan …

Doch dann musste ich lächeln. Ich war dankbar, dass die fröhlichen drei Gesellen gerne mit uns zusammen waren. Sie waren nicht davongelaufen, als ich sagte, ich sei Pastor. Ohne zu viel Aufhebens um diesen Moment machen zu wollen, hat er mich doch eine Lektion gelehrt.

Ich möchte gerne jemand sein, in dessen Nähe Leute, die Gott nicht kennen, sich wohlfühlen. Das heißt nicht, dass mein Leben sie nie herausfordern sollte. Schließlich sollen wir das Salz der Erde sein, nicht der Zucker. Ich rege nicht an, dass wir uns einschmeichelnd anpassen und uns genauso geben und anhören wie jeder andere, weil wir dazugehören wollen. Manchmal werden die Entscheidungen, die wir treffen, und die Standpunkte, die wir vertreten, für diejenigen, die Christus nicht nachfolgen wollen, eine Herausforderung sein.

Doch die Widmung des Liedes und unsere Unterhaltung an jenem Abend stoßen mich zu dem Gebet an, Gott möge mich auf andere so gewinnend wirken lassen, dass ich zumindest hin und wieder eine unerwartete Einladung bekomme, was ja auch Jesus oft passiert ist. Freilich ist das immer riskant. Dass er sich mit den Unheiligen abgab, brachte mit sich, dass er von den Frommen ständig missverstanden wurde. Dennoch ließ er sich nicht davon abbringen, sich mit den „falschen Leuten“ zu umgeben, die ihn liebten, und nicht nur wegen seiner legendären Fähigkeit, auf Partys für hervorragenden Wein zu sorgen. In seiner Kultur war es weitaus mehr als nur eine Nebensächlichkeit, mit jemandem zusammen zu trinken oder zu essen: Es drückte Akzeptanz und Identifizierung aus. Das Wunder bestand nicht nur darin, dass Jesus gerne Zeit mit Sündern verbrachte, sondern auch darin, dass sie gerne Zeit mit ihm verbrachten. Ganz im Gegensatz zu den abweisend dreinblickenden Pharisäern, die um hartgesottene Sünder einen großen Bogen machten, nahm Jesus sie mit offenen Armen auf. Und dafür rollten sie ihm den roten Teppich aus.

Wer ihm nachfolgt, soll so sein wie er. Und um so zu sein wie er, muss man auch dieselben Risiken eingehen.

EIN MENSCHLICHER

SONNENUNTERGANG

Ich habe zu viele Sonnenuntergänge versäumt.

Durch meine vielen Reisen, meinen vollen Terminkalender und meinen unablässigen Hang, atemlos durch die meisten meiner Tage zu hasten, habe ich unzählige Termine mit der untergehenden Sonne verpasst. Als bekennender Tempoholiker denke ich, wenn unser Dasein idyllisch wäre, würden wir alle am Ende eines Tages eine Pause einlegen: um dankbar zu sein, um miteinander anzustoßen, um aus vollem Herzen nicht die Sonne anzubeten, sondern den, der sie geschaffen hat. Leider kommt es allzu oft vor, dass die allabendliche Vorstellung am Himmel ohne mich als Zuschauer stattfindet. Annie Dillart, die uns aufruft, aufmerksam durchs Leben zu gehen, klagt: „Allzu oft spielt die Schöpfung vor leeren Rängen.“

Aber nicht heute. Während eines Spaziergangs auf dem Land am späten Nachmittag wurde uns ein absolut umwerfender Sonnenuntergang beschert. Er verlangte unsere hingerissene Aufmerksamkeit. Wir blieben für eine Weile stehen. Es wäre falsch gewesen, nicht stillzustehen und staunend hinzuschauen. Leuchtende Orangetöne, akzentuiert mit dem tiefen rot von Granatäpfeln, breiteten sich lautlos am dunkler werdenden Himmel aus und verschlangen nach und nach die blaue und braune Dämmerung. Die eben noch scharf umrissenen Silhouetten großer Bäume schmolzen dahin und verschwanden schließlich in den Hängen, als endlich die Sonne versank und Gott wieder einmal einen Tag mit einem extravaganten Schnörkel signierte. Es war ein perfektes Ende. Dallas Willard sagt, Gott sei überall auf der Erde ständig am Spielen. Dieses Lichterspektakel am Himmel war ein Meisterstück, umso kostbarer, als es wenige Sekunden später verschwunden war. Gottes Kunst ist meistens für den Moment bestimmt, nicht fürs Museum. Und deshalb verpasst man sie auch so leicht.

Doch gestern begegnete ich einem Menschen während seines Sonnenuntergangs, und das war ein ebenso atemberaubender Anblick. James sprach mich am Ende eines Gottesdienstes an, bei dem ich gesprochen hatte. Er war ein alter Mann mit schneeweißen Haaren und hellen, sanften Augen, verströmte Freundlichkeit und schien von keiner Sorge getrübt zu sein. Doch weit gefehlt. Ich wusste noch nicht, dass James bereits zum Tode verurteilt war.

Später kam James’ Sohn auf mich zu und fragte, ob ich einen Moment Zeit hätte, mit seinem Vater zu beten. Wir stellten uns zu dritt zusammen, und ich fragte, wofür ich am besten beten solle. „Papa hat Krebs im Endstadium, und ihm wurde gesagt, dass er nicht mehr lange zu leben hat. Nicht wahr, Papa?“ Ich zuckte innerlich zusammen. Diese krasse Verkündung eines Todesurteils verunsicherte mich; doch dann wurde mir bewusst, dass diese Familie der schlimmsten aller Nachrichten unerschrocken ins Gesicht sah, und fasste mich. „Papa leidet beständige Qualen. Auch im Augenblick hat er unerträgliche Schmerzen.“ Wieder schaute ich James in die Augen. In ihnen war keine Spur der mörderischen Foltern zu erkennen, die er erduldete. „Es tut mir sehr leid, Sie damit zu belasten“, sagte James besorgt. „Aber es dauert ja nur einen Augenblick, nicht wahr?“ Ich wollte ihm sagen, dass es mir auch nichts ausmachen würde, wenn es einen ganzen Tag oder eine ganze Woche dauern würde. Wenn wir ihn nur aus seinen verheerenden Schmerzen herausbeten könnten oder was auch immer das Endresultat unseres Gebets sein würde, es würde mir eine Ehre sein, mit ihm zu beten. Wie kommt es eigentlich, dass es manchen Leuten, die entsetzlich leiden, so sehr widerstrebt, anderen auch nur im Geringsten zur Last zu fallen?

Ich legte beiden meine Hände auf, und dann begannen die Schwierigkeiten. Eigentlich wollte ich mit vollmächtigem Ernst beten und darauf bestehen, dass jede Spur der Krebserkrankung augenblicklich aus diesem Körper verschwinden möge. Ich wünschte mir sehnlichst, James von jeder mutierten Zelle freizusprechen, damit er erleben könnte, wie seine Enkelkinder groß wurden. Aber das konnte ich nicht. Über die Jahre habe ich Amen zu so manchem Gebet gesagt, das vergeblich darauf bestanden hatte, der Krebs möge ausgetrieben werden. Ich bin immer noch fest davon überzeugt, dass Gott imstande ist, Menschen zu heilen, und dass er es auch heute noch manchmal an manchen Orten tut. Ein Arzt, mit dem ich befreundet bin, betete einmal für einen Mann mit unheilbarem Krebs – es hatten sich schon einige Metastasen gebildet. Weniger als fünf Prozent der Erkrankten überleben diese Krebsart für länger als zwei Jahre. Das ist jetzt etwa sechs Jahre her, und der Patient ist immer noch sehr lebendig und erfreut sich bester Gesundheit. Doch meine eigene Zuversicht im Blick auf Heilungsgebete hat Beulen bekommen. Mir fällt es schwer, zu erkennen, wofür ich beten soll, und ich habe schon zu oft Prediger gehört, die Heilungsgebete mit dem Vorbehalt „wenn es dein Wille ist“ als weichlichen Kleinglauben verhöhnten (obwohl Jesus selbst uns gelehrt hat, genau diese Worte zu sprechen).

Also betete ich, Gottes Gnade möge James und seine Familie tragen und Gottes Eingreifen möge sichtbar werden, auf welche Art und Weise auch immer. Ein paar Minuten später verabschiedete ich mich von James in der Hoffnung, dass es kein endgültiger Abschied war. Draußen auf dem Parkplatz bedankte sich sein Sohn überschwänglich bei mir, weil ich ihnen ein paar Sekunden geschenkt hatte. Dabei musste eigentlich ich mich bei ihm bedanken. Menschlich gesehen habe ich viel mehr Zeit als sein Vater. Aber so war er nun einmal: dankbar und freundlich. Wie der Vater, so der Sohn.

Kurz darauf im Auto wurde mir klar, dass ich gerade eines der Wunder des Lebens zu sehen bekommen hatte: einen Mann in den Momenten seines eigenen Sonnenunterganges, der im Frieden war und mit Würde dem Sterben entgegenging. Ich wünschte sehr, James würde wieder gesund werden und Gott würde sich als größer erweisen als der Krebs. Doch selbst wenn der Krebs ihn schon bald dahinraffen sollte, wird er nicht gesiegt haben, denn dieser Sonnenuntergang wird nicht in völliger Dunkelheit enden. Das Licht der Hoffnung und des Glaubens, das Licht, das Jesus ist, die Auferstehung und das Leben, kann nicht überwunden werden, nicht einmal vom Tod selbst.

Sie sind ein wunderbarer Sonnenuntergang, James. Ich bin froh, dass ich Sie nicht verpasst habe.

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Litres'teki yayın tarihi:
22 aralık 2023
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