Kitabı oku: «Schwarzmarkt Magie», sayfa 2
Wo ist Lilli?! Alex konnte nicht sagen, ob sie es gesagt oder gedacht hatte, und setzte sich mit einem Mal auf. Irgendwo hinter ihr ergriff der Fernseher mit seinem langen Kabel einen der Stühle, schwang sich auf das Boot und verschmolz mit ihm.
Als Alex über den schiefen, expressionistischen Rand nach unten schaute, befand sie sich auf einem Turm. Es ging schwindelerregend tief hinab auf eine ewig weite, öde Landschaft, die von dem leuchtend bunten Himmel beschienen wurde. Auf ihrer Zunge lag der Geschmack von Sonne.
Lilli schwamm als Nixe um den Turm herum durch die Luft. Alex wurde schwindelig und sie lehnte sich lieber zurück, lehnte sich gegen den Rand ihres Turmes, der plötzlich wie ein ausgeschnittenes Stück herausglitt. Alex krallte sich an etwas anderem fest. Das Fragment flog davon. Überall in dieser grün-roten Umgebung stiegen blaue Quallen mit langen Tentakeln auf. Ein Stück des Turmes fiel auf sie und Alex schubste es beiseite. Überall flogen äußerst merkwürdige Formen aus den Bergen des Wahnsinns herum. Kein Oben und Unten, völlig orientierungslos schwirrte Alex umher und hielt sich an einem Fragment des Seins fest, das ein Stuhl gewesen sein könnte. Der schlenkerte seine vier Beine, während er sich durch die Luft bewegte.
Alex’ momentan existentes Sein begann zu bröseln. Lilli schwamm über sie hinweg und Alex versuchte, den Nixenschwanz zu ergattern, rutschte aber ab und flog durch die Gegend, sich selbst überschlagend, während sie sehen konnte, wie die Innenwände ihrer Augen in bunten Farben glitzerten. Es war nicht mehr viel Bekanntes übrig; dafür konnte sie hinter die Fassade sehen und entdeckte die Vernetzung allen Seins.
Langsam begann die aus Farben und Schlieren bis zum Kubismus reichende Chiffrierung der Wirklichkeit sich wieder zu real existierenden Formen zusammenzusetzen. Alex glitt zurück auf das Bett und zur gestrandeten Lilli, die Sternenstaub hinter sich herzog. Ganze Tische und Stühle tauchten aus der Chiffrierung auf.
Halb schlafend konnte Alex spüren, wie das LSD sie und Lilli inzwischen allein gelassen hatte. Langsam sickerte das Licht des Tages in das Zimmer. Sie sah Lilli, die neben ihr auf dem Bauch lag, streckte müde einen Arm aus, zog Lilli zu sich heran, schlang ihren Arm um deren Hüfte und inhalierte Lillis süßen körpereigenen Duft, während sie die Augen wieder schloss und sich bereit machte, wie eine Feder in den Schlaf zurückzusinken.
Es war ein warmer, merkwürdig abgekapselter Moment, als sie plötzlich dieses Knacken vernahm. Obwohl die Trägheit ihres Körpers sich dagegen wehrte, zwang sie sich, ihre Augen aufzumachen, und mit einem Mal ergriff sie die Wachheit mit kalten Fingern, als sie den Typen in das Zimmer treten sah. In der Rechten hielt er eine lange Machete und schob die Tür leise hinter sich zu. „Verdammt“, murmelte Alex und fühlte, wie Lilli zuckte und erwachte. Alex erforschte ihr Gehirn, ob der lange, große Kerl, ganz in schwarz, mit Kinnbart und schwarzem, kurzem Haar und der gigantischen Machete nicht doch eine Nachwirkung des LSD sein könnte. Lilli schaute über ihre Schulter und zuckte erneut zusammen, als sie ihn sah. In diesem fremdartigen Moment des Erkennens fragte Alex: „Tino?“
Tino: „Alex?“
Lilli: „Tino?!“
Alex: „Lilli?“
Lilli: „Alex?“
Tino: „Lilli?“
Da waren sie nun, Tino mit der Machete vor dem Bett, wo Alex gerade Lilli von hinten umschlungen hielt, und alle starrten sich gegenseitig fragend an.
„Was machst du denn hier?“, fragte Alex.
„Was machst du hier?“, spielte Tino den Ball zurück. „Und was macht Lilli hier?“
Alex setzte sich auf, schwang die Decke zurück und stellte ihre Füße auf den Boden der Tatsachen. Lilli saß auf dem Bett und kaute wie immer an dem Ring in ihrer Lippe herum. Tino sah die kauende Lilli an. „Was zur Hölle machst du hier mit Alex?“, fragte er.
„Was willst du mit dem Ding?“, fragte Lilli.
Tino hob die Machete und schaute sie fragend an, als er sich nun erstmals wieder ihrer entsann. Er sah zu Lilli, sah zu Alex, sah zur Machete. „Scheiße!“ Er hob den umgefallenen Stuhl auf und setzte sich. „Ich …“
„Was?“, fragte Alex.
„Ich wollte mein Geld zurück“, sagte er ertappt.
„Dein Geld?“, fragte Lilli.
Alex sah zu ihr herüber. „Das Geld von der Toilette?“
„Ja, das Geld von der Toilette.“
Alex sah Tino an. „Warum lässt du dein Geld auf einer Toilette in Berlin liegen?“
„Warum lässt du dein Geld auf der Mädchentoilette liegen?“, fragte Lilli.
„Woher kennst du Lilli?“
„Woher kennst du Alex?“
Tino atmete durch. „Okay, also ganz von vorn: Warum hast du mein Geld geklaut, Lilli?“
„Ich hab’s gefunden. Warum hast du es auf dem Mädchenklo liegen lassen?“
Tino griff sich an die Stirn. „Keine Ahnung … Ich war vermutlich auf einem Trip.“
„Woher hast du so viel Geld?“, fragte Alex.
„Okay, ich habe eure erste Frage beantwortet, jetzt seid ihr dran. Was zur Hölle macht ihr beiden hier?“
Alex sah Lilli an. Die sagte ganz geradeheraus: „Ficken.“
„Da das jetzt geklärt ist: Wo hast du das ganze Geld her?“, fragte Alex.
„Ich war spät abends in einer Tankstelle. Bin so ziemlich der Einzige und gehe gerade rein, um zu bezahlen. Was sehe ich da? Die Tante am Tresen hat gerade die Kasse ausgeräumt und das Geld steht in einer Tasche auf dem Tresen. Und was macht sie? Sie räumt es nicht in einen Tresor oder so, sie lässt das verdammte Geld einfach stehen und dreht sich in die andere Richtung, während sie in ihr Handy schnattert. Ich ducke mich und schleiche zum Tresen. Sie telefoniert. Ich greife einfach hoch, schnappe mir die Tasche, schleiche aus der Tanke, schwinge mich ins Auto und rase los. Woher kennt ihr euch?“
„Schon eine ganze Weile. Woher kennst du Tino?“, fragte Alex Lilli.
„Ist mein Ex. Woher kennst du ihn?“
„Ein Experiment seinerseits. Er hat mir mal einen geblasen.“
„War er gut?“
„Er war geschickt.“
„Hey!“, schaltete sich Tino wieder ein.
„Wie hast du uns gefunden?“, fragte Lilli. Kurz darauf musste sie kichern: „Seit wann lutschst du Schwänze?“
„Warum?“, fragte Tino. „Man ist doch nicht gleich schwul, nur weil man mal was ausprobiert. Und ich bin dir gefolgt. Wusste nicht, dass du es warst. Hab dich von Weitem nicht erkannt. Du hast ja die ganze Zeit diese Stoffkapuze aufgehabt. Und dann die Perücke.“
„Warum platzt du dann erst jetzt hier rein? Wir sind gestern angekommen und es liegt wenigstens eine Nacht dazwischen“, warf Alex ein.
„Na ja, hab euch beide nicht sofort erkannt. Ich wollte noch ein paar Kumpels anrufen, um jeder Eventualität vorzubeugen. Aber es hat sich ewig keiner gemeldet, also bin ich allein reingekommen. Scheiße, Lilli, ich dachte, du wärst irgend so ein jämmerlicher Junkie.“
„Du bist doch selbst ein Junkie“, konterte Lilli.
„Ja, aber ich habe einen Grund. Du nicht!“
Stille trat ein.
Lilli saß mit angewinkelten Beinen und der Decke darüber auf dem Bett und sagte: „Verdammt, Tino! Jetzt leg das Ding endlich weg! Was hattest du damit überhaupt vor?“
„Denk doch mal nach. Ich finde einen Haufen Geld und irgend so ein Penner klaut es mir, was denkst du, was ich damit vorhatte?“
„Leg’s trotzdem weg!“
Tino warf die Machete zur Seite und schaute sich daraufhin im Zimmer um. „Was habt ihr hier gemacht?“
„LSD und Sex. Noch Fragen?“ Alex stand auf und streckte sich. „Okay, ich nehme an, du wirst uns jetzt nicht mehr in Stücke hacken, oder?“
„Nein.“
„Gut. Du hast das Geld geklaut und Lilli hat es dir geklaut. Einigt euch, ich gehe duschen.“
Alex ging ins Badezimmer, knipste dort erst einmal die LEDs über dem Waschbecken an, klappte den Deckel der kleinen, weißen Kloschüssel samt Brille hoch und leerte ihre Blase, während sie von drüben das Gespräch hörte.
Lilli: „Warum lässt du geklautes Geld auf dem Damenklo liegen?“
Tino: „Weil ich vielleicht gerade high war? Als ich klar in der Birne wurde, kam ich zurück und sah dich mit der Tasche rauskommen. Ich stürzte rein und die Kabine war leer, also nahm ich die Verfolgung auf. Wie viel hast du für LSD ausgegeben?“
Darauf folgte Stille. Alex spülte. Lilli stand auf und schaute sich im Raum um. Kaute auf ihrem Ring. Dann entdeckte sie die Bögen auf dem Boden. Auf dem obersten Blatt war die Grinsekatze abgebildet und es fehlten die Stücke, die sie und Alex eingeworfen hatten. „Hier, das sind alle.“ Tino nahm sie entgegen und schaute sie an.
Alex öffnete die Tür der Glasdusche, machte sich einen Zopf, sodass er als Knäuel oben hielt, und drehte das Wasser auf. Sie wartete, bis es warm wurde, duschte sich aber nur flüchtig ab, stieg aus der Dusche, nahm sich eines der Hotelhandtücher und rubbelte sich trocken. Als sie wieder aus dem Bad kam, sagte Tino: „Okay, du kannst die Tasche behalten, dafür behalte ich das LSD.“
Noch bevor Lilli antworten konnte, was ganz sicher ein Gegenangebot wäre, sagte Alex: „Deal. Komm, Lilli, wir hauen ab, bevor das Personal merkt, dass wir die Einrichtung verwüstet haben.“
„Warum hast du Alex’ Schwanz gelutscht?“, fragte Lilli.
„Du hast doch sicher auch ihren Schwanz gelutscht!“
Darüber musste Lilli erst mal nachdenken.
Alex sammelte ihre Sachen zusammen und begann sich anzuziehen. „Okay, wenn jetzt nicht einer von euch beiden meinen Schwanz lutscht, dann fahre ich weiter.“
Lilli sprang vom Bett und sammelte ihre Kleidung ebenfalls schnell zusammen.
„Mach’s gut, Tino“, meinte Alex, warf sich ihre pelzige Pilotenjacke über und Lilli klemmte sich die Tasche unter den Arm. „Tschüss, Tino“, rief sie, winkte wie ein Kleinkind und folgte Alex durch den Türspalt hinaus. Tino blieb allein im verwüsteten Hotelzimmer zurück und fragte sich, während ihn die Katze vom LSD aus angrinste, wie er in so einen Mist hatte geraten können.
Lilli eilte Alex die Treppe hinunter hinterher.
„Guten Morgen, reisen Sie ab?“, fragte die Tante an der Rezeption.
„Ja!“, rief Alex ihr zu. „Müssen dringend los! Schlüssel liegt oben!“
Draußen gingen sie schnellen Schrittes über den Parkplatz und die Straße, die kurzzeitig von demselben Lkw blockiert wurde, der gestern eingefahren war und heute hinausfuhr. Bei ihrem treuen Ford Escort EXP angekommen, schloss Alex die Tür auf, zog die Jacke aus und warf sie auf den Rücksitz. Lilli lugte in die Tasche und kicherte: „Er dachte, die ganze Kohle sei für das bisschen LSD draufgegangen. Geile Scheiße!“
Alex schwang sich in den Wagen und startete den Motor. „Los, rein mit deinem entzückenden Arsch, oder du bleibst hier.“
„Bin ja schon da.“ Lilli schloss die Tür und warf die Tasche unachtsam auf die Rückbank. Alex legte den Rückwärtsgang ein, schob die Handbremse herunter, scherte aus und fuhr durch die schmalen, von parkenden Autos gesäumten Gassen.
„Warum hat Tino dir den Schwanz gelutscht?“
„Keine Ahnung“, meinte Alex. „Er hat gefragt und ich hielt es für eine gute Idee.“
Mit der kichernden Lilli neben sich, die auf ihrem Zungenpiercing kaute, fuhr Alex zurück auf die Autobahn in Richtung Berchtesgaden.
VOLL PORNO
An diesem hellen, aber grauen Tag fuhr Alex ohne bestimmtes Ziel durch die Gebäudeschluchten, Windungen und Ecken von Leipzig, als ihr Samsung klingelte und die Surfermelodie „Out of limits“ von den Royale Aces spielte. Alex schaute auf den Bildschirm, während aus dem Radio „Road to Nowhere“ von den Talking Heads schallte. Nur einen einzigen Namen ohne Bild sah sie bei dem flüchtigen Blickes auf das Handy: Mr. Knochen.
Alex konnte nicht sagen, ob sie gerade den jetzt hören wollte, doch als die Ampel vor ihr auf Rot schaltete und sich der Verkehrsfluss rapide verlangsamte, nahm sie den Anruf an und hörte die feste, raue Stimme: „He, Alex. Wo bist du gerade?“
„Irgendwo in Leipzigs Eingeweiden vor einer Ampel, warum?“
„Ich mache es kurz, wir brauchen dich.“
„Ich habe noch genug Geld. Und so billig verkaufe ich mich auch nicht. Habt ihr keine andere Shemale da, die das machen kann?“
„Nein“, sagte Mr. Knochen. Alle nannten ihn so, weil er es war, ein harter Knochen. Wegen eines, sagen wir, fehlgeschlagenen Drehs war er fast verurteilt worden, doch Nino Goldfinger hatte Knochens alten Arsch aus der Sache rausgeholt. „Nein, haben wir nicht. Wir brauchen eine echte Shemale wie dich. Unsere letzte hat sich den Traum von der einzig wahren Weiblichkeit erfüllt und für eine weitere She ohne male haben wir hier keine Verwendung. Du bist eh gerade in Leipzig, du weißt, wo, also komm vorbei.“
„Ihr braucht eine echte Shemale?“, hakte Alex nach.
„Ja“, bestätigte Knochen knochentrocken.
Demnach konnte Alex sich denken, worum es sich handelte. „Ich will eine Perücke und übertriebene Schminke, so leicht will ich es den Leuten mit der Wiedererkennung nicht machen.“
„Du könntest was Großes werden, Alex. Echte Zwitter haben wir nicht viele. Die meisten sind einfach nur Transen und die halten nicht so lange, da sich die meisten irgendwann das, was sie besonders machte, unterm Hintern wegschneiden lassen.“
„Das ist keine Bestätigung.“
Knochen schluckte. „Okay, du kommst vorher in die Maske, bist du jetzt zufrieden? Also, schwing deinen Arsch her, in vierzig Minuten geht’s los!“ Er legte auf, oder Alex, je nachdem, wer schneller war.
Die Ampel besaß endlich die Freundlichkeit, auf Grün umzuschalten. Der träge Verkehr, diese klebrige Masse an Autos setzte sich wieder in Bewegung. „Road to Nowhere“ endete und Alex bog ab. Eigentlich konnte sie Mr. Knochen nicht leiden. Er war ein Mensch ohne Prinzipien. Sie erinnerte sich an sein grobes Gesicht mit den kleinen schmalen Augen, der Glatze, der dicken Nase und dem beinahe lippenlosen schmalen Mund und der glänzenden, kupfernen Solariumsbräune, die an Künstlichkeit kaum zu toppen war. Er trug schwarze Kleidung und war um fast einen Kopf kleiner als sie. Es erinnerte Alex an den Tag, an dem sie eine weinende Frau gesehen hatte, die der Anforderung, die in diesem Gewerbe an sie gestellt wurde, nicht mehr standhalten konnte, und an Mr. Knochen, der sie anschrie, sie solle sich nicht so anstellen.
Wenn sie eine echte Frau mit Schwanz brauchten, dann war Alex klar, dass es um eine einfache Solosache ging, und das dürfte kein Problem sein. Und wenn sie Mr. Knochen noch ein wenig in die Richtung manövrierte, in der sie ihn brauchte, würde es auch noch mehr Geld geben, denn so jemand wie Mr. Knochen rief nur an, wenn er einen wirklich brauchte, wenn seine Stimme den Unterton an Verzweiflung und Zeitdruck professionell unten hielt und er versuchte, gerade so die Zügel in den Händen zu behalten, während ein wütender Stier, geformt aus komplizierten Darstellern, speziellen Anforderungen und Stress, unter ihm tobte. Davon abgesehen griffen Mr. Knochen und Nino ihr damit gewaltig unter die Arme, sodass sie im Meer von Nirgendwo nicht finanziell unterging. Sie hatte noch genug Geld übrig, aber Scheine auf der hohen Kante konnte eine Reisende wie Alex immer gebrauchen.
Ob Nino da war? Alex würde sich gern mal wieder mit dem Kerl unterhalten. Sie kannte ihn schon so lange. Er war vielleicht nicht derjenige gewesen, der den Startschuss für ihre Reise nach Nirgendwo gegeben hatte, aber er war eindeutig der Trainer, der ihr während dieses imaginären Boxkampfes das Handtuch um die Schultern gelegt und ihr Wasser hingehalten hatte.
Sie erinnerte sich noch so gut an den Tag, als sie ihn das erste Mal getroffen hatte. Das war alles so verdammt lange her. Es war der Tag, an dem sie ihr Zuhause allein, mit einer vollgestopften Reisetasche verließ, um nie zurückzukehren. Über Feldwege. Weit weg. Irgendwo an einer großen Straße stellte sie sich neben die Leitplanke, in Jeans und dunkler Kapuzenjacke, und hielt ein Pappschild, das sie aus einem großen Karton geschnitten hatte, in die Luft. Darauf prunkte ihr Reiseziel: Nirgendwo. Alex dachte, wenn sie „Nordsee“ schriebe oder was auch immer, würde sie niemand mitnehmen, aber „Nirgendwo“? Wer schrieb auf ein Anhalterschild schon „Nirgendwo“? Sie hoffte jedenfalls, dass es das Interesse von irgendjemandem wecken würde, und so war es auch.
Nachdem einige Autos an ihr vorbeigerauscht waren, hielt ein wuchtiger, weißer Wagen ohne Automarke, der das Wort „Glamour“ förmlich ausstrahlte. Die Tür ging auf und am Steuer saß eine dünne Gestalt mit spitzem Kinn, schulterlangen, lockigen Haaren und einer wuchtigen Sonnenbrille, die über die Hälfte des Gesichtes einnahm. Der Mann trug ein rosarotes Hemd, das leicht geöffnet war, und lauter Ringe und Kettchen an seinen Fingern. Die kurz geschnittenen und rund gefeilten Nägel waren golden lackiert. Auf der Rückbank lagen ein dicker, weißer Pelzmantel und ein weißer Hut mit einem ebenso rosaroten Hutband mit Leopardenflecken und einer spitzen, roten Feder. Nicht gerade die vertrauenerweckendste Gestalt, der man begegnen konnte, aber irgendetwas ging von ihr aus. Etwas Selbstsicheres. Dieser Mann stand mit seinem strahlenden Schlachtschiff einfach an der Leitplanke, hatte das Warnblinklicht eingeschaltet und die Autos fuhren um ihn herum, allerdings mit einer leichten Verärgerung.
Unbeholfen stand Alex da. Er klopfte mit seinen gebräunten Händen – echte Bräune, nicht wie die von Mr. Knochen – auf den Beifahrersitz. „Was ist nun, Kleine? Springst du rein oder bleibst du wie eine Salzsäule stehen?“ Alex stand immer noch da, das Schild in den Händen, und schaute diese Erscheinung an. „Hey, mach schon! Ich stehe hier auf einer Straße, ich halte alles auf. Also, steigst du ein oder bleibst du stehen?“ Die Reaktion darauf würde Alex’ Leben verändern, so viel war ihr klar. Ob zum Guten oder zum Schlechten, sie würde richtungweisend sein.
Alex stieg ein.
Sie schloss die Tür, warf das Schild auf die Rückbank und wusste, als der Wagen sich in Bewegung setzte, dass sie wahrscheinlich den größten Fehler ihres Lebens begannen hatte. Aber was sollte es? Zur Not konnte sie ihm ins Lenkrad greifen und beide würden in einem schrecklichen Unfall sterben. So war Alex damals, zu allem entschlossen, entwurzelt, desillusioniert und achtzehn Jahre alt.
Als sie fuhren und er die Warnblinklichter zum Schweigen gebracht hatte, fragte er: „Also, Kleine, wie heißt du? Und was verfickt noch mal wichtiger ist: Warum willst du nirgendwohin?“
„Alex. Und eigentlich will ich zur Nordsee.“
„So, so. Warum?“
„Ich muss ans Meer und darüber nachdenken, wie mein Leben weitergehen soll.“
„Hast du keine Familie?“
„Nicht zwingend“, entgegnete Alex.
Er brüllte los vor lachen, riss das Maul auf wie der böse Wolf, der er gern wäre. „Das ist ja irre!“ Er hielt ihr seine Hand rüber. „Ich bin Nino Goldfinger, ich bin tätig in der Erwachsenenunterhaltung“, stellte Nino sich vor. Alex schüttelte seine Hand. „Okay, Alex“, sagte er, als er seine Hand zurückzog. „Warum läufst du denn weg? Probleme in der Familie?“
„So ähnlich“, sagte Alex, die Reisetasche mit ihrem Leben auf dem Schoß haltend.
„Hey, wenn dein Vater was Unartiges gemacht hat, dann kann ich ein paar richtig miese Typen zu ihm schicken, die ihm mal so richtig den Arsch aufreißen.“
Alex musste schmunzeln. Was war das für ein irrer Freak, an den sie da geraten war? Aber irgendwie erweckte er ihr Vertrauen. „Äh … Sie drehen Pornos?“
„Jo, genau das tue ich. Im Handschuhfach liegt mein erster Film, ist ein Glücksbringer.“
Alex griff über ihre prall gefüllte Reisetasche hinweg und öffnete mit etwas Mühe das Handschuhfach. Sie ertastete die Kassettenhülle und zog sie hervor. Es war ein rotes Bild mit drei Frauen – eine weiße in der Mitte und zwei grün angemalte mit künstlichen Antennen auf dem blonden Kopf daneben. In aufgeplusterten, gequollenen, stechend pinkfarbenen Buchstaben stand dort: „Lesbische Gladiatorinnen vom Mars; eine Goldfinger Produktion.“ Alex schaute sich die Rückseite an, auf der stand: „Die Astronautin Erika landet nach jahrelanger, unbefriedigender Reise auf dem Mars, wo sie auf die geilen, lesbischen Gladiatoren trifft. Neunzig Minuten.“
„Eh, du hast doch sicher schon mal einen Porno gesehen, oder? Weißt du, was mich stört?“
„Äh … nein. Was denn?“
„Dass es größtenteils billige Clips sind. Das ist eine Kunstform, Baby, und ich werde ihr aus diesem Urschleim an Billigclips heraushelfen! Ich werde sie hoch hinaufhieven, zu den abendfüllenden Programmen! Es wird in Berlin so eine Art Oscar-Nacht für Pornos geben, wo der Goldene Ständer verliehen wird. Das ist mein Traum, Alex. Hast du auch einen Traum?“
„Ich weiß nicht.“ Alex legte die Kassette zurück und schloss behutsam das Schubfach. „Ich muss darüber nachdenken, wie mein Leben weitergehen soll.“
„Ach so … Ich hatte vorhin nicht verstanden, warum du weggelaufen bist.“
Alex konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass sie diesem auf verdrehte Art liebenswerten Freak vertrauen konnte. Sie war ohnehin schon so weit gegangen, also los: „Ich, äh … bin ein … Zwitter“, murmelte sie.
„Du bist ein echter Intersexueller?“, fragte Nino.
„Äh … ja“, gab Alex etwas beschämt zu.
„Darum bist du weggelaufen?“
„Na ja, ich …“ Sie dachte nach. „Intersexueller?“ Das Wort hatte sie noch nie gehört.
„Klar, das bedeutet Zwitter. Oder Hermaphrodit. Warum bist du deswegen weggelaufen? Es gibt in Deutschland eine ganze Menge vom dritten Geschlecht.“
„Ja, äh …“ Alex fasste Mut und ging aufs Ganze: „Meine Eltern wollten einen Jungen, also haben sie meine … du weißt schon … wegmachen lassen.“
„Das ist übel“, meinte Nino. „Wie geht’s dir?“
„Ganz gut. Die haben es schon vor langer Zeit weggemacht, als ich noch ein Baby war. Ich wusste nicht, dass ich ein Herm… äh?“
„Hermaphrodit“, half Nino.
„Ja, Hermaphrodit bin. Hab es erst vor Kurzem erfahren. Ich mag das Meer, dachte, ich gehe hin und denke nach, wie ich weitermache.“
„Hm …“ Nino überlegte. „Egal, wie du dich entscheidest, du wirst Geld brauchen. Was hältst du davon, bei einem meiner Pornos mitzuspielen?“
„Was?!“
„Keine Angst, Alex. Ich habe schon eine Idee und suche nach Hermaphroditen, die mitmachen wollen. Es soll um ein Mädchen gehen, das sich wünscht, von seiner besten Freundin gefickt zu werden. Und der Wunsch geht eben in Erfüllung. Du könntest die beste Freundin spielen. Ich habe schon die Dialoge und das Drehbuch fertig.“
„Ein Drehbuch für … einen Porno?“
„Jo, ich sage doch, ich will aus den Clips abendfüllende, ernst zu nehmende Filme machen. Du könntest auch bei Lesbische Gladiatorinnen vom Mars 2: Jetzt wird es doppelt so geil mitspielen.“
Als Alex in diesem Moment darüber nachdachte, während sie auf dem Parkplatz nahe des grauen, groben Gebäudes in eine Parklücke fuhr, musste sie wegen dieses verrückten Typen, der in seiner eigenen Welt lebte, den Kopf schütteln. In einer Welt, in der man die Geschichte nicht wegspulte. „Was für ein Träumer“, sagte sie, aber sie musste zugeben, dass sie diesem Träumer einiges verdankte, den Ford Escort EXP zum Beispiel, in dem sie gerade saß und dessen Motor sie abstellte.
Alex schwang ihre Beine heraus, schlug die Tür hinter sich zu und schloss ab. Sie ging um den alten, grauen Kasten von einem Gebäude herum zu dem kleinen Eingang, durchquerte einen Raum mit wuselnden Leuten, Stühlen und Möchtegern-Pornostars, die gleich das Trauma ihres Lebens erleben würden, durchschritt einige weitere Räume und betrat schließlich einen großen Raum, der zur Hälfte aus einem blendend hellen Weiß bestand. Er war wie dafür gemacht, jeden kleinen Winkel auszuleuchten, seien es Gegenstände oder Körper, nichts sollte im Dunkeln bleiben. Auf der dunklen Seite des Raumes standen eine Menge Klappstühle, auf denen eine Menge Kerle saßen, alle in schwarzen T-Shirts und mit Skimasken. Sie standen auf und ließen ihre Hosen herunter, einige kamen mit ihren dicken Arbeitsschuhen jedoch nicht aus der Hose. Ganz in der weißen Hälfte, noch vor den Kameramännern, stand Mr. Knochen, wie üblich ganz in Schwarz, mit seiner gebräunten Glatze, die in den Scheinwerferlichtern schimmerte. Er sah Alex mit seinen kleinen, zusammengekniffenen Äuglein und kam gleich auf sie zu.
Alex konnte ein gewisses Unbehagen in sich spüren, das Gefühl, das ihr sagte, dass nichts so laufen würde, wie es sollte. An der kleinen Narbe neben ihrem Glied konnte sie ein Prickeln spüren. Normalerweise spürte sie diese Narbe nur, wenn das Wetter umschlug, und wer sagte, dass es das nicht tat? Es schlug um. Nur nicht außerhalb des Raumes, sondern darin. Alex fühlte eine Schwere auf ihren Beckenboden sinken, kurz gesagt: Es war ihr nicht ganz geheuer.
Trotzdem schüttelte sie diesem Kerl die Hand.
„Schön, dass du da bist, Alex. Hör zu, wir haben ziemlichen Zeitdruck, für dein Make-up und die Perücke bleibt keine Zeit.“
Na gut, scheiß auf das Make-up. Der Film wird eh untergehen in den Fluten an Pornos, die die Algenschicht und die Schlacke am Boden des Internets darstellen.
Dann fiel ihr der Kerl auf, der die ganze Zeit in der Ecke gestanden hatte. Sein Pimmel hing wie ein Wasserschlauch herab. Er hatte merkwürdig scharfe Gesichtszüge, ähnlich eines Haifischs. Vermutlich war er das in dieser Branche auch. Er kam zu ihr herüber. Die Typen, die sich eben ihrer Hosen entledigt hatten, gingen auf die weiße Hälfte des Raumes, die Kameramänner machten ihre Kameras bereit.
„Okay, was geht hier vor?“, fragte Alex nun, als sie spürte, dass sie eingekreist wurde.
Der Typ blieb mit verschränkten Armen neben Mr. Knochen stehen, der sagte: „Also, zieh dein Zeug aus“, sich umdrehte und auf die Ansammlung von an der falschen Stelle halbnackten Typen deutete. „Du gehst da rüber und lässt es dir von Joe hier besorgen, derweil machen die Spritzer ihre Arbeit.“
Alex zog die Brauen zusammen und schaute zu den „Spritzern“ hinüber, die erwartungsvoll dastanden. Dann blickte sie zu dem Kerl neben Mr. Knochen, der sie anlächelte und sich auf die Sache sicher schon freute. Schließlich sah sie zu Mr. Knochen. „Worauf wartest du, Alex?“, fragte dieser.
„Ich dachte, du brauchst einen echten Zwitter?“
„Klar, wir brauchen auch einen. Schließlich ist unser letzter weg“, erklärte er.
„Okay, okay“, begann Alex. „Also, noch mal zusammengefasst: keine Zeit für Perücke oder Make-up.“ Mr. Knochen nickte. „Ich soll mich von Gartenschlauch-Joe hier ficken lassen, obwohl ich euch Typen schon gesagt habe, dass mein Arsch tabu ist.“ Mr. Knochen nickte. „Gleichzeitig soll ich mich von den Pennern da drüben noch bespritzen lassen.“ Mr. Knochen nickte. „Und dazu brauchst du einen echten Zwitter? Warum hast du dir für so einen Scheiß keine der Transen gesucht?“
Mr. Knochen verleierte die Augen. „Die Leute wollen was Echtes. Wäre nett, wenn du auch einen hochkriegen würdest. Und jetzt zieh dich aus.“
„Fick dich!“, rief Alex. „Bei so einer Scheiße mache ich nicht mit.“
„Hm“, meinte Mr. Knochen, die Informationen verarbeitend. „Zu spät, es ist schon alles bereit und in der Zeit hätte ich was anderes drehen können. Also zieh dich aus und lass dich da drüben ficken!“ Er deutete mit dem Daumen auf die Spritzer, immer noch wartend.
„Einen Dreck werde ich tun!“
„Willst du mich verarschen, Mädchen!“, brüllte Mr. Knochen sie an. „Ich habe den ganzen Vormittag alles dafür zusammengekratzt, während ich was anderes hätte drehen können! Jetzt mach endlich, die Zeit drängt!“ Er klatschte ein paarmal in die Hände, um Alex Beine zu machen, aber es klappte nicht. Sie blieb stehen.
„Die macht das nicht, kann ich jetzt schon sehen“, kommentierte der Kerl neben Mr. Knochen. „Ich hole mir einen Kaffee, soll ich was mitbringen?“
„Du bleibst da, du Affe!“, donnerte Mr. Knochen. „Und du gehst jetzt dorthin und machst, wofür ich dich bezahle, verdammt!“
Alex beugte sich vor, sodass nur noch wenige Zentimeter Platz zwischen ihr und Mr. Knochens Visage waren. „Ich mach deinen Scheiß nicht! Dafür bin ich nicht hergekommen!“
„Wofür bist du dann hergekommen?“, fragte er. „Für Solonummern habe ich genug Leute, sei froh, dass wir dich gerade für keinen SM-Scheiß brauchten.“
„Dabei mache ich auch nicht mit.“ Alex verschränkte die Arme und lehnte sich wieder zurück. „Ihr könnt abhauen, Jungs! Heute findet hier nichts mehr statt!“, rief sie den Spritzern zu.
Die wollten gerade wieder zu ihren Hosen schlurfen, als Mr. Knochen zurückbrüllte: „Ihr bleibt, wo ihr seid!“ Also blieben sie stehen, begannen sich über Fußball zu unterhalten und outeten sich als Bayernfans. „Was soll das jetzt? Stell dich nicht wie ein Mädchen an!“, schrie er.
„Tja, mein Freund, ich bin kein Mädchen“, widersprach Alex.
„Genau das bist du! Hör zu, Alex, nur, weil du Ninos Liebchen bist und der hier das Geld überschreibt, gibt dir das keine Narrenfreiheit. Du siehst aus wie eine Frau und deshalb wirst du dich von dem Prachtkerl hier ficken lassen, weil Frauen wie du sich nun mal ficken lassen! Das wollen die Leute sehen! Die Frau unten und der Mann oben, wie Mütterchen Natur es eingerichtet hat. Sei froh, dass wir so einem Freak wie dir Arbeit geben!“
„Ich bin ein Intersexueller! Das ist weit entfernt von einer Frau!“, schrie Alex zurück.
„Hör zu“, begann Mr. Knochen jetzt wieder ganz ruhig. „Entweder man ist ein Mann, wie Gartenschlauch-Joe hier, oder man ist eine Frau. Dazwischen gibt es nichts! Es gibt nur Männer und Frauen und Dinge! Wenn du lebst, bist du kein Ding, sondern ein Mann oder eine Frau. Und wenn ich dich so ansehe, dann sehe ich da keinen Mann! Nur, weil du bei einem von Ninos weichgespültem Mist mitgemacht hast, glaubst du, dass du ein ganz großer Star bist und dich wie eine Diva aufführen kannst. Ich habe eine Überraschung für dich: Du bist einfach ein Fehler der Natur! Ohne uns würde deinesgleichen nicht überleben!“
Er sprang hoch, während er schrie, seine künstlich gebräunte Rübe schwoll rot an und seine Adern traten hervor. Alex spuckte ihm auf die Glatze und war überrascht, dass ihre Spucke nicht sofort verdampfte. Mr. Knochen fasste sich auf die Glatze und betrachtete Alex’ Spucke an seinen Fingern. Mit einem Mal schoss er wie die Abrissbirne, die er auch war, voran. Joe hielt ihn gerade noch zurück. „Du dreckiger Freak! Ich mach dich fertig!“