Kitabı oku: «Der Tag des Schmetterlings», sayfa 2
Der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Herr Bergmann wandte sich wieder Herrn Meier zu. Er hatte jetzt für einen Moment etwas Spitzbübisches.
„Siehst du, genau, wie ich gesagt habe. Gar nichts passiert!“
Dann lehnte er sich zufrieden lächelnd in seinen Sitz zurück und reckte die Arme in die Höhe.
„Ach, herrlich so eine Zugfahrt, finden Sie nicht?“
Er schaute Hertha an, die für ihre Verhältnisse nun geradezu lieblich zurücklächelte und nickte.
Nun schien sich Herr Meier abermals zu Wort zu melden. Bergmann drehte seinen Kopf wieder zu ihm und hörte ihm aufmerksam zu.
„ Ja, ich weiß, dass du möchtest, dass ich Fräulein de la Roché das sage, aber das kann ich doch nicht einfach so tun. Nein, verzeih mir, dass ich dir da so vehement widerspreche, aber du musst doch zugeben, dass das, na, sagen wir mal, etwas delikat ist, oder?“ Bergmann begann zu flüstern. Natürlich konnten trotzdem alle hören, was er sagte: „ Ja, das denkst du vielleicht! Nein, und wenn du dich auf den Kopf stellst, das tue ich nicht!“
Alle schwiegen. Bergmann schaute nun etwas verlegen an die Decke des Abteils und ließ seinen Blick über die Gepäcknetze schweifen. Dabei summte er unbeholfen.
Jasmin de la Roché schaute ihm dabei zu. Sie schaute ihn nämlich schon seit seinem kleinen Zwiegespräch mit Herrn Meier herausfordernd an und wusste genau, dass er wusste, dass sie es tat. Schließlich trafen sich ihre Blicke. Herr Bergmann war das Ganze offensichtlich sehr peinlich.
„Entschuldigen Sie bitte Herrn Meier, verehrtes Fräulein de la Roché“, sagte er leise.
Sie allerdings nahm den herausfordernden Blick nicht von ihm und entließ ihn so nicht aus seinem Erklärungsnotstand.
Bergmann versuchte ein Ablenkungsmanöver.
„Sagen Sie, ist das eigentlich Ihr richtiger Name?“
„ Ja“, presste Jasmin mit beinahe komplett zusammengedrückten Lippen heraus. Und immerhin war das ja auch nur halb gelogen, denn sie hieß tatsächlich Jasmin. De la Roché war natürlich ein Künstlername. Das klang einfach besser als Wiedemann.
Und sie wollte es schließlich zu etwas bringen.
Jasmins Tonfall verriet indes, dass sie nicht auf Small Talk aus war. Sie wollte jetzt endlich wissen, was Herr Meier so dringend zu wissen begehrte.
„Es ist ... recht schönes Wetter heute ... also draußen ... also jedenfalls ... dann, wenn es nicht dauernd regnet ...“, stotterte Bergmann und versuchte weiter, sich aus der heiklen Situation zu befreien.
Da stupste Herr Griesbach ihn an. Mit dem rechten Zeigefinger, direkt aufs Knie.
„Nun fragen Sie doch ruhig ... so schlimm kann es ja nun auch wieder nicht sein ...“, sagte er ermunternd.
Bergmann schaute sich Hilfe suchend um und wirkte dabei wie ein kleiner Junge, der gerade von seinen Kameraden aufgefordert wird, absichtlich mit einem Fußball eine Schaufensterscheibe zu zerschießen. Jasmin de la Roché starrte ihn von rechts weiter selbstbewusst an.
Daniela Kurtz, Hertha und Herr Griesbach waren längst viel zu neugierig, um auf seiner Seite zu sein. Und von Herrn Meier war in diesem Fall natürlich erst recht keine Hilfe zu erwarten.
Bergmann seufzte.
„Na gut, aber nur, wenn Sie mir versprechen, hinterher nicht mich, sondern Herrn Meier dafür verantwortlich zu machen. Ich möchte betonen, dass ich Sie das nicht gefragt hätte, verehrtes Fräulein.“ Jetzt wurde er noch etwas lauter: „Und zwar nie im Leben!“
„Also bitte“, sagte Jasmin de la Roché mühsam beherrscht. Sie wollte es jetzt endlich hören.
Bergmann sammelte Mut.
„Also schön. Herr Meier möchte gerne wissen ... es sind genau genommen nämlich zwei Dinge ...“
„Und zwar?“, sagte Jasmin ungeduldig, denn sie mochte es nun endgültig nicht länger abwarten.
„Also“, sagte Bergmann. „Das erste ist ... ob es vielleicht möglich sein kann, dass Herr Meier Sie schon mal im Fernsehen gesehen hat?“
Jasmin lächelte erleichtert.
„Das war’s schon?“ Aus ihrem Lächeln wurde ein Lachen. „ Ja, das kann sogar sehr gut sein. Ich bin nämlich Schauspielerin.“
Nun zögerte sie.
Dass sie nur ganz gelegentlich ein paar schlecht bezahlte Nebenrollen in dämlichen Vorabend-Seifenopern und billigen Gerichtsshows hatte, konnte sie natürlich nicht zugeben. Dafür hatte sie viel zu lange gekämpft und zu sehr an ihrer Fassade gearbeitet. Der Tag heute, dieses Casting für den Spielfilm in Köln, ja, der konnte endlich alles verändern. Aber bislang war die beste Rolle, die Jasmin je gehabt hatte, die ihres eigenen Wunschbildes.
Sie überspielte den Moment der inneren Unruhe mit einem selbstsicheren Lachen.
„Und das Zweite? Die wirklich heikle Frage?“, säuselte sie und betonte dabei das Wort heikel bewusst erotisch.
„Also, ich glaube, das kann ich nicht“, sagte Herr Bergmann eingeschüchtert.
„Nun geben Sie sich schon einen Ruck, mein Lieber“, sagte Hertha Griesbach aufmunternd und gab ihm einen koketten Stupser, wieder ans rechte Knie.
„Es ist dieser bezaubernde Duft ...“, kam es Bergmann endlich über die Lippen. Dabei schloss er genießerisch die Augen und atmete tief ein.
„Wir beide ... also Herr Meier und ich haben es gleich bemerkt, als Sie hereinkamen ...“
Alle Mitreisenden lächelten erleichtert und verständnisvoll. Natürlich fand niemand die Frage wirklich schlimm oder zu indiskret. Jedenfalls nicht mehr. Vor zwei Stunden wäre das vielleicht noch etwas anderes gewesen. Auch Jasmin lächelte weiter.
„Sie wollten also die ganze Zeit bloß wissen, welches Parfum ich benutze? Das ist alles?“
Sie ließ sich mit einem übertriebenen Ruck in den Sitz fallen und lachte lauthals. Die anderen ließen sich anstecken und fielen in das Gelächter mit ein. Auch Richard Bergmann lachte nun erleichtert mit.
Nachdem etwa eine Minute des Lachens und Kicherns vergangen war, sammelten sich die Fahrgäste wieder.
„ Jil Sander“, sagte Jasmin.
Es entstand ein ganz kurzer Moment des erwartungsvollen Schweigens.
„ Jil Sander ... oh, ja, das riecht auch wirklich wundervoll ...“, sagte Bergmann, als wäre er nicht recht verstanden worden, „aber ... also ... das ist nicht der Duft, den Herr Meier meinte ...“
Das Lächeln auf den Gesichtern verblasste. Jasmin schaute ihn fragend an.
„Wie bitte?“
„Also, bitte verstehen Sie das nicht falsch ... aber die Frage bezog sich nicht auf Ihr Parfum, obwohl das ja auch ... wirklich ganz wundervoll riecht ...“
Bergmann schaute sich wieder unsicher um, als hätte er bemerkt, dass er aus dieser Bredouille ohne die ganze Wahrheit nun endgültig nicht mehr herauskommen würde.
„Worauf bezog sich die Frage denn dann?“, fragte Jasmin neugierig und etwas unsicher nach.
„Es ist der bezaubernde Duft, der von Ihnen ausgeht. Der Duft, den Ihr Wesen versprüht.“
Jasmin zuckte innerlich zusammen. Niemand sagte etwas.
Bergmann flüsterte Herrn Meier etwas zu und verdrehte dabei die Augen. Dann wandte er sich wieder an die sprachlose Jasmin de la Roché und begann mit milder, aber entschlossener Stimme, die reine Wahrheit zu sagen.
„Sie tragen den Duft der unschuldigen Schönheit in sich, Fräulein Jasmin. Es ist der Duft, den nur die schönsten und wertvollsten Frauen der Welt verströmen, der Duft der Königinnen aus einer anderen, fernen Welt, deren innerer Wohlgeruch nicht durch die Grenze der menschlichen Haut aufgehalten werden kann ... es ist der Duft eines goldenen, eines glänzenden, paradiesischen Elixiers ... auf so wundervolle, himmlische Weise schöner als jedes Parfum der ganzen Welt es je sein könnte ... es ist der Duft der Liebe, der Sie umweht ... und Sie tragen ihn so reich an sich ... als wären Sie mit himmlischem Gold bestäubt ...“
Jasmin schluckte und es gelang ihr nur mit Mühe, die Tränen der tiefen Rührung über Bergmanns Worte zurückzuhalten.
Hertha und Daniela gelang das nicht, obwohl sie sich auch mühten, und sie beide begannen, leise zu weinen. Auch Herr Griesbach spürte, wie seine Augen feucht wurden. Er nahm Herthas Hand.
„Entschuldigen Sie bitte“, sagte Bergmann leise zu Jasmin.
Ein Moment der Stille. Jasmin lief eine einzelne Träne über das Gesicht und verursachte eine Furche in ihrem dicken Make-up. Hertha Griesbach reichte ihr ein Taschentuch und Jasmin tupfte sich die Träne ab.
„Das ist ... das ist schon in Ordnung“, sagte sie und hatte noch mehr Schwierigkeiten, den Fluss der Tränen zurückzuhalten, der nun kräftig gegen den Staudamm ihrer Seele drückte. Sie tupfte erneut.
„Oh, und dann hat Herr Meier noch gesagt“, ergänzte Bergmann noch, „... dass Sie jede Rolle bekommen werden, die Sie zu haben wünschen, wenn Sie sich nur immer daran erinnern, wie wundervoll und lieblich Sie duften, Fräulein de la Roché.“
Ein weiterer Moment des Schweigens erfüllte das Abteil.
Plötzlich ertönte eine blecherne Frauenstimme aus dem Abteil-Lautsprecher: Verehrte Fahrgäste, in wenigen Minuten erreichen wir Köln. Wir bedanken uns bei allen aussteigenden Fahrgästen für Ihre Reise mit der Deutschen Bahn und wünschen Ihnen einen schönen Aufenthalt in Köln oder eine angenehme Weiterfahrt. Auf Wiedersehen.
Bis auf Herrn Bergmann standen alle Reisenden im Abteil auf und begannen, wie in einer angenehmen Trance, ihr Gepäck aus den Ablagen zu nehmen, ihre Jacken anzuziehen und sich zum Aussteigen bereit zu machen. Jasmin tupfte dabei weitere einzelne Tränen aus ihrem Gesicht und Hertha konnte irgendwie nicht aufhören, Herrn Bergmann dankbar anzuschauen. Herr Griesbach war derweil damit beschäftigt, nicht unter dem Gewicht des riesigen Koffers seiner Frau zusammenzubrechen. Daniela zupfte ihre Bahnuniformjacke zurecht und hoffte, dass niemand bemerken würde, dass sie schon seit Bremen desertiert war und keinen einzigen Fahrschein mehr gestempelt hatte.
„Na so was“, sagte Herr Bergmann zu Herrn Meier. „Das ist ja mal was ... alle bis auf uns beide steigen hier in Köln aus ... ja, nein, wieso, die Frage verstehe ich nicht ... nein, wie schon gesagt, wir beide fahren ja noch weiter bis Mainz ... nein, nicht ganz zwei Stunden, etwas weniger ... die Strecke soll ganz herrlich sein. Ja, genau, direkt am Rhein entlang! ... ja, sogar die Loreley ... schön, nicht wahr?“
„Leben Sie dort? In Mainz, Herr Bergmann?“, fragte Herr Griesbach im Stehen, während der EC 306 die Rheinbrücke überquerte und man durch das Seitenfenster des Abteils einen ersten Blick auf den Kölner Dom erhaschen konnte.
„Oh, nein“, antwortete Bergmann und lächelte dabei wieder dieses gewinnende Lächeln. „Wir werden dort in der Nähe für ein paar Monate in einer ganz besonderen Klinik wohnen, Herr Meier und ich. Es soll dort sehr schön sein. Meine Familie hat das liebenswerterweise für mich arrangiert. Und Herr Meier begleitet mich natürlich dabei. Nicht wahr, Herr Meier?“
Er lächelte den leeren Sitz an.
Hertha Griesbach richtete sich auf und konnte ihre Mischung aus Neugier und tiefem Mitgefühl für Herrn Bergmann jetzt nicht verhehlen.
„In eine Klinik? Aber mein Lieber, mein Gott ... warum denn? Sind Sie etwa krank?“
„Nein, nein, um Gottes willen, Frau Griesbach ...“, sagte Bergmann. „Ich möchte nur meiner Familie gern den Gefallen tun, weil sie sich doch alle so um mich sorgen, verstehen Sie? Meine Mutter etwa, sie ist wirklich sehr sensibel und grämt sich leicht. Das war schon immer so. Und kürzlich hat ein besonders guter Arzt zu meiner Mutter gesagt, ich und Herr Meier, also, wir seien möglicherweise eine Gefahr für uns selbst und auch andere ...“ Bergmann lachte jetzt und knuffte seinen unsichtbaren Sitznachbarn kräftig in die Seite. „Haha ... gefährlich ... na, ich weiß nicht ... ausgerechnet wir beide? Haha ... nur weil nicht jeder Herrn Meier gleich sehen kann ...“
Nun meldete sich auch Herr Griesbach noch einmal zu Wort.
„Also ... sagen Sie mal, Herr Bergmann ... und bitte entschuldigen Sie, wenn ich das so offen frage ...“
„ Ja, aber natürlich, nur zu, Herr Griesbach“, ermutigte Bergmann ihn, charmant wie immer.
„Würden Sie sagen ...“, stammelte Griesbach zögerlich, „also ... dass ... würden Sie denn sagen, dass Herr Meier ein ganz normaler Mensch ist ...?“
Bergmann lächelte mild und schaute Herrn Meier eine Weile berührt und mit dem Ausdruck tiefster Freundschaft an.
„Ein ganz normaler Mensch? Na ja ... ich weiß gar nicht ... nein, wohl eher nicht, nicht wahr, Herr Meier?“
Der Zug kam zum Stehen. Herr Bergmann stand auf, reichte nacheinander Herrn und Frau Griesbach, dann Daniela Kurtz und schließlich Jasmin de la Roché die Hand, machte trotz der Enge im Abteil einen formvollendeten Diener und verabschiedete sie. Jasmin verharrte einen Moment, schaute ihm in die Augen, dann ließ sie sich für einen sehr kurzen Moment in Bergmanns Arme fallen, bevor sie wortlos und schnell das Abteil verließ.
„Auf Wiedersehen, Herr Bergmann“, sagte Hertha mit einer Herzenswärme, die sie selbst seit mehr als vierzig Jahren nicht in sich gespürt hatte. „Es war wirklich ganz entzückend, Ihre Bekanntschaft zu machen.“
„Ganz meinerseits, gnädige Frau“, sagte Bergmann und machte erneut einen höflichen Diener.
„Oh, und auf Wiedersehen, Herr Meier“, sagte Hertha und nickte dabei den leeren Sitz am Fenster an.
„ Ja, auf Wiedersehen, meine Herren“, sagte nun auch Herr Griesbach, „eine schöne Reise noch und alles Gute für Sie beide!“
„Für Sie auch, danke“, sagte Bergmann.
Über die Lippen von Daniela Kurtz huschte ein kurzes, bewegtes „Danke“. Sie nickte Bergmann dabei zu und schloss sich dann hastig den Griesbachs an, die soeben das Abteil verließen.
Es stieg niemand zu. Und so fuhren Herr Bergmann und Herr Meier ganz allein weiter am schönen Rhein entlang, die knapp zwei Stunden von Köln nach Mainz, wo sie beide am Gleis von einem überaus schlecht gelaunten Krankenpfleger bereits erwartet wurden. Als sie dann aber schließlich an ihrem Reiseziel ankamen – in dieser schönen Klinik am Fuß des Berges, nach einer kleinen Autofahrt von vielleicht nur 20 Minuten – da war der Krankenpfleger schon gar nicht mehr so schlecht gelaunt.
Warum auch immer, aber irgendetwas hatte sich in ihm während der kurzen Fahrt auf überaus geheimnisvolle Weise verändert.
Seine Kollegen sprechen noch heute davon, dass er hinterher behauptete, an diesem Tag einem echten Engel begegnet zu sein.
Der Tag des Schmetterlings
Hubert Kaminski war auf dem Weg zur Arbeit. Er machte den Job als Deutsch-Polnisch-Übersetzer von Versandkatalogen jetzt schon seit sechs Jahren. Er war relativ zufrieden, denn das alles hätte auch anders, noch viel schlimmer ausgehen können, damals, als die Scheidung ihn beinahe alles gekostet hatte. Er hatte Rita und den drei Kindern so viel Unterhalt zahlen müssen, dass es ihm zunächst den inneren Antrieb, und später auch den Job in der Firma geraubt hatte. Die drei Jahre der Arbeitslosigkeit waren schlimm für ihn gewesen. Er hatte sich nutzlos und ausgebrannt gefühlt. Dann war die Ordnung Stück für Stück in sein Leben zurückgekehrt. Seine kurze Liebschaft mit Brigitte (die sich dann leider als Strohfeuer entpuppte, als Brigitte sich doch für den Unternehmensberater mit dem schicken Auto entschied) hatte immerhin ein paar seiner Lebensgeister wieder geweckt. Dann hatte er seine Wohnung bekommen, von der er direkt in seine Lieblingskneipe und, noch wichtiger, auch zu Fuß wieder zurückgehen konnte. Ja, die Wohnung war in Ordnung. Nichts Tolles, eben bescheidene 34 Quadratmeter unterm Dach, aber immerhin. Ein eigenes Reich. Und Hubert besaß ja auch sowieso nicht mehr viel. Ein paar der alten Werbe-Blechschilder, die er früher gesammelt hatte, zierten die Wände. Wenn mal selten und zufällig jemand zu Besuch kam, zögerte Hubert nie lange, zu erwähnen, dass es Originale waren, „und nicht diese billigen Kopien, die man jetzt überall kaufen kann“. Das war ihm schon wichtig.
Die seltenen Blechbilder waren für ihn ein Symbol. Er war nicht komplett gescheitert. Er hatte auch schon etwas Besonderes geleistet. Und auch er war ja ein Original, keine Kopie. Wenn er seine Blechschilder betrachtete, war ihm das bewusst. Sie hatten ihm dabei geholfen, seine Selbstachtung nicht zu verlieren. Und dann hatte er den Job bekommen und übersetzte eben seit einigen Jahren diese Werbekataloge für Haushaltsartikel und irgendwelchen Plastikkitsch für dieses Mittelstandsunternehmen, dessen Chef sich in den Kopf gesetzt hatte, dass die polnischen Hausfrauen mindestens ebenso empfänglich für seine Vertriebsprodukte sein würden wie die deutschen. Es schien zu funktionieren. Immerhin hatte Hubert ordentlich zu tun. Dass er noch polnisch sprechen konnte, verdankte er seiner Mutter. Die hatte, sehr zum Ärger seines deutschen Vaters, darauf bestanden, dass ihre Kinder zweisprachig aufwachsen. Früher hatte Hubert den Klang seiner Muttersprache gehasst. Heute dankte er Gott dafür, dass die alte Dame eine so autoritäre Person war. Sein Vater hatte unter ihrer Dominanz so sehr gelitten, dass er es wohl vorzog, mit 47 Jahren die Flucht anzutreten und an einem Herzinfarkt zu sterben.
Auch Hubert hatte es natürlich schwer mit der Art seiner Mutter. Er fühlte sich schlecht, weil er sie nicht öfter besuchte. Andererseits war es einfach zu anstrengend für ihn, denn er konnte ihre ewigen Vorwürfe, dass er „selbst schuld“ sei an allem und „immer alles ganz falsch angestellt“ habe, nur dann wirklich ertragen, wenn er innere Stärke spürte. Und das war eben nicht so oft. Er ging lieber in die Kneipe und schenkte sich ordentlich ein. Manchmal dachte er dabei an die katholischen Gottesdienste seiner Kindheit. Er erinnerte sich dann an den dreiundzwanzigsten Psalm, in dem es ja heißt: Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein. Dann musste Hubert immer lächeln, denn er fühlte sich Gott in diesen Momenten wirklich näher als sonst. Ansonsten verstand er nicht gerade viel von Gott, sofern es den überhaupt gab. Und er tröstete sich damit, dass er mit diesen Zweifeln ja nun weiß Gott nicht der Einzige war. Hubert Kaminski war sich darüber bewusst, dass er eigentlich ein ganz schön trauriger Mensch war. Aber ihm war auch bewusst, dass er gleichzeitig auch ein ganz normaler Mensch war. Er konnte das wenige Gute, das ihm geschah, tatsächlich als solches erkennen und folgerichtig auch immer wieder genießen. Zum Beispiel die Blechschilder, seine Wohnung und die Kneipe. Die innere Leere, die er dennoch stets mit sich herumtrug, hatte er erkannt und einfach zu akzeptieren gelernt.
Kaminskis Weg zur Arbeit an diesem Tag war wie immer. Während er stadtauswärts durch das Industriegebiet zu dem Büro ging, traf er wie üblich keine Menschenseele. Viele der Fabriken und Lagerhallen waren ja längst stillgelegt. Gelegentlich kam ihm ein Auto entgegen. Abends standen hier immer die osteuropäischen Bordsteinschwalben, dann hielten die Autos auch schon mal an. Aber nicht tagsüber. Da rauschten sie an einem vorbei, als wären sie auf der Flucht. Vielleicht waren sie das ja auch wirklich, aber das interessierte Hubert nicht. Sollten die anderen doch machen, was sie wollen. Er war an diesem Tag ganz zufrieden. Vielleicht würde es noch besser werden, irgendwann. Vielleicht auch nicht, dann würde es ihm eben genügen, wie es war.
An diesem Tag aber geschah plötzlich etwas Außergewöhnliches. Ein Schmetterling flog neben Hubert her. Erst in einiger Entfernung, dann etwas näher. Er flog ein paar hübsche Pirouetten, fast so, als wollte er den einsamen Spaziergänger auf sich aufmerksam machen. Hubert nahm ihn wahr. Erst beiläufig, dann intensiver. Er ist so hübsch, dachte er. Diese Farben sind herrlich. Falls es Gott wirklich gibt, ist er ein großartiger Maler.
Kaminski begann, sich an dem Schmetterling zu freuen. Und war es nicht wirklich ganz schön ungewöhnlich, dass der kleine Kerl immer weiter neben ihm herflog? Ja, bestimmt war es das. Vielleicht bedeutete es sogar etwas? Aber wenn ja, was? Er beschloss, nicht weiter drüber nachzudenken, sondern sich einfach an dem Anblick des geflügelten Freundes zu erfreuen.
Hubert ging weiter, der Schmetterling folgte ihm. Kam etwas näher, flog dann wieder eine Runde um die Mauern und Zäune der alten Fabriken, tanzte ein wenig, kehrte zurück. Hubert lächelte. Er überlegte kurz, ob er wohl etwas sagen sollte. Aber das kam ihm doch sehr versponnen vor. Ich? Mit einem Schmetterling reden? Na, so weit kommt das noch. Und dann tat er es doch.
„Hallo, ich bin Hubert und wer bist du?“, sagte er zu dem ausdauernd im Wind tanzenden Schmetterling. Der antwortete natürlich nicht. Aber er kam immerhin wieder näher und flog nun dicht um Huberts Schultern herum.
„Willst du mir vielleicht was sagen?“, sagte Hubert freundlich und lächelte über sich selbst. Er war ganz froh, dass niemand außer ihm hier war. Man muss wohl ein ganz schöner Spinner sein, um mit einem Schmetterling zu reden, oder?
Der Schmetterling schien nun noch wilder und fröhlicher um seine Schultern herumzutanzen. Hubert blieb stehen. Warum er das tat, wusste er nicht. Er tat es einfach. Vielleicht ist es ja das, was er will?
Der Schmetterling drehte noch eine Pirouette, schien sich für einen Moment zu entfernen und Huberts hoffnungsvolle Gedanken einfach im Flug mitzunehmen. Doch dann kam er zurück. Und setzte sich tatsächlich ganz behutsam auf Kaminskis linke Schulter.
Was nun geschah, hätte Hubert mit Worten im Leben nicht beschreiben können. Eine nie zuvor erlebte Wonne durchströmte ihn. Ihm war, als hätte der Schmetterling eine ungeheure Kraft und er begann leise zu zittern. Dann seufzte er. Meine Güte, was ...? Der Schmetterling ließ sich friedlich auf der Schulter nieder. Er senkte ganz sanft seine Flügel hinab, sodass auch sie Huberts Schulter touchierten, ganz so, als hätte er Hubert ausgesucht, um eine Flugpause zu machen und für eine Weile auf diesem Körper Ruhe zu finden. Eine unerlebte Welle der Liebe durchflutete Hubert. Es war nicht nur sein Körper, den der Schmetterling mit seinem kleinen Leib berührte, es war viel mehr. Er trug etwas mit sich, das Huberts Seele jäh zu verändern schien. Mein Gott, seufzte Hubert still, oh, mein Gott, es ist ... es ist ... das ist wohl unglaublich ... die Liebe ... wie geschieht mir denn? ...
Nein, Worte hätten nie gereicht, zu illustrieren, was Hubert Kaminski in diesem Moment geschah. Sein altes Leben, diese innere Leere, seine Blechschilder, sein Job, Rita, die Kinder, Mutter, die Kneipe, dieser Weg, all das wurde in dieser Sekunde in Schranken verwiesen, von denen Hubert bis eben nicht mal gewusst hatte, dass sie überhaupt existierten.
Hubert stöhnte vor Wonne. Das war zu viel, und gleichzeitig, nein, das war nicht zu viel, das war unbeschreiblich herrlich, es war himmlisch, eine göttliche Botschaft. Hubert spürte Gott und er wusste es. Er gab sich dem Moment hin, ohne nachzudenken. Das verstärkte die Flut seiner Empfindungen nur noch. Er schloss die Augen und spürte, wie die Berührung des wundervollen Schmetterlings ihn erneuerte. Er gab sich hin. Sein Herz schlug ruhig und mit jedem Schlag schien es im hohen Bogen irgendeine Last der Vergangenheit abzuwerfen. Ich möchte lieben, dachte Hubert, endlich lieben.
So stand Kaminski einige Minuten schweigend da. Ohne irgendeinen Gedanken, ohne Last, ohne das Gewicht, das sein Leben ihm auferlegt hatte. Das einzige Gewicht, das er spürte, war das des Schmetterlings. Und das war so leicht, so wundervoll, einfach wundervoll, nur wundervoll, nur wundervoll. Der Schmetterling rührte sich nicht. Er war einfach da. Und es schien auch ihm zu gefallen. Die Welt stand still. Und nichts hätte die Kraft gehabt, diesen Moment zu zerstören. Es war ein Wunder. Der Schmetterling wusste es, denn er hatte es mitgebracht. Kaminski wusste es auch, denn er war es ja, der es erlebte.
Dann, nach einer Weile, begann Hubert nachzudenken. Eigentlich wollte er es gar nicht, er versuchte sogar, es zu unterdrücken. Nein, nicht denken, durchzuckte es ihn, aber er konnte es nicht verhindern. Er dachte.
Ich erlebe hier ein Wunder. Es ist ein echtes Wunder. Ich bin auf dem Weg zur Arbeit und ein Schmetterling fliegt neben mir her und er setzt sich auf mich und ... es ist ja ganz unbeschreiblich ... seit er auf mir sitzt, spüre ich die gesamte Liebe der Schöpfung. Gott selbst hat mir diesen Schmetterling geschickt. Ja, natürlich! Es ist Gott ... er hat all die Gebete erhört, die ich nie auszusprechen gewagt habe ... er schenkt mir voll ein ... auf Seine Weise ... Er liebt mich ... dieser Schmetterling ... ist das Gott selbst? ... Ja, vielleicht ... vielleicht auch nicht ... ich ... mein Gott ...
Hubert widerstand dem Impuls, auf die Knie zu fallen.
Nein, das darf ich nicht riskieren. Wenn ich auf die Knie falle, wird sich der Schmetterling erschrecken und wegfliegen ... aber er darf nicht wegfliegen ... er darf ... überhaupt nicht mehr wegfliegen ... nie wieder ... ich muss ...
Huberts Gedanken begannen wild zu kreisen.
Ich ... es ist ein so wundervolles Geschenk ... Gott hat mich ausgesucht ... mich beschenkt ... es ist ... ich kann es gar nicht fassen ... Grundgütiger ... diese Liebe ... ich ... kann nicht ... ich ... er darf nicht wegfliegen ... was sollte ich dann tun? ... nein, ich ...
Nie zuvor im Leben war Hubert Kaminski so sehr von etwas überzeugt. Dieser Schmetterling war Gott, war die Liebe, das Leben. Er veränderte alles. Er gab Hubert die Macht zu lieben, die Kraft, ein neues Dasein zu finden. Er wusste es. Er würde ganz neu beginnen, er selbst sein, endlich frei sein und vor allem: Frei bleiben. Das durfte ihm niemand mehr nehmen. Schon gar nicht er selbst. Die Worte seiner Mutter kamen zurück. Du hast alles falsch gemacht, Hubert. Ja, vielleicht hatte sie recht, aber das würde ja nie wieder passieren. Das hier, das würde er nicht falsch machen. Das nicht!
Hubert stand eine Weile ganz ruhig da und dachte konzentriert nach.
Was tun, was tun, was tun? Keinen Fehler machen.
Das Gefühl, das der Schmetterling in ihm auslöste, war weiterhin da. Vielleicht nicht mehr ganz so stark wie zuvor, aber es war da.
Ich werde ganz vorsichtig versuchen, ihn ...
Hubert bewegte seinen rechten Arm langsam. Er schob ihn an seiner Brust hinauf in Richtung linker Schulter, ganz sachte. Er wusste, dass er den Schmetterling nicht erschrecken durfte. Seine Hand näherte sich in Zeitlupe dem kleinen Wunderbringer.
Ja, das wird funktionieren ... ich muss einfach nur ganz vorsichtig ...
Als Huberts Hand den Schmetterling beinahe erreicht hatte, machte dieser eine kleine Bewegung, als wolle er abheben und davonfliegen. Hubert erschrak und zuckte unmerklich. Dabei nahm er die Hand schnell zurück und ließ seinen Arm in einer fließenden Bewegung wieder hinabsinken.
Nein, so geht es nicht. Er wird sich erschrecken und einfach wegfliegen. Ich muss mir was anderes ausdenken.
Dann fiel Hubert etwas ein. In dem Beutel, den er dabeihatte, waren ein paar Dinge, die er eigentlich immer dabeihatte. Das Teesieb! Er benutzte es im Büro immer, um sich seinen Pfefferminztee zuzubereiten. Ja, das könnte vielleicht klappen. Aber wie sollte es halten? Vielleicht mit dem Tesafilm, den er gerade heute ganz zufällig mitgenommen hatte, weil er ja den Brief an Mutter noch zukleben wollte. Er hatte ihr gestern geschrieben, eigentlich nur so, einfach um ihr zwischendurch einen kleinen Gruß zukommen zu lassen. Tatsächlich wollte er nur vermeiden, mit ihr zu telefonieren. Das konnte sich jetzt als echter Segen herausstellen. Ja, alles machte Sinn. Der Schmetterling, das Teesieb, der nicht abgeschickte Brief, die kleine Rolle Tesafilm. Hubert griff ganz vorsichtig in seine Tasche. Er machte dabei keine allzu raschen Bewegungen. Er tastete nach den Gegenständen, die er brauchte. Er fand sie, nahm zunächst das Teesieb und holte es vorsichtig hervor. Dabei rasten seine Gedanken und auf seiner Stirn bildeten sich erste Schweißperlen.
Ich muss das Teesieb ... ganz vorsichtig ... über ihn legen ... aber wie soll ich dann noch an den Tesafilm kommen? Ich muss ja das Sieb mit der rechten Hand festhalten, sonst fällt es runter ... aber ... nein, doch, das wird gehen ... ich werde es schaffen, das Klebeband danach mit der freien Hand zu nehmen und zwei lange Streifen abzuziehen ... die werde ich dann einfach abbeißen ... und über das Teesieb kleben ... ja, es wird ... es muss ...
Erneut ließ Hubert seinen rechten Arm an seinem Körper hinaufgleiten, diesmal mit dem Teesieb. Der Schmetterling rührte sich nicht.
Gut so, dachte Hubert. Keine Angst, ich tu dir nichts, mein wunderbarer, kleiner Freund ...
Ganz langsam näherte sich das Sieb dem Schmetterling. Dann, mit einer gleichsam vorsichtigen, aber entschlossenen Bewegung ließ Hubert es gezielt hinab.
Ja! Ich hab ihn! Ich hab ihn!
Der Schmetterling saß nun unter dem Sieb. Er bewegte die Flügel, blieb aber sitzen. Hubert seufzte erleichtert.
Ich habe ihn nicht mal berührt. Oh, wie wundervoll es sich anfühlt, dass er sitzen geblieben ist. Bestimmt wollte er gar nicht wegfliegen. Er hat mich ja immerhin ausgesucht. Ich habe mir zu viele Sorgen gemacht. Oder nicht? Wie könnte ich da sicher sein? Ich weiß nur, dass er nicht wieder wegfliegen darf ...
Es gelang Hubert, das Teesieb mit dem Tesafilm auf seiner Schulter zu fixieren. Natürlich würde diese erbärmliche Konstruktion auf den Textilien nicht lange halten. Hubert beschloss spontan, heute nicht zur Arbeit zu gehen. Er musste nach Hause, in sein Reich, und sich dort in Ruhe überlegen, wie es ihm gelingen konnte, den Schmetterling für immer zu behalten. Er machte kehrt, den Schmetterling unter dem festgeklebten Teesieb auf seiner Schulter. Vorsichtshalber hielt er während des ganzen Rückwegs zusätzlich seine Hand schützend über den Wunderbringer. Ob das ein Engel ist?, dachte Hubert mehrmals, als er schneller als sonst zu seiner Wohnung trabte. Ja, vielleicht ein Engel ... oder Gott selbst, wer weiß ... was für eine unglaubliche, erfüllende Kraft ...
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