Kitabı oku: «degenerama», sayfa 2

Yazı tipi:

Brust auf Eis …

„Was hast du dir nur dabei gedacht?“

Spade stand an diesem Morgen im kleinen Innenhof des Restaurants. All die Stühle waren noch auf den Tischen und die Tische noch nicht mal im Hof mit den von Efeu bewachsenen Mauern. Hinter den Glastüren huschten schon wirtschaftenden Gestalten umher. Die Umrisse waren schemenhaft wie von nachtaktiven Tieren. Herr Schmitt schaute zu seinen schwarzen, glänzenden Schuhen. Die Ärmel hochgekrempelt, stand der kleine Mann mit zurückgekämmtem schwarzem Haar vor dem großen Mann, Spade. Er schüttelte unentwegt den Kopf.

„Was hast du dir verdammt noch mal dabei gedacht?“ Er klopfte die Asche von der glimmenden Kippe. „Du bist Kellner, verdammt! Weißt du, was das Wichtigste an einem Kellner ist, außer seinen Fähigkeiten? Sein Gesicht! Soll den Gästen der Appetit vergehen? Wir sind ein Scheiß-Fünf-Sterne-Restaurant! Bei uns essen Promis!“

Wieder schüttelte er den Kopf und hoffte, dass Spade sich das Gesicht wie eine Gummimaske herunterreißen würde, um seinen bösen Scherz zu bekunden, doch Spade würde noch konnte sich das Gesicht herunterreißen, weil es nämlich nicht aus Gummi war, sondern aus Haut. Es war so eindeutig echt und so eindeutig schrecklich. Es wäre kein Problem, wenn man die Falschheit dieser Züge sofort als Maske identifizieren könnte, doch bei einem genauen Blick waren Poren zu sehen und gerade im Verschwinden begriffene Blutergüsse. Dieser Irre hatte sein hübsches Gesicht zu einer Fratze verzerren lassen.

„Sag mir, was ich mit einem Kellner wie dir anstellen soll, hm?!“, schrie er.

„Ruhig, ganz ruhig. Ich bin hergekommen, um zu arbeiten, obwohl mir sicher jeder Arzt geraten hätte, noch zu Hause zu bleiben, bis mein Gesicht geheilt ist.“

„Du hast einen ganzen Tag gefehlt!“, schrie Herr Schmitt. „Einen ganzen Tag, ohne Krankmeldung oder Entschuldigung. Kannst du dir vorstellen, was gestern los war? Uns hat einfach ein Kellner gefehlt und nicht irgendeiner, sondern du, Ben!“

„Ich heiße Spade“, beteuerte er.

Herr Schmitt drehte den ausgebrannten Filter zwischen den Fingern. Fast hätte er ihn einfach weggeschnippt und gerade wurde ihm bewusst, dass er auf das saubere Pflaster geascht hatte, was seinen Zorn nicht gerade dämpfte.

„Du warst schon immer irre. Wie konnte ich einen Verrückten wie dich überhaupt anstellen, Ben, verrate mir das mal?“

„Ben ist der Name, den mir meine Eltern gaben. Nicht der Name, den ich mir gab. Habe ich nicht das Recht, selbst zu entscheiden, wie ich heißen will?“

„Als du deinen ersten Tag hier hattest, blieb mir verdammt noch mal fast das Herz stehen. Verstehst du?! Ich bin fast gestorben, als du plötzlich das Tablett mit den vollen Sektgläsern in die Luft warfst!“ Herr Schmitt deutete es an. „Und ich traute meinen Augen nicht, als du es wieder auffingst, bevor auch nur ein Tropfen danebengehen konnte! Ich weiß nicht, wie du das gemacht hast, aber die Gäste liebten dich, wirklich. Du warst eine Scheißattraktion! Kannst du dir vorstellen, dass diese Modelady gestern da war und fragte: ‚Wo ist eigentlich Ben? Wo ist dieser akrobatische Kellner?‘ Ist dir klar, dass du ein höheres Gehalt bekamst als die anderen? Ist dir das klar? Ist dir klar, dass einige Promis nur herkamen, weil du hier bist, und nicht ins Dosier gingen? Nur, weil wir dich haben.“ Er kratzte sich nervös den Nacken, hätte fast wieder den abgebrannten Filter weggeschnippt und steckte ihn lieber in die Tasche. „Sag mir, was du dir dabei gedacht hast, aus deinem Gesicht eine Katastrophe zu machen.“

Spade zog seinen Mund breit, um zu lächeln, ohne es wirklich zu tun, was Herrn Schmitt sicher noch mehr provozierte. „Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit. Meine sogenannte Fratze entspricht meiner Persönlichkeit mehr als das Gesicht Ihres Kellners. Ich habe ein Recht, so auszusehen, wie ich will. Es ist meine private Entscheidung.“

„Das kann schon sein, aber weißt du auch, dass deine‚persönliche Entfaltung‘ so dermaßen exzentrisch ist, dass du gesellschaftsunfähig wirst? Verdammt! Ich habe dich für einen schlauen Kerl gehalten. Jeden hätte ich schon längst gefeuert, wenn er einen ganzen Tag wegbleibt, selbst wenn er sich in der Saison krankmelden würde. Ich kann wegfallende Arbeitskräfte nicht gebrauchen. Aber dich nicht, nein, Ben, nicht dich. Weil du einfach ein Goldesel warst. Dich habe ich nicht gefeuert. Aber so kann ich dich hier nicht arbeiten lassen. Ich habe nicht mal wegen deiner langen Haare was gesagt, solange du sie ordentlich zurückgekämmt hast, aber das da“, er deutete auf Spades Gesicht, „ist einfach nicht tragbar. Mach, dass du wegkommst. Du bist gefeuert. Sieh zu, dass du nicht untergehst. Auch wenn du das mit dieser Fratze sowieso wirst.“ Er drehte sich zur Glastür und wandte sich von dieser Katastrophe ab.

„Hey“, rief Spade und diesmal lächelte er wirklich, aber es war nicht zu erkennen.

Herr Schmitt blieb stehen.

„Man kann Menschen nicht wie Uhrwerke aufziehen. Ich bin organisch. Und nicht die Summe meiner Teile.“

Herr Schmitt schaute nicht zurück, der Anblick war einfach zu erschreckend. Was für ein grauenerregender Falter aus seiner leuchtend grünen Raupe geworden war. „Traurigerweise nicht“, gab er zu.

Spade, nun arbeitslos, blieb nichts Besseres übrig, als in eine Bar zu gehen. Er folgte den Stufen hinunter in den Dachsbau, nahm die geflieste Treppe, die tief ins Innere der Erde führte oder wenigstens in die untersten Hautschichten der Erde, wie die Nadel eines Tätowierers. Er ging nach hinten in das Gewölbe der Kellerbar. Gleich am Eingang des länglichen Raumes stand die hell und warm beschienene Bar. An den Wänden hingen Nachdrucke von Francis Bacon und Fratzen von Marshall Arisman, Lichterketten und bunte Lichter. Die Bänke und Tische waren aus dickem, mit Lack bestrichenem Holz und links neben der Theke befand sich eine kleine Erhöhung mit einem Tisch, umschlossen von einer Holzbank. Dort konnte Spade bereits seine Truppe an Punks und Außenseitern sehen.

Sie waren alle Menschen, die sich ihrer Entscheidungsfreiheit beraubt fühlten und ihre Gesichter auf eigene Faust entstellten. Da war der fast schon magnetische Tetsuo, nach dem Film Tetsuo: The Ironman benannt, mit der Fresse voller Piercings und Metall, sodass kaum Haut hindurchschaute. Dennis mit seinem aufgequollenen Gesicht, das er sich hatte blutig schlagen lassen. Die Lippen sahen aus wie violette Schlauchbote und die Augen waren fast zugeschwollen, das Gesicht voller blauer Flecke und Blutergüsse, als hätte er es unter einen Dampfhammer geschoben. Nicht zu vergessen Marc, dessen Gesicht uneben war, fast wie bei jemandem, dessen Haut allergisch auf Theaterschminke reagierte, der sie aber trotzdem trug. Es war angefressen und weiß vom Löschkalk, den er sich ins Gesicht geschmiert hatte. Und Harry Twoface, der eine Seite seines Gesichtes mit einem heißen Bügeleisen bearbeitet hatte. Stolz wie Bolle hatte er vom Gestank verbrannten Fleisches erzählt und dass seine geschmolzene Haut zischte und lange Fäden wie Pizzakäse vom Bügeleisen zog. Und da ein ganz neues Gesicht, das einer eleganten, schlanken Frau in Schwarz mit glatt am Kopf liegendem, rotblondem Haar, das kinnlang sein musste. Die schiefe Nase war spitz genauso wie ihr Lächeln, während Spades Quartett mit ihr redete und scherzte. Die langen Beine dunkel von Strapsen überschlagen und in hochhackigen Schuhen, saß sie da mit einer Zigarette in einem langen, schwarzen Halter, die andere Hand ruhte lässig auf dem Knie.

Spade machte einen Schritt die Stufe hoch und klopfte laut auf den Tisch: „Hey ho, mein hässlicher Haufen, unangepasst und eigenwillig, wie ich euch liebe.“

Erschrocken fuhren alle herum und starrten eine Weile in Spades Fratze. „Scheiße“, meinte Marc, „bist du das, Spade?“

„Kein Geringerer“, antwortete der zufrieden.

„Was hast du mit deinem Gesicht gemacht?“, fragte Tetsuo, der die Lippen voller Metall kaum formen konnte und dessen Piercings scheppernd aneinanderstießen, wobei sie eine eigentümliche Melodie ergaben.

„Ich habe einen wahnsinnig genialen Gesichtschirurgen gefunden und der hat mir dieses extreme Lifting verpasst. Was haltet ihr von Spades schnuckeligem neuen Gesicht?“

Keiner konnte die Augen von ihm nehmen. „Spade, du sieht wie ein Haifisch aus, Mann“, fand Harry Twoface.

„Wo ist der? Wie heißt er?“, drängte Marc.

„Kennt ihr den kleinen asiatischen Gemischtwarenladen im Zentrum?“

„Von dem Chinesen mit der scharfen Tochter?“, fragte Harry.

„Genau der. Fragt nach Doktor Steinmann. Der macht das.“

„Wie sieht er denn aus?“, fragte Harry, der eigentlich Hermann mit Nachnamen hieß, woraus über die Zeit zuerst Harralt und dann Harry wurde.

„Ein langes Elend mit einer schmalen Brille und Seitenscheitel. Spricht sporadisch, aber leistet geniale Arbeit. Wer ist die Lady?“, fragte Spade und hielt ihr seine Hand hin.

„Vera“, lächelte sie wieder spitz und legte ihre dünne, feingliedrige Hand mit den schwarzen Nägeln in seine. Spade drückte sie gegen seinen Mund und ließ sie daraufhin wieder frei.

„Sie will dich unbedingt kennenlernen“, meinte Dennis.

„Ja? Warum denn?“

„Weil deine Truppe mir sagte, du hättest alles aufgezogen“, lächelte Vera.

Spade setzte sich.

„Ich kenne eine Fotografin, die dich unbedingt kennenlernen will.“ Sie zog an ihrer Zigarette und ließ den Qualm wie Auspuffgase durch ihre Lippen entweichen. „Nach dieser OP erst recht.“

„Ach ja?“, fragte Spade zufrieden. Als Ivon, die brünette Barkeeperin, zu ihnen herüberschaute, rief er: „Ich nehme ein Diesel!“

„Du musst Spade unbedingt das mit deiner Titte erzählen!“, drängelte Marc sie.

„Brust, wir sind hier schließlich in Gegenwart einer Dame, du Arschloch“, schleimte Harry. Vera schien das gar nicht zu kümmern. „Okay, was ist mit deiner Brust, Vera?“, fragte Spade. „Ich habe nur eine.“ Sie straffte den Oberkörper, sodass Spade sehen konnte, dass ihre schwarze Bluse nur auf der rechten Seite ausgebeult war.

„Wie kam es dazu?“, fragte Spade.

„Ich wollte sie loswerden. Aus Gründen, die ihr verstehen müsstet. Ich band sie ab und hoffte, dass es reichen würde, das war aber einfach nur schmerzhaft und funktionierte kein bisschen.“

„Das musst du dir anhören, Spade, das ist echt harter Shit“, meinte Marc.

„Ruhig, ich höre ihr ja zu, aber das kann ich nicht, wenn du reinquatschst“, mahnte Spade. „Okay, weiter.“

„Ich habe mir flüssigen Stickstoff besorgt – das ist einfacher, als man denkt. Und da hinein habe ich meine Brust gehängt.“ Provokant lächelte sie weiter.

„Spade, das musst du dir mal vorstellen, echt übel“, funkte Marc wieder dazwischen.

„Pscht!“, zischte Vera ihn an. „Es war wie das Prickeln von Kohlensäure, nur stärker. Ein unbeschreibliches Gefühl“, schwärmte sie und zog an ihrer Kippe. Ivon reichte Spade das Colabiergemisch. „Was ist, wenn du mal ein Baby hast?“, fragte Spade und nippte am kalten Glas, während er vergeblich versuchte sich vorzustellen, wie sich flüssiger Stickstoff anfühlte.

„Genau das“, sagte Vera. „Ein Baby, eine Brust. Außerdem mochte ich die, die ich losgeworden bin, noch nie. Sie wuchs viel zu früh und viel schneller als die andere. Sie störte mich schon immer.“

Spade lächelte unerkennbar. Er versuchte, es sich vorzustellen, und das Bild in seinem Kopf erfüllte ihn mit einem unangenehmen Schauder. Er sah Vera, wie sie nackt in einer Küche stand, die rechte Brust mit einer Hand zurückziehen, während sie die andere in einen Topf hängte, aus dem der Dampf wie überkochendes Wasser quoll, die Augen geschlossen, die Lippen wie zu einem Stöhnen geformt, die Schneidezähne wie die rosafarbene Zunge leicht entblößt. Er brauchte sein künstliches Lächeln nicht mehr zu halten, das taten seine Muskeln von allein.

„Ich stelle mir das Ungleichgewicht gewöhnungsbedürftig vor. Ziemlich unregelmäßig, nicht wahr?“, meinte Spade an Vera gewandt.

„Warum?“ Sie lächelte triumphierend und ihre grüngelben Augen durchbohrten ihn. „Das Universum entstand auch aus einer Unregelmäßigkeit heraus. Ob gut oder schlecht. Ich meine, auf einer Skala von null gleich superschlecht bis zehn gleich göttlich ist die größte Beleidigung doch eine durchschnittliche und unauffällige Fünf.“ Sie stützte sich auf und schaute Spade mit ihrem spitzen Gesicht an. „Es ist wie die Dämmerung des Punks oder der Beatgeneration. Meinetwegen auch der Emos. Wir sind unzufrieden, weil man uns keine Wahl lässt, also schaffen wir uns selbst eine Wahl. Werden zu unseren eigenen Architekten. Das ist eine kulturelle Revolution, Spade.“ Sie lehnte sich wieder zurück und zog an ihrer Kippe in dem langen, schmalen Halter zwischen den ausgestreckten Fingern.

„Ich würde mir gern Ihre Brust ansehen. Die fehlende, meine ich. Ich habe so was noch nie gesehen, bin neugierig, wie eine fehlende Brust aussieht“, gab Spade zu.

Vera zog ihre Bluse an der linken Seite ein Stück hinunter. Über der glatten Haut verlief der Riemen eines einseitigen BHs, darunter befand sich glatte, gestraffte Brustmuskulatur, wie bei einem Mann, glatt, ohne Brustwarze, mit einer tiefen Narbe darunter, die beinahe aussah wie der Lanzenstoß Jesu.

„Eine Brust besteht zum größten Teil aus Fettgewebe und Haut. Darunter sind auch nur Muskeln wie bei euch.“

Spade spürte imaginäre Schmerzen bei der bloßen Vorstellung an den flüssigen Stickstoff und wie er ihr Fettgewebe gefror. Schrecklich wie ein Autounfall und doch faszinierend schön.

Das geliebte Gegenteil …

Das war er also? Der asiatische Gemischtwarenladen mit billigen, ausländisch gefertigten Kleidern, Porzellanfiguren und billigem Plastikspielzeug, hinter dem sich die Schönheitschirurgie befand. Pomelos, Äpfel, Ananas, Orangen. Ein einfacher Obststand aus hölzernen Schachteln auf dünnen Metallbeinen, der auf dem Pflaster des breiten Gehwegs vor dem großen Schaufenster stand, das voller einfacher Schaufensterpuppen mit irgendwelchen Trend-Imitationen war. Ein kleiner, älterer Asiat stand am Obststand, auf den Pia nun zielstrebig zuging. Es gab kaum jemanden, der sich für den kleinen Laden interessierte. Draußen standen ebenfalls billige Fahrräder und eine kleine Auswahl an Kleidung.

Der ältere Herr sah zu Pia auf, als würden ihr zerschnittenes Gesicht und ihr flauschiger Iro ihn einschüchtern. Pia lächelte und fragte: „Kennen Sie einen Doktor Steinmann?“

Der kleine, leicht gebeugte Kerl lächelte, was seine ohnehin schon spaltförmigen Augen noch schmaler werden ließ. Er nickte: „Oh ja, oh ja, ich kenne einen Doktor Steinmann. Wenn Sie mit Doktor Steinmann reden wollen, müssen Sie meine Frau fragen. Sie steht drinnen an der Kasse.“

„Danke.“ Pia ging die drei Stufen in den Kasten, den ein Zoll sicherlich gern einmal unter die Lupe nehmen würde, wobei er das Leben der beiden, vielleicht sogar gern, zerstören und ihnen jede Grundlage entziehen würde, nur um die Namen von Firmen zu schützen, die einfach nicht satt wurden, egal, wie viel sie verschlangen.

Drinnen machte sie gleich die ältere Asiatin aus, die an der Kasse stand, und ging zu ihr hinüber. „Kennen Sie …“, und noch bevor Pia aussprechen konnte, fuhr die Frau dazwischen: „Doktor Steinmann?“

Pia nickte. „Ja.“

„Doktor Steinmann ist gerade nicht da.“

Daraufhin begannen Pias Erwartungen zu schmelzen.

„Er wird bald zurück sein, warten Sie einen Moment.“

Sofort richteten sich Pias Erwartungen wieder auf.

„Wie lange wird es denn dauern, bis er zurück ist?“, hakte sie nach.

„Nicht lang. Zehn Minuten“, meinte Frau Wo.

Zehn Minuten konnte Pia ruhig warten, also sagte sie:

„Ich sehe mich solange um“, und ging um das Regal.

Billiges Spielzeug. Blaue Spritzpistolen, Plastikhubschrauber, lauter kleine Zootiere aus Plastik in einem Beutel, auf dessen Pappverschluss ein gemalter Löwe, Zebras, Giraffen und Elefanten gedruckt waren. Pia ging an den billigen Puppen vorbei. Babys aus Plastik, die sie mit ihren blauen Augen aus der Verpackung heraus anstarrten. Schon als Kinder spielten die Mädchen, wie man sich um ein Kind kümmert, fast, als wären sie für nichts anderes da. Und dicht daneben No-Name-Barbies, die sie lächelnd und hübsch geschminkt aus ihren Kisten anstarrten. Alle in hübschen, pinkfarbenen Kleidern. Pia hatte Pink noch nie gemocht oder die Tussen verstanden, die anscheinend im Kleinkindalter stecken geblieben waren, außer, dass ihre Sexualität dazugekommen war.

Überall diese kleinen, perfekten, makellosen Gesichter. Die Imitationen von reeller Perfektion. Und wenn Pia nicht ihre Cuttings und ihre rasierten Schläfen hätte, würde sie wahrscheinlich genauso aussehen mit ihrem strahlenden Lächeln, selbst wenn sie ihre Wangenmuskeln nicht gebrauchte, den perfekt geformten, strahlend blauen Augen und dem von Natur aus so perfekten Blond. Sie wäre so, wie sich ihre Eltern eine perfekte Tochter vorstellen, einfach makellos und schön, ohne jeden Eingriff. Glatte Haut, frei von jeder Spur eines Leberflecks. Keinen einzigen Pickel hatte sie in ihrem ganzen Leben gehabt, nicht einmal Mitesser während der Pubertät. Die Nase war, wie ein Maler sie nicht besser hätte malen können. Sie hatte straffe Brüste mit dem Hauch einer Tropfenform. Selbst die Form ihrer Vagina war sicher vorgeplant.

Unverwandt griff sie in ihre Tasche und zog den Schlüsselbund heraus, an dem ein Barbiekopf baumelte. Er hatte einen Irokesenschnitt wie sie und die gleichen Narben, die sie mit einem Messer in das glatte Plastik geritzt, geradezu gemeißelt hatte. Sie wollte wissen, wie sie aussehen würde.

Fast träumerisch dachte sie an den Tag, an dem sie ihre Narben mit einem roten Filzstift vorgezeichnet hatte, fast wie ein echter Chirurg vor der Operation. Wie sie nackt vor dem Spiegel gestanden hatte und das Blut über ihr Gesicht gelaufen war. Wie sie es immer wieder abgewaschen hatte, um die feinen und nach dem dritten Waschen verblassenden Filzstiftlinien zu sehen. Wie schmerzhaft, aber auch befriedigend es gewesen war. Wie ihr ganzes Bad voller Blutspritzer gewesen war.

Geburten sind immer schmerzhaft, hatte Pia gedacht. Und gerade eben habe ich mich selbst neu geboren. Ich habe mich entschieden, niemand sonst.

Kann man bei einem Spermium, das immer in Richtung Eizelle strebt, von einem unbedingten Willen zum Leben ausgehen oder muss man es als natürlichen Reflex sehen?

Pia fuhr ihre Narben mit den Fingern nach, sie kamen ihr noch so groß vor, dabei waren sie fast verheilt und bald würden sie kaum noch zu sehen sein, so, als würde sich ihr Gesicht, egal was sie damit anstellte, immer zu dem Barbiegesicht zurückverwandeln.

Zufällig sah sie zur Tür, wo ein asiatisches Mädchen, das ungefähr in ihrem Alter war, hineingelaufen kam – Pia vermutete ganz richtig, dass es die Tochter der beiden war –, gefolgt von einem dünnen Mann mit ausdruckslosem Gesicht, der etwas von dem berechnenden Wesen eines entlassenen Mathelehrers hatte.

Noch während genau diese Gedanken hinter ihrem vernarbten Gesicht entlangglitten, rief Frau Wo: „Doktor Steinmann ist jetzt da!“

Pia stopfte ihren Schlüssel im Gehen in die Tasche zurück und ging auf David zu. „Sie sind Doktor Steinmann?“, fragte sie etwas nervös.

Er sah sie abschätzend an und Pia konnte nicht sagen, was in seinem Kopf vorging, dann sagte er ruhig: „Ja. Was kann ich für Sie tun?“

„Ich habe gehört, dass Sie hier Ihre Praxis haben“, erwiderte Pia leise.

„Ja, ich nehme an, Sie wollen sie sehen?“

„Ja.“

„Kommen Sie mit“, meinte David und zog an ihr vorüber.

Pia durchströmte eine gewisse Vorfreude, während sie ihm durch die Hintertür folgte, wo sie in einem dunklen Treppenhaus mit einer alten Holztreppe landeten. Obwohl die Wände weiß gestrichen waren, wirkte es durch die klobige, dunkle Treppe finster. Sie gingen an ihr vorüber und David schloss die hinterste Tür auf. Dahinter befand sich ein einfacher, weiß gefliester Raum. Die Fliesen wirkten alt, als würden sie hier schon lange hängen. Im Boden war ein eingelassener Abfluss und ein alter Zahnarztstuhl stand in der Mitte mit einem runden Hocker daneben. Ein kleiner, alter Schrank befand sich an der Wand und auf der mit dem Stuhl verbundenen Ablage lagen Instrumente, die von einem grünen Tuch bedeckt waren.

„Das ist es“, meinte er. „Ich nehme an, Sie wissen bereits, was Sie wollen?“

„Woher wissen Sie, dass ich kein Bulle bin?“, meinte Pia; es war ihr einfach in den Sinn gekommen.

„Weiß ich nicht“, meinte David. „Sie sehen nicht aus wie ein verdeckter Ermittler.“

„Wie sehe ich denn aus?“, lächelte Pia.

„Wie jemand, der sehr unzufrieden mit seinem Gesicht ist.“

„Und aus dem Grund bin ich hier. Könnten Sie mir die Cuttings professionell nachziehen? Ich meine so, dass sie vernarbt bleiben?“ Spielerisch zeichnete sie mit dem Finger eine ihrer Narben nach.

„Sicher“, sagte er.

Es war ein Gedanke, mit dem Pia schon lange gespielt hatte, aber dessen Selbstdurchführung sie einfach zu sehr ängstigte, und nun sprach sie ihn einfach aus: „Sagen Sie, könnten Sie dafür sorgen, dass die Narben hier offen bleiben?“ Sie deutete mit beiden Zeigefingern auf ihr verlängertes Lächeln.

„Definieren Sie ‚offen blieben‘“, forderte er Pia auf.

„Na ja, dass mein Mund so groß wie die Narben ist?“

„Nein“, meinte David.

„Weil?“, fragte Pia energisch nach.

„Weil ich dabei Muskeln durchtrennen müsste, die ihren Kiefer halten. Er würde Ihnen einfach auf die Brust sacken. Ich bin hier, um Gesichter nach Wünschen zu verändern, nicht sie unbrauchbar zu machen. Es ist wichtig, dass jede Ihrer Eigenschaften erhalten bleibt. Es gibt kein Gesetz gegen das, was ich tue, nicht, solange alle Gesichter nutzbar bleiben.“

„Haben Sie viele Kunden?“

„Hält sich in Grenzen. Vielleicht steht eine neue hier vor mir.“

Amüsiert kicherte Pia. „Sie haben kein Problem damit, Schönheit zu zerstören?“

„Ich verändere. Schönheit ist ein dehnbarer Begriff.“ Pia musste einfach grinsen. Es war, als wäre hier einfach ein Messias ihrer Generation aufgetaucht, der ihnen das abnahm, was sie sonst selbst taten. Ein Künstler in Selbstzerstörung an Fremden.

„Aber die Narben würden Sie nachziehen?“

„Scarifizierung ist einfach. Es ist keine Übung des Könnens, sondern der Ausdauer“, meinte David.

Wenn ihr Vater das wüsste. Wenn er wüsste, dass hinter seinem Rücken ein anderer Chirurg das Gegenteil von ihm tat, Gesichter in Fratzen zu verwandeln, während er so eifrig damit beschäftigt war, Fratzen in Gesichter zu verwandeln. Wenn ihr Vater Gott wäre, dann wäre Doktor Steinmann der Teufel. In ihr brodelte eine tiefe innere Freude, geboren aus der Verehrung einer Leitfigur ihrer Generation.

„Wahnsinn“, sagte Pia.

„Kann gut sein“, erwiderte David.

„Sie verstehen nicht, oder?“

„Nein.“

„Das ist einfach total irre. Sie sind eine Ikone unserer Subkultur, die noch kaum jemand kennt. Sie zerstören Gesichter für uns, das ist einfach irre.“

David regte keine Miene. „Dreißig Euro“, meinte er.

Pia schüttelte den Kopf und lächelte in sich hinein. Sie stand hier jemandem gegenüber, den bald vielleicht viele Amateurchirurgen imitieren würden. Sie war ergriffen von der gleichen Euphorie, die Spade so erfüllt hatte.

Vielleicht war es eine dumme Idee, vielleicht war es die übertriebene Verehrung einer noch unbekannten Ikone, doch so, wie sie die Entscheidung zu ihren Narben innerhalb eines Tages getroffen und auch ihr Haar innerhalb eines Tages abgeschnitten hatte, so sagte sie nun einfach: „Ich gebe Ihnen was Besseres.“

„Ich nehme nur Bares. Ich bin kein Hehler“, gab David kühl von sich.

„Ich kenne keinen Hehler, der mich annimmt.“

Abschätzend sah David sie an. Wahrscheinlich ahnte er, worauf sie hinauswollte.

„Fick mich.“

David sah sie noch einen Moment kühl an und fragte schließlich: „Warum sollte ich?“

Pia lachte und drückte ihre Hände gegen ihre Brust: „Ich bin ein Groupie!“ Sie musste einfach lachen, da diese Situation zu irre war.

„Nein“, sagte David. „Ich nehme nur Bares.“

„Ich bin Bares“, entgegnete Pia.

David überlegte.

„Sie verstehen noch immer nicht, oder?“, fragte Pia lächelnd. „Sie sind einfach genial. Wir sind eine Generation, deren Aussehen von den Eltern bestimmt wurde. Wir sind verflucht, perfekt und schön zu sein. Von Wissenschaftlern geschaffen. Und Sie sind so was wie der Teufel und bieten uns etwas an, was wir nie haben sollten. Die Wahl. Mit Ihrer Hilfe können wir unser Aussehen selbst bestimmen.“

„Sie haben Ihr Aussehen bereits selbst gestaltet.“

„Was ist los? Sind Sie schwul? Kommen Sie! Ich stehe hier vor einem genialen Künstler und in Kürze werden Sie wahrscheinlich so was sein, wie Albert Hofmann für Hippies war!“

Ein flüchtiges Lächeln zuckte über Davids schmale Lippen. „Gut.“

„Sie sagen ja?“

„Ich sage gut“, antwortete David und ging voran. „Wir gehen nach oben.“

„Das heißt, Sie ficken mich?“, fragte Pia ungläubig. „Das heißt, ich scarifiziere Ihr Gesicht und wenn Ihnen dann noch danach sein sollte, können Sie gern mit sich bezahlen.“ Er öffnete die Tür und ließ Pia vorangehen. „Die Treppe hoch.“

Die Stufen knarzten und David schloss eine Tür auf. Es war ein verhältnismäßig großer Raum, dessen Wände mit billigen Holzpaneelen bestückt waren. In der Mitte stand ein Sofa und eine Küchenzeile mit einem Kühlschrank neben der Tür befand sich an der Wand. Die Fenster waren nach draußen gerichtet.

„Im Schrank da drüben liegt eine Plastikfolie. Nehmen Sie das.“ Er warf ihr eine Küchenrolle zu, die Pia auffing.

Sie schaute fasziniert zu, was David tat. Er hatte eine Zitrone aus dem Kühlschrank genommen und schnitt sie mit einem Skalpell auf, hielt ein dünnes Sieb aus Metall über eine kleine Schale und presste die Zitrone darüber aus.

„Was tun Sie da?“, fragte Pia.

„Ich mache eine Lösung, die die Wundheilung behindert. Wie es aussieht, haben Sie schon gute Vorarbeit geleistet, aber Sie hätten die Wunde am Heilen hindern müssen.“ Er mischte noch etwas Zucker hinzu und eine klare Flüssigkeit aus einer Tube, Vaseline.

Pia stand da, hinter dem Fernseher und neben dem Sofa mit der Folie und der Küchenrolle in der Hand, während sie David fasziniert dabei zusah, wie er sich die Hände wusch, die weißen Ärmel aufknöpfte und hochschob, aus einer Packung Einweghandschuhe zog und der Schublade ein Skalpell entnahm. David nahm ihr die Folie aus der Hand, setzte sich auf das Sofa, zog seine Schuhe aus und breitete die Folie über seinen Bauch und Unterleib aus. „Legen Sie sich hin. Den Kopf in meinen Schoß“, sagte er und schaltete die Lampe ein, deren Licht warum auch immer grün war.

Pia ging vor sonderbarer Vorfreude kribbelnd zu David, der das Schälchen mit der Lösung auf einen schwarzen Beistelltisch neben dem Sofa stellte und ihn zurechtrückte. Sie platzierte ihren Kopf auf seinem Schoß, während David die Einweghandschuhe anzog und ihr Gesicht so zu sich wandte, dass er sie besser sehen konnte. Sie hielt die Küchentuchrolle wie ein Stofftier an sich gepresst.

„Ziehen Sie schon mal ein paar Tücher ab“, sagte er.

Das tat sie.

„Wie heißen Sie?“, fragte David.

„Pia.“ Sie zog noch ein fünftes Blatt von der Küchenrolle.

„Mein Name ist David Steinmann. Womit zerschnitten Sie Ihr Gesicht, Pia?“

„Mit einem Gemüsemesser“, feixte sie.

„Ich werde Ihre Narben hiermit nachziehen.“ Er hielt ihr das Skalpell vor die Nase und drehte es leicht, wobei die Klinge das schimmernde grüne Licht einfing. „Es wird wehtun. Und es wird noch schlimmer wehtun, wenn ich die Lösung in die Wunde reibe. Ich werde Ihnen eine Zahnbürste mitgeben. Damit können Sie unter der Dusche den Schorf abbürsten. Ich frage Sie nun ein letztes Mal: Wollen Sie, dass ich Ihr Gesicht zerschneide?“

„Ja.“

Er fasste sie leicht am Kinn und zog ihren Kopf hoch. Als Erstes schnitt er die Narben an ihren Wangen auf. Im ersten Moment spürte sie nur, dass etwas sehr Dünnes sie nachfuhr, bis sie ihr heißes Blut aus den Wunden quellen spürte und ihre Wangen zu brennen begannen.

„Geben Sie mir ein Tuch“, forderte David und Pia gab es ihm. Er wischte damit das Blut ab, öffnete die Wunde über ihrer Nase und tupfte wieder ab. „Bewegen Sie sich nicht.“ Er fuhr die an ihren Augen nach. So erwachte ihr Gesicht Stück für Stück zu glühendem Leben, während er immer mehr Tücher benutzte, um ihr Gesicht zu reinigen. Eine Narbe nach der anderen zog er nach und tupfte das Blut von den Wunden. „Gehen Sie ins Bad und duschen Sie sich ab.“

„Kommst du mit, David?“, fragte Pia, deren blutendes Gesicht er in den Händen hielt.

David schwieg.

„Es ist wirklich, wie ich sage: Ich bin einfach ein Groupie.“

„Geh, ich komme gleich. Hinten, rechte Tür“, wies er ihr mit dem Skalpell den Weg und Pia zog noch zwei Blätter ab, die sie gegen den Großteil ihres Gesichtes presste. Sie ging zur rechten Tür und öffnete sie. Ein kleines Bad. Fenster, Toilette, Waschbecken rechts und links eine Dusche. Sie warf die Tücher in die Toilette und zog sich hastig aus, wobei sie darauf achtete, so wenig Blut wie möglich auf ihrer Kleidung zu lassen. Sie war bereits unter der Dusche und spülte das Wundwasser aus den Schnitten, das sich transparent mit dem tiefroten Blut mischte. Ihr flauschiger, voluminöser Iro brach unter dem Gewicht des Wassers in sich zusammen und Pia strich ihn zurück, behutsam darauf achtend, dass kein Haar sich in den Wunden verfing.

Kurz darauf zog David die Tür auf und ihr Gesicht stand in lodernden Flammen, bei jedem Kuss und jedes Mal, wenn sie es verzog, während die Tropfen das Blut immer wieder von ihr und von David wuschen, der sie gegen die Fliesen der Wand drückte.

Ob es nun wirklich Liebe auf den ersten Blick war oder sie bloß ein verblendeter Part einer Subkultur, fremdartig wie Gruftis ihrer Zeit, konnte Pia nicht sagen, aber sie genoss die merkwürdige Mischung des Gefühls in ihr und des brennenden Gesichtes, welches das Wasser immer wieder löschte, kurz bevor es wie Napalm wieder von Neuem erwachte.

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